Freitag, 11. Juni 2010

Zazen als buddhistischer Weg - Teil 2

Fortsetzung von Teil 1


Wenn Sie sich schon etwas mit der buddhistischen Lehre beschäftigt haben, dann wissen Sie, dass sie auf ein paar wenigen Voraussetzungen aufbaut und diese dann schrittweise logisch entwickelt. Ich bitte Sie in diesem Fall um Nachsicht, wenn ich Sie mit Altbekanntem langweile. Die gesamte buddhistische Lehre lässt sich in wenigen einfachen Sätzen zusammenfassen - und das gilt für alle buddhistischen Traditionen, so unterschiedlich sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Glauben Sie's oder nicht - der gesamte Buddhadharma passt problemlos auf eine halbe DIN A4 - Seite. Hier - so sieht das aus.



Das ist das sog. Buddhistische Bekenntnis, das die Deutsche Buddhistische Union, der Dachverband der Buddhisten in Deutschland, gemeinsam erarbeitet hat. Ich weiss nicht, ob die DBU hier auf dem Festgelände einen eigenen Stand hat - wenn nicht, bekommen Sie das sicher an einem Stand einer DBU-Mitgliedsgemeinschaft. Schauen Sie sich's mal an.

Auch das hier kann man noch einmal konzentrieren - das Wesentliche steht nämlich hier, in der Mitte: "Ich habe festes Vertrauen zu den edlen vier Wahrheiten: Das Leben im Daseinskreislauf ist letztlich leidvoll. Ursachen des Leidens sind Gier, Hass und Verblendung. Erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden. Zum Erlöschen des Leidens führt der edle achtfache Pfad." Von Nummer Vier reden wir hier. Der edle achtfache Pfad, das ist mit "buddhistischer Weg" gemeint. Das ist das, was Buddhisten tun oder worum sie sich doch zumindest bemühen, um Leiden zu überwinden. Das ist die Praxis des Buddhismus. Die anderen drei Wahrheiten - das ist die Theorie, sie geben uns Gründe an die Hand, eine Motivation für die Praxis. Wenn man sie genauer untersuchen und begründen will, dann kommen wir mit so einem kleinem Faltblatt natürlich nicht aus, dazu braucht es schon ein wenig mehr. Ein lebenslanges Studium erst einmal, zum Beispiel. Deswegen spreche ich darüber heute, in dieser halben Stunde, nicht, so interessant das natürlich ist. Mein Thema heute ist der buddhistische Weg, die buddhistische Praxis im Soto-Zen.

Ich möchte jetzt nicht alle acht Teilaspekte des edlen achtfachen Pfades durchdeklinieren und im Einzelnen erläutern; man hat sie auch schon recht früh zu drei verschiedenen Übungsfeldern zusammengefasst: Weisheit, Sittlichkeit und Klären des Geistes – oder anders: Entwicklung von Erkenntnis und Verstehen, Entfaltung ethisch korrekten Verhaltens und geistige Schulung. Wir dürfen ohnehin nicht den Fehler begehen, die acht Aspekte des edlen achtfachen Pfades oder Weisheit, Sittlichkeit und Klären des Geistes für voneinander getrennte Felder der Praxis zu halten, die jeweils für sich existieren, für sich isoliert beackert werden. Es ist auch nicht so, dass diese Aspekte des buddhistischen Weges Stufen sind, die aufeinander aufbauen. Dass man sich also z.B. zunächst einmal um ein ethisch tadelloses Verhalten bemüht, dass dies die Voraussetzung für eine geistige Vervollkommnung durch Meditation und Achtsamkeit ist, die dann wiederum zu Weisheit, zu rechter Erkenntnis führt. Das wäre ein Missverständnis. Vielmehr greifen Weisheit, Sittlichkeit und Klären des Geistes ineinander, gehen ineinander über, bedingen und verstärken sich wechselseitig - oder behindern sich, wenn ein Bereich in der Entwicklung zurück bleibt.

