Montag, 7. Mai 2012

Proteus

Wir aber erwachen gleichfalls; der alte Proteus entschlüpft wieder einmal unseren haltenden Armen: er behält nur zu gern all sein Wissen des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen für sich allein.
(Wilhelm Raabe, Vom alten Proteus)

Die letzten Wochen war ich mit den unterschiedlichsten Projekten recht intensiv befasst und dementsprechend war dieser Blog dann auch mehr oder weniger verwaist. Bevor er an Vernachlässigung eingeht, habe ich mich entschlossen einen leicht überarbeiteten kurzen Diskussionsbeitrag einzustellen, den ich heute Mittag im Forum der DBU veröffentlicht hatte. Das heisst - eigentlich nur den ersten Teil davon, der thematisch von etwas grundsätzlicherer Bedeutung ist.



Ausgangspunkt war eine (hier etwas gekürzte / redigierte) Frage:

Wenn angezweifelt wird, Buddha habe etwas Bestimmtes gesagt, dann melde ich die Frage an, die ich schon zu Schulzeiten den katholischen Religionslehrern in Bezug auf Jesus gestellt hatte: "Ja, ist denn überhaupt gesichert, dass Jesus" - nun also Buddha - "je gelebt hat?" Wenn man intellektuell-kritisch herangeht und all die Kinderbuchversionen vergisst, die in Light-Versionen im Westen verbreitet wurden (und damit sicher vielen Menschen aus seelischen Sackgassen heilend herausgeholfen haben) wird der Buddhismus nicht besser dastehen als das Christentum.

Richtig. Historisch gesichert ist weder die Existenz von Buddha noch die von Jesus. Als Belege haben wir in beiden Fällen keine von den jeweiligen religiösen Überlieferungen unabhängigen historiographischen Quellen.

[Vorsorgliche Anmerkung für Leser, die ein wenig mit solchen Fragestellungen vertraut sind: ja, ich kenne die einschlägigen zu Jesus immer wieder angeführten außerbiblischen Quellen - vom gefälschten 'testimonium flavianum' (Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae XVIII 3,3) über die so gerne fehlinterpretierten Belege bei Tacitus (Annalen 15,44) und Sueton (Vita Claudii 25,4 - auch das Itaizismus-Argument in Bezug auf 'Chrestos' ist mir bekannt) bis zu den deutlich späteren und noch dubioseren "Quellen" wie Plinius, Mara bar Sarapion, Talmud usw. usf. Es wäre offtopic, sie hier zu analysieren und aufzuzeigen, welchen historischen Wert sie tatsächlich haben - er tendiert gegen 0.]

Grundsätzlich ist die Frage, ob beide Personen (oder auch nur eine von ihnen) tatsächlich gelebt haben allerdings müßig. Die Annahme des Gegenteils ist genauso wenig beweisbar wie die Annahme, dass dem so war; sie erfordert jedoch in Hinsicht einer Erklärung der Genese beider Religionen eine Fülle weiterer Annahmen. Anders gesagt - wenn man davon ausgeht, dass Buddha und Jesus tatsächlich gelebt haben, hat man die einfachste und plausibelste Erklärung für das Existieren eines Buddhismus und eines Christentums. Seriöse Wissenschaftler wenden hier sinnvollerweise die lex parsimoniae an, vielleicht bekannter als 'Occam's razor'.

Eine völlig andere Frage ist nun allerdings die, ob Buddha oder Jesus - wenn man deren historische Existenz vernünftigerweise als gegeben annimmt - nun tatsächlich auch das gelehrt haben, was unter ihrem Namen überliefert wird. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass das keine religiöse Fragestellung ist, sondern vielmehr eine philologische. Natürlich gab und gibt es immer wieder Gruppierungen - Gralshüter in ihrer Selbstwahrnehmung -, die ernsthaft glauben, sich in ihren Lehren unmittelbar auf wörtliche Aussagen des jeweiligen Religionsstifters zu beziehen, was einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise allerdings zumindest bei den 'klassischen' Hochreligionen mit Ausnahme des Islam nicht Stand hält. Man kann glauben, dass beispielsweise Buddha Gautama Pali gesprochen hat und der Suttapitaka ipsissima vox Buddhas ist (d.h. wortgetreu seine Lehrreden widergibt). Wissenschaftlich gesehen ist das - gelinde gesagt - äußerst unwahrscheinlich und schon gar nicht beweisbar.

