Montag, 21. November 2011

Was ist ein Mensch wert?

Die Diskussion um Organspende ist leider häufig zu sehr verengt auf die Problematik der postmortalen Organentnahme ("Leichenspende") – so auch in meinem Blogeintrag vom 6. Juli, in dem ich allerdings auch schon im Zusammenhang mit einem staatlichen Zugriffsrecht auf menschliche Organe auf den Aspekt ihrer möglichen Verwertung (beispielsweise als Gegenleistung für staatliche Unterstützung) verwiesen habe. Hier geht es dann natürlich um einen anderen und kaum weniger komplexen Aspekt des Problemfeldes Organspende – die sogenannte Lebendspende. Zunächst zur Einführung auch hier ein Video, das noch um einiges weniger für schwache Nerven geeignet ist als der Monty-Python-Sketch im Juli – geht es doch hier sehr ernsthaft um dasselbe Thema, die erzwungene Lebendspende. Ein nicht wirklich komisches Thema, zumal wenn der "Spender" das "Spenden" nicht überlebt …



Bei der sog. Lebendspende spielen die im Juli-Artikel angesprochenen philosophischen oder medizinethischen Erwägungen bezüglich des Sterbeprozesses keine Rolle. Es ist gar nicht möglich, hier grundsätzliche und generelle Aussagen unter dem Gesichtspunkt des Eingriffs in die körperliche Integrität oder einer möglichen gesundheitlichen Gefährdung des Spenders zu machen, da unter dem Begriff Lebendspende in dieser Hinsicht sehr unterschiedliche Vorgänge zusammengefasst werden - von der harmlosen Blut- oder Samenspende bis hin zur Nieren- und Teilleberspende.

Hier ist jedoch ein anderer Aspekt von besonderer Bedeutung, der im Zusammenhang mit der Organtransplantation von Lebendspenden geeignet ist, in der Summe mehr Leid zu erzeugen als zu lindern. Das medizinisch Machbare hat neue Bedürfnisse geweckt und damit auch einen potentiellen Markt geschaffen - einen sehr lukrativen Markt, da ein großes Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage besteht. Die internationale Bellagio-Arbeitsgruppe über Transplantation, körperliche Unversehrtheit und den internationalen Organhandel stellte schon 1997 in einem Bericht  fest:
"Gerade diese Knappheit hat Ärzten, Krankenhausverwaltern und Politikern in einer Anzahl von Ländern Anreize gegeben, ethisch zweifelhafte Strategien zur Beschaffung von Organen zu verfolgen. Sie sind weniger durch den Wunsch motiviert, die Bedürfnisse der Patienten in ihren Ländern zu erfüllen, als durch Zahlungen von Ausländern. Speziell hat der weltweite Fehlbedarf den Verkauf von Organen gefördert
[...]
Das physische Wohlbefinden benachteiligter Populationen, besonders in Entwicklungsländern, ist ohnehin gefährdet durch eine ganze Anzahl von Bedingungen, eingeschlossen die Gefahren von Mangelernährung, minderwertiger Behausung, unsauberes Wasser und parasitäre Infektionen. Unter diesen Umständen Organverkauf dieser Liste noch hinzuzufügen, würde eine bereits verletzliche Gruppe einer weiteren Bedrohung ihrer physischen Gesundheit und körperlichen Integrität aussetzen.
[…]
Selbst in entwickelten Ländern würde sich der Verkauf von Organen lebender Personen dem Missbrauch ausliefern."

(veröffentlicht in Transplantation Proceedings 1997, 29:2739-45, hier übersetzt)

Der drohenden Kommerzialisierung der Transplantationsmedizin und der Entwicklung eines weltweiten Organhandels traten schon früh internationale Organisationen mit Erklärungen entgegen (u.a. die World Medical Association, die Transplantation Society und die Weltge­sundheits­organi­sation der Vereinten Nationen). 1987 wurden in Deutschland zunächst die wichtigsten Grundsätze für Organtransplantationen in einem Transplantationskodex zusammengefasst, zu dessen Einhaltung sich die deutschen Transplantationszentren verpflichteten. 1997 wurde schließlich mit dem Transplantationsgesetz das Verbot des Organhandels in Deutschland gesetzliche Norm. Auch die vom Europarat initiierte, am 1. Dezember 1999 in Kraft getretene sog. Bioethikkonvention, ergänzt durch das Zusatzprotokoll vom 24.01.2002, untersagt in Artikel 21 die Verwendung des menschlichen Körpers und von Teilen davon zur Erzielung finanziellen Gewinns.

Das klingt beruhigend - ist aber kein Grund, sich entspannt zurückzulehnen. Denn der illegale Organhandel - speziell der besonders gewinnträchtige mit Nieren von Lebendspendern - ist auf Grund der enormen Gewinnspanne trotzdem eine Wachstumsbranche. Dies wurde spätestens durch den im Jahre 2003 im Auftrag des Europarates von der Schweizer Nationalrätin Ruth-Gaby Vermot-Mangold erstellten Bericht  deutlich; schon damals hatten skrupellose Makler in osteuropäischen Ländern aufgrund des dort herrschenden materiellen Elends neue ‘Quellen’ erschlossen. Der Bericht Trafficking in organs in Europe (Council of Europe, Parliamentary Assembly, Doc. 9822, 3 June 2003) ist zwar nach über acht jahren nicht mehr sonderlich aktuell, doch ist seine Lektüre nach wie vor mehr als empfehlenswert - zeigt er doch, dass die Organmafia nicht nur das Elend afrikanischer Flüchtlinge (im wahrsten Sinne des Wortes) ausschlachtet und Organhandel nicht als exotisches (möglicherweise auf afrikanische Migranten als Opfer und den Sinai beschränktes) Problem abgetan werden kann - was der CNN-Bericht leider nahelegt.