In der chinesischen buddhistischen Tradition hat man diesen Dreiklang 'Sangaku' genannt, 'dreifaches Studium' - denn man hat die Entwicklung von Weisheit, Sittlichkeit und Klären des Geistes mit dem Studium der drei Abteilungen des Tripitaka, also des überlieferten Korpus buddhistischer Lehrschriften, identifiziert. Weisheit war aus dieser Sicht eine Sache des Intellekts, war Schulung des Verständnisses durch Studium der Kommentare, der Shastras, des Abhidharma. Sittlichkeit ist - so verstanden - die Entwicklung heilsamen Verhaltens, insbesondere auch heilsamen sozialen Verhaltens, mit Hilfe des Studiums des Vinaya, also der buddhistischen Ordensregel. Klären des Geistes schließlich, geistige Schulung, wurde mit dem Studium der Sutren und deren Ergründung identifiziert. Ganz offensichtlich eine ziemlich verkopfte Angelegenheit …

Nun - es konnte nicht ausbleiben, dass diese Sicht, dieses Konzept vom buddhistischen Weg, das uns heute eher an einen konfuzianischen Beamten-Gelehrten denken lässt als an einen buddhistischen Wegsucher, von Vielen als unbefriedigend, als inadäquat empfunden wurde. Vielleicht erinnern Sie sich noch, was ich vorhin darüber gesagt habe, was für ein untaugliches Mittel Worte sind, um auch nur eine zutreffende Vorstellung von authentischer buddhistischer Praxis zu entwickeln. Das wird nicht dadurch besser, wenn man diese Worte in den Sutren, Shastras und im Vinaya sucht. Verstehen Sie mich nicht falsch - ich will das Studium der Schriften durchaus nicht abwerten. Zen steht nicht außerhalb der Sutren - es ist nicht wirklich eine Überlieferung "außerhalb der Schriften". Es ist eine Überlieferung ohne Wort und Schrift, eine Überlieferung direkt von Herz zu Herz, die in den Schriften jedoch Förderung und Bestätigung findet. Das ist kein Gegensatz; die Sutras sind vollkommener Ausdruck des buddhistischen Weges. Doch sie sind eben nicht der Weg selbst und ohne den Weg erlangt zu haben, sind sie nur Worte auf Papier, nicht mehr.

Gewissermaßen als Gegenbewegung zu dem formalistischen Schriftenstudium, dem dreifachen Studium Sangaku, betonte das chinesische Zen etwas, das als 'Muso Sangaku' bezeichnet wurde. Als 'dreifaches Studium ohne Form'. Ich will jetzt schon die Pointe vorwegnehmen und verraten, was dieses 'formlose dreifache Studium' ist: es ist nichts Anderes als Zazen.

Um dies zu verstehen, müssen wir uns erst einmal darüber klar werden, was der buddhistische Weg, die buddhistische Praxis bewirkt und wie sie es bewirkt. Erinnern wir uns kurz an die zweite und dritte edle Wahrheit, die ich vorhin erwähnt habe: Gier, Hass und Verblendung sind Ursachen von Leiden, das durch das Erlöschen dieser Ursachen überwunden wird. Der Sinn des buddhistischen Wegs ist also das Erlöschen von Gier und Hass - der Grundantriebe des Daseins, die wir in moderner Diktion, in Anlehnung an das Vokabular der Psychoanalyse, auch als Lust und Unlust bezeichnen können, die wiederum aus Verblendung entstehen, aus Unkenntnis über unsere wahre Natur und über die Folgen unseres Handelns.

Wir sprechen hier von Klesha, 'Trübungen'. Oder Bonno, um den japanischen Ausdruck zu nennen. Das Erwachen, das Buddha Shakyamuni erfuhr, war die völlige und restlose Auflösung dieser Trübungen und damit aller ihrer Folgen. Lassen Sie mich, um diesen Punkt klar zu machen, statt der traditionellen Metapher Klesha oder 'Trübungen' ein anderes Bild verwenden: Verzerrungen. Was Buddha erlangte, als er unter dem Bodhibaum erwachte, das war seine wahre Gestalt, frei von jeglichen Verzerrungen. Insofern hat er nicht wirklich etwas erlangt – es ist Alles von Anfang an bereits da gewesen.

Es gibt durch die buddhistische Praxis nichts zu gewinnen – tut mir leid, wenn ich Sie da enttäuschen sollte. Sie dient vielmehr dazu, zu verlieren. Alle Verzerrungen zu verlieren und damit zur wahren, unverzerrten Gestalt zurück zu finden. Diese wahre, unverzerrte Gestalt ist es, die wir karmisch verformen. Das heisst, durch willentliches Handeln mit Körper, Geist und Sprache verzerren. Dieses willentliche Handeln wiederum ist angetrieben und motiviert durch blinde Triebe, durch Gier und Hass, durch Lust und Unlust.

Kommen wir auf den Ausdruck 'Trübungen' zurück, Klesha oder Bonno. Es scheint nahezuliegen, hier von 'Trübungen des Geistes' zu sprechen - aber das trifft es nicht ganz. Der Geist - eben dieser Geist ist das Getrübte. Lösen sich die Trübungen auf, bleibt der klare Spiegel des Geistgrundes. Aber das ist nur ein Wort für etwas, das jenseits aller Worte ist. Ehrlich gesagt - ich führe Sie hier an der Nase herum, weil ich mir einfach nicht anders helfen kann.