Wovon man ausgehen kann, das ist, dass in den Nikayas des Palikanon und in den Agamas des Sanskritkanon tatsächlich vereinzelt authentische Aussagen Gautama Buddhas enthalten sind - so, wie in Bezug auf den Rabbi Jeschua in den synoptischen Evangelien wohl auch vereinzelt echte Zitate überliefert sind. Welche freilich tatsächlich 'echt' sind und welche den Stiftern nachträglich zugeschrieben und in den Mund gelegt wurden ist im konkreten Fall nie zweifelsfrei zu entscheiden. Philologische Untersuchungen können bestenfalls spätere 'Anwachsungen' identifizieren und als eindeutig nicht-authentisch ausscheiden.

Ich habe oben geschrieben, dass es da um philologische Fragen geht, nicht um religiöse - und in ausschließlich dieser Hinsicht sollte man auch das eben verwendete "authentisch" verstehen. Religiöse Lehrsysteme entstehen aus einem Impuls heraus (den man idR nicht unberechtigt einer speziellen Stifterfigur zuschreibt); sie entwickeln und differenzieren sich und sie können selbstverständlich auch degenerieren. Religionen werden den Menschen nicht fix und fertig von einem Religionsstifter vorgesetzt, sondern sind historische Prozesse. Der "Impuls", den Gautama Buddha gesetzt hat, war seine Erfahrung des Erwachens - und authentisch im religiösen Sinn ist, was geeignet ist, diese Erfahrung zu übertragen.
Gerade Buddhisten sollte es eigentlich vergleichsweise leicht fallen, auch den Buddhadharma als anitya (vergänglich, im Sinne von permanentem Wandel unterworfen) und sunya (leer, im Sinne von 'bedingt') zu begreifen. Dazu als abschließende Anmerkung: mit der Rezeption von Buddhas Lehren im Westen - sowohl der Rezeption durch die Wissenschaft als auch der Rezeption durch Menschen, die den achfachen Pfad praktisch beschreiten - ist der historische Prozess 'Buddhadharma' in eine neue, äußerst interessante Phase eingetreten, an der wir hier im Westen unmittelbar teilhaben und mitwirken dürfen und wo wir als westliche Buddhisten auch Verantwortung dafür tragen, ob sich diese Phase als degenerativ oder als regenerativ erweisen wird - ob dieser so gewandelte Buddhismus in dieser Hinsicht ein 'authentischer' sein wird.

Einen Abschnitt noch zur vielleicht nicht ohne weiteres verständlichen Wahl der Überschrift dieses Eintrags. Proteus war in der griechischen Mythologie ein mit außerordentlicher Hellsichtigkeit begabter Sohn Poseidons. Allerdings teilte er sein Wissen nicht ohne Weiteres - vielmehr suchte er sich den Fragenden durch ständige Wandlung seiner Gestalt zu entziehen. Hatte man ihn jedoch einmal ergriffen und hielt ihn trotz der zahllosen Formen, die er annahm, unbeirrt fest - dann nahm er schließlich seine wahre Gestalt an und gab sein Wissen preis. Was der Mythos nicht beantwortet, ist die Frage, woran man denn die wahre Gestalt des Proteus unter all den zahllosen Gestalten erkennen konnte - doch wohl ausschließlich daran, dass er antwortete. Aber war es denn immer dieselbe Gestalt, die antwortete? Hat Proteus wirklich eine 'wahre Gestalt'?

Der alte Mazu hätte wohl mit den Achseln gezuckt und irgend etwas in der Art "Buddhas mit Sonnengesichtern, Buddhas mit Mondgesichtern" gebrummelt. Und vielleicht ist es mit Ursache und Wirkung ja gerade andersherum, als Wilhelm Raabe erzählt - und wir erwachen, wenn wir den Proteus unseren haltenden Armen entschlüpfen lassen. Was liegt uns dann an seinem Wissen des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen? Zumindest die Gegenwart liegt offen und ohne Geheimnis unmittelbar vor unseren Augen, wenn wir wach sind - was will man mehr?