Sonntag, 18. Juli 2010

Auch ich in Arkadien!

Laß die Sprache dir sein, was der Körper den Liebenden. Er nur
Ist's, der die Wesen trennt, und der die Wesen vereint.

Als man mich seinerzeit das Schreiben lehrte, war es ein ungeliebter Brauch, von uns ABC-Schützen regelmäßig Rechenschaft über die von der Pflicht des Lernens befreite Zeit zu fordern - in Aufsätzen mit sinnigen Titeln wie "mein schönstes Ferienerlebnis" oder dergleichen. Schau'n wir mal, ob ich in diesem Genre noch einigermaßen geübt bin ...


Ich muss freilich einräumen, meinen Urlaub in weniger exotischen (und daher dem Leser möglicherweise auch weniger interessant erscheinenden) Gefilden verbracht zu haben, als es die Überschrift anzukündigen scheint: weder im griechischen Peloponnes  noch in Italien, wie es ein Goethe-Kenner vielleicht vermuten könnte - Goethe stellte das "Auch ich in Arkadien!" als Motto der Erstausgabe seiner 'Italienischen Reise' voran (und unterließ dies weise in der Ausgabe letzter Hand). Diese Identifikation von Arkadien mit Italien hatte Goethe freilich schon von Herder übernommen, dessen 1787 verfasstes Gedicht 'Angedenken an Neapel' mit eben diesen Worten schließt. Nun, meine Reise führte mich lediglich an den Neckar, wobei ich mit dessen vielleicht schönsten Abschnitt - dem von Bad Wimpfen nach Heidelberg - auf die schönste und angenehmste (wenn auch nicht bequemste) Art Bekanntschaft schloss: durch Befahren mit einem eigenhändig gepaddelten Boot.





In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
Und all der holden Hügel, die dich,
Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.

Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft
Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal,
Wie Leben aus dem Freudebecher,
Glänzte die bläuliche Silberwelle.

Der Berge Quellen eilten hinab zu dir,
Mit ihnen auch mein Herz, und du nahmst uns mit
Zum still erhabnen Rhein, zu seinen
Städten hinunter und lust'gen Inseln.


Man sieht, dass auch Hölderlin, "das Land der Griechen mit der Seele suchend", die Heimat nicht aus dem Auge verlor - 

doch weicht mir aus treuem Sinn
Auch da mein Neckar nicht mit seinen
Lieblichen Wiesen und Uferweiden.

Selbstverständlich suchte ich auch das wenige Kilometer flussaufwärts von Bad Wimpfen gelegene Lauffen auf, war jedoch weidlich enttäuscht. Die dortigen Philister haben die Grafenburg auf der Neckarinsel so gründlich renoviert, dass sie ausschaut wie eine Zweigstelle der Bundesanstalt für Arbeit. Dafür ist die Regiswindiskirche auf der anderen Neckarseite um so vernachlässigter - der schwäbische Pietismus ist wohl auch nicht mehr das, was er einmal war ... Aus diesem Grund sei an dieser Stelle auf ein  allzu decouvrierendes Photo gnadenhalber verzichtet. 


Die einheimische Gastronomie einschließlich der örtlichen Dönerbuden ist jedenfalls hervorragend ausgeschildert, von Hölderlins Geburtshaus kann man jedoch leider nicht dasselbe sagen. Zwei Halbwüchsige, dem Augenschein und ihrem Dialekt nach zu urteilen ohne Migrationshintergrund, nach dem rechten Weg befragt, bekannten freimütig, dass ihnen ein Herr Hölderlin gänzlich unbekannt sei - sein Geburtshaus selbstredend ebenfalls.


Seltsames Land! Hier haben die Flüsse Geschmack und die Quellen,
Bei den Bewohnern allein hab' ich noch keinen versprürt.


Die gerade zitierte Sottise stammt von einem anderen mit Neckarwasser Getauften - Friedrich Schiller. Dessen Erwähnung hier natürlich unvermeidlich ist - liefert doch gerade er ein unschlagbares Argument für die Identifikation des Neckartales mit Arkadien:


Auch ich war in Arkadien geboren,
Auch mir hat die Natur
An meiner Wiege Freude zugeschworen,
Auch ich war in Arkadien geboren,
Doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur.


Nun - dass Schiller hier 'Arkadien' explizit auf seinen Geburtsort Marbach bezieht, diese These möchte ich nicht um jeden Preis verteidigen und ansonsten von diesem etwas larmoyanten Jugendgedicht nur noch die letzten beiden Verse zitieren:


Was man von der Minute ausgeschlagen,
Gibt keine Ewigkeit zurück.


Man sieht, schon als junger Mann konnte Schiller sprichwortreif formulieren. Wenden wir uns trotzdem einem etwa zehn Jahre später entstandenen Gedicht zu, dessen erster Teil mir eher zum Thema zu passen scheint:


Sei mir gegrüßt, mein Berg mit dem rötlich strahlenden Gipfel,
Sei mir, Sonne, gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint,
Dich auch grüß ich, belebte Flur, euch, säuselnde Linden,
Und den fröhlichen Chor, der auf den Ästen sich wiegt,
Ruhige Bläue, dich auch, die unermeßlich sich ausgießt
Um das braune Gebirg, über den grünenden Wald,
Auch um mich, der endlich entflohn des Zimmers Gefängnis
Und dem engen Gespräch freudig sich rettet zu dir,
Deiner Lüfte balsamischer Strom durchrinnt mich erquickend,
Und den durstigen Blick labt das energische Licht,
Kräftig aufblühender Au erglänzen die wechselnden Farben,
Aber der reizende Streit löset in Anmut sich auf,
Frei empfängt mich die Wiese mit weithin verbreitetem Teppich,
Durch ihr freundliches Grün schlingt sich der ländliche Pfad,
Um mich summt die geschäftige Bien, mit zweifelndem Flügel
Wiegt der Schmetterling sich über dem rötlichten Klee,
Glühend trifft mich der Sonne Pfeil, still liegen die Weste,
Nur der Lerche Gesang wirbelt in heiterer Luft.
Doch jetzt brausts aus dem nahen Gebüsch, tief neigen der Erlen
Kronen sich, und im Wind wogt das versilberte Gras,
Mich umfängt ambrosische Nacht; in duftende Kühlung
Nimmt ein prächtiges Dach schattender Buchen mich ein,
In des Waldes Geheimnis entflieht mir auf einmal die Landschaft,
Und ein schlangelnder Pfad leitet mich steigend empor.
Nur verstohlen durchdringt der Zweige laubigtes Gitter
Sparsames Licht, und es blickt lachend das Blaue herein.
Aber plötzlich zerreißt der Flor. Der geöffnete Wald gibt
Überraschend des Tags blendendem Glanz mich zurück.
Unabsehbar ergießt sich vor meinen Blicken die Ferne,
Und ein blaues Gebirg endigt im Dufte die Weh.
Tief an des Berges Fuß, der gählings unter mir abstürzt,
Wallet des grünlichten Stroms fließender Spiegel vorbei.
Endlos unter mir seh ich den Äther