Andererseits - der große Zenlehrer Daikan Eno, der als sogenannter 6. Patriarch des Zen in China um 700 u.Z. eine ganz entscheidende Rolle spielte bei dem, was ich gerade als Gegenbewegung zum formalistischen Schriftenstudium Sangaku bezeichnet habe, benutzte ebenfalls diesen Begriff 'Geistgrund' und darüber hinaus sprach er vom 'eigenen Wesen', um einem Fragenden zu veranschaulichen, was das 'formlose dreifache Studium', was 'muso sangaku' eigentlich ist. Ich möchte ihn hier zitieren:

"Die Lehre, die ich darlege, ist nicht getrennt vom eigenen, ursprünglichen Wesen. Wenn eine Lehre vom ursprünglichen Wesen getrennt dargelegt wird, dann ist es eine formale Lehre. So eine Lehrweise lässt einen das eigene ursprüngliche Wesen aus den Augen verlieren. Man muss wissen, dass alle Zehntausend Erscheinungen das Wirken des eigenen Wesens sind. Das ist die wahre Lehre der Gleichheit von Sittlichkeit, Klären des Geistes und Weisheit.

Stets das eigene ursprüngliche Wesen schauen (es natürlich manifestieren) bedeutet, dass das eigene Wesen an sich Buddha ist. Der Geistgrund ohne Irrtümer ist Sittlichkeit des eigenen Wesens, also die Ethik, mit der das eigene Wesen von Anfang an ausgestattet ist. Der Geistgrund ohne Torheit ist Weisheit des eigenen Wesens. Der Geistgrund ohne Wirrnis ist der geklärte Geist des eigenen Wesens."

Das zeigt uns nun auch ein vielleicht etwas überraschendes Verständnis des buddhistischen Weges auf. Der buddhistische Weg ist nicht ein Mittel, ein Werkzeug, das zum Erwachen führt. Er ist vielmehr die wahre, ursprüngliche, unverzerrte Gestalt des Erwachens, seine Form. Wenn wir es personalisieren wollen: der Erwachte. Buddha und der Weg des Erwachens sind eins. Im Vakkali Sutta, das sich im Palikanon findet, spricht Buddha: "Wer den Dharma sieht, der sieht mich; wer mich sieht, der sieht den Dharma! Wahrlich, den Dharma sehend, sieht man mich; mich sehend, sieht man den Dharma."

Das Üben des buddhistischen Weges ist also das Einüben in das Verkörpern des Dharma, es ist das Einnehmen der Gestalt Buddhas. Es ist - wie der große Lehrer Dogen, der im 13. Jahrhundert die Tradition des Soto-Zen nach Japan brachte, ausdrückte, das 'Tun Buddhas', Butsugyo. Das bedeutet natürlich auch, dass wir selbst Buddha sind. Schlampige Buddhas, verformte, verzerrte Buddhas, die unter ihrer Missgestalt leiden. Die Gestalt des Erwachten im Erwachen ist sitzender Buddha. Zazen ist das Einnehmen dieser Gestalt, Zazen ist sitzender Buddha. Ich hatte es schon zu Beginn gesagt: Zazen ist keine Meditation, ist kein Samadhi, kein Dhyana, kein Smrti oder Sati. Kein Klären des Geistes. Alles dies AUCH – aber nicht NUR. Zazen ist der vollständige achtfache Pfad, ist Manifestation des Geistgrunds ohne Irrtümer, ohne Torheit, ohne Verwirrung. Ist Sittlichkeit, Weisheit, Klären des Geistes. Sitzender Buddha.

Das klingt sehr einfach – und das ist es auch. Wir können Buddha unmittelbar folgen, weil wir selbst Buddha sind. In seiner Schrift 'Yuibutsu Yobutsu' - 'Nur von Buddha zu Buddha' - vergleicht Dogen dieses 'Folgen' mit dem Zug der Vögel:

"Ein Wagen, der einen schlammigen Weg passiert, und ein Pferd auf dem Feld sind leicht zu verfolgen, weil sie klar unterscheidbare Spuren hinterlassen. Ein Vogel benötigt solche Spuren jedoch nicht, um den Vögeln zu folgen, die bereits davongezogen sind.

Das ist prinzipiell das gleiche, wie dem buddhistischen Weg zu folgen. Die Buddhas sind sich all der Buddhas bewusst, die ihnen vorangingen, kleiner, großer und weniger bekannter Buddhas. Nur Buddhas können Buddhas erkennen. […] 'Nur die Buddhas allein besitzen das Buddha-Auge. Ohne dieses Auge kann der Weg weder gesehen noch erkannt werden.' ....