Die Frage, die der Film nicht beantwortet bzw. gar nicht erst stellt, ist doch die - wer sind denn die Kunden der Organhändler, wer sind die Endabnehmer? Auch, wenn es selten ausgesprochen wird - wer es wissen möchte, erfährt ohne größere Probleme, dass es in manchen Ländern (ein hinreichend dickes Portemonnaie vorausgesetzt) möglich ist, das Problem eines fehlenden Spenderorgans auf eine Weise zu lösen, die das Gesetz hierzulande verbietet.

Es ist das altbekannte Globalisierungsproblem - die Ausbeutung der Armen durch die Reichen im internationalen Maßstab. Auch, wenn unser persönliches Einkommen vielleicht allenfalls für exotischen Sextourismus ausreicht und hingegen der Transplantationstourismus - noch - eher eine Angelegenheit für "Besserverdienende" ist: wir in den reichen europäischen Ländern gehören zu den Profiteuren der globalisierten Weltwirtschaft. Auch hier: noch. Um so mehr Anlass, sich darüber Gedanken zu machen, welche Rolle die 'Geistesgifte' Gier, Hass und Wahn im Zusammenhang Transplantationsmedizin spielen. Natürlich wird niemand, der auch nur ein Fünkchen Mitgefühl hat, einem Kranken, der die Möglichkeit sieht, seine Lebensqualität durch eine Organtransplantation entscheidend zu verbessern, Vorträge über unheilsame Motivation halten. Aber gerade, wenn es in diesem Zusammenhang um Mitgefühl geht: ist es zuviel verlangt, dass der Gesetzgeber sicher stellt, dass es ausschließlich um Mitgefühl geht und nicht um kommerzielle Interessen?

Es macht Sinn, sich in Bezug auf die Lebendspende die  Kategorisierung von Abdallah S. Daar vor Augen zu halten:

    Kategorie I: Lebendspende von Verwandten
    Kategorie IIa: Lebendspende von Nicht-Verwandten
    Kategorie IIb: Überkreuzspende (Cross-over-Spende)
    Kategorie IIc: Pool-Überkreuzspende
    Kategorie III: Anonyme Lebendspende
    Kategorie IVa: Absicherungsmodell
    Kategorie IVb: Entschädigungsmodell
    Kategorie IVc: Anreiz- oder Belohnungsmodell
    Kategorie V: kommerzialisierte Lebendspende / Organhandel
    Kategorie VI: Kriminalisierte Lebendspende

Unser Transplantationsgesetz lässt rein aus Mitgefühl motivierte Spenden (Daars Kategorien I und IIa) ohne Weiteres zu. Es gibt sicher bedenkenswerte Argumente für die Legalisierung der Crossover-Spende (Kategorie IIb und IIc) und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (B 9 VS 1/01 R vom 10.12.2003) hat de facto schon zu einer 'Halblegalisierung' geführt bzw. eine Gesetzeslücke aufgezeigt - aber man sollte sich schon im Klaren darüber sein, dass es hier um Austauschvereinbarungen geht; die Spende mithin nur indirekt durch Mitgefühl, hingegen direkt durch den Wunsch nach einer gleichwertigen Gegenleistung motiviert ist.

Bei Kategorie III, der anonymen Lebendspende, ist jedoch weder die Uneigennützigkeit des Spenders noch - wenn dieser einen Gegenwert in irgendeiner Form erhält - die  Äquivalenz (Gleichwertigkeit) der "Tauschgüter" zweifelsfrei gewährleistet; das ist der Einstieg in den (nicht notwendig fairen) Handel. Dieses Modell eröffnet dem Organschwarzmarkt (selbstverständlich illegale) Absatzmöglichkeiten; sie ist der eigentliche Einstieg in den kommerzialisierten Organhandel, wie das Beispiel China zeigt. Zwar ist es im Fall China nicht angebracht, von 'anonymen Lebendspendern' zu sprechen, stammen doch nach Expertenschätzungen ca. 65% der dort transplantierten Organe von hingerichteten Straftätern; möglicherweise mit ein Grund für die extensive Anwendung der Todesstrafe in China. Aber die Organe stammen natürlich von Menschen, die nicht aufgrund von Alter, Krankheit oder Unfall sterben - und somit nicht wirklich in die Kategorie postmortaler Spenden ('Leichenspenden') gehören, sondern eine eigene - ethisch höchst problematische - Kategorie darstellen. Selbstverständlich gibt es gesetzliche Regelungen für einen "sauberen" Umgang mit den so geernteten Organen; und selbstverständlich gibt es hier eine weitverbreitete Korruption und einen Organschwarzmarkt: für die, die sich die Preise leisten können.

Man sollte meines Erachtens deshalb sehr wach auf jeden Vorstoß zu einer Aufweichung des Transplantationsgesetzes reagieren und dabei sowohl die Motivation als auch die Konsequenzen 'liberalerer' Regelungen im Auge haben. Insbesondere die von verschiedenen Interessengruppen geforderte Änderung des Transplantationsgesetzes mit dem Ziel, die anonyme Lebendspende zu legalisieren, ist äußerst bedenklich - sie ist geeignet, einer weiteren Kommerzialisierung der Transplantationsmedizin Vorschub zu leisten und dem illegalen Organhandel neue Märkte zu erschließen.

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