Wenn wir diesen Weg gesehen haben, sollten wir ihn als Standard nehmen, um unseren eigenen Weg daran zu messen. Ein Vergleich dieser Art eröffnet tieferes Verständnis der Zeichen, die von den Buddhas hinterlassen wurden .... Nur durch Klären der Zeichen, die von den Buddhas hinterlassen wurden, können wir Einblick in die Abdrücke unseres eigenen Weges gewinnen. Wenn wir sie erkannt und verstanden haben, sollten wir den Zeichen, die von den Buddhas hinterlassen wurden, mit unserem ganzen Körper und Geist folgen. Das ist das buddhistische Dharma."

Buddha mit unserem ganzem Körper und Geist folgen - das ist Zazen. Weil wir Buddha sind, müssen wir dazu nichts tun. Nur uns hinsetzen, nichts sonst. ....

Nun - um ehrlich zu sein, ganz so einfach ist das nun doch wieder nicht. Unsere Verzerrungen und Verformungen loszuwerden, ist ähnlich schwierig wie eine seit langer Zeit angewöhnte körperliche Fehlhaltung zu korrigieren. Um wirklich NUR zu sitzen – dem Sitzen nichts hinzuzufügen, nichts wegzulassen - bedarf es schon einiger Übung. 'Nichts wegzulassen' ist vielleicht noch schwieriger, als nichts hinzuzufügen, also sich nicht Tagträumen und Fantasien hinzugeben, Gedanken nachzuhängen. 'Nichts wegzulassen' bedeutet, nichts auszuschließen, sich nicht abzuschotten. Also kein Rückzug, keine 'Versenkung', sondern absolute Offenheit. So offen, als wollte man den sprichwörtlichen Sack Reis in China umfallen hören. Kommen lassen und annehmen, was kommt und wie es kommt. Klänge, Gerüche, Gefühle, Gedanken … nichts abweisen. Dabei aber auch nichts ergreifen, festhalten, an nichts anhaften – das, was kommt, wieder gehen lassen, vergehen lassen. Heiter-gelassenes Widerspiegeln ohne Verzerrungen, ohne Trübungen. Ohne Widerstand, ohne ein Tun. Die Dinge so sein lassen, wie sie sind. Einfach nur Sitzen. Dann wird man auch selbst zu dem, was man wirklich ist. Nicht mehr, nicht weniger.

Noch einmal Meister Dogen:

"Was man das Ergründen des Buddhaweges nennt, ist das Ergründen des Selbst. Was man das Ergründen des Selbst nennt, ist das Vergessen des Selbst. Was man das Vergessen des Selbst nennt, ist Aufgehen im Bezeugen der Erwachens durch die zehntausend Dinge. Was man Bezeugen des Erwachens durch die zehntausend Dinge nennt, ist das Ineinander-Aufgehen von Körper und Geist des Selbst und Nicht-Selbst, wenn sie sich lösen und abfallen".

Auch, wenn uns dies zu Beginn vielleicht sehr schwer fällt - die Übung des Zazen ist trotzdem immer vollständig. UNSERE Übung mag mangelhaft sein – aber Zazen ist nicht UNSERE Übung. Zazen ist immer sitzender Buddha. Suzuki Roshi, von dem ich die Anekdote zu Beginn meines Vortrages erzählt habe, hat einmal gesagt: "Wenn Eure Übung nicht gut ist, seid ihr amseliger Buddha. Ist sie gut, dann seid ihr guter Buddha. Und 'armselig' und 'gut' sind selbst Buddhas." Wenn Sie täglich Zazen üben, dann wird Zazen nicht nur zum Zentrum Ihrer buddhistischen Praxis, dann wird Zazen zum Zentrum Ihres Lebens, es durchdringt ihr Leben und transformiert es. Das alltägliche Leben, der alltägliche Geist, wird buddhistische Praxis, wird zum buddhistischen Weg. Dann ist Ihre religiöse Praxis keine äußerliche, formale Praxis – nicht etwas, was von Ihnen selbst getrennt ist und zu dem sie sich gelegentlich bequemen. Sondern dann manifestiert sich in Ihrem alltäglichen Handeln und Nicht-Handeln auf vollkommen natürliche Weise mehr und mehr, Schritt für Schritt, Sittlichkeit, Weisheit und ein klarer Geist – weil Sie immer wieder zu Ihrer eigentlichen, wahren Natur zurückfinden und Sittlichkeit, Weisheit und ein klarer Geist die Form dieser wahren Natur ist.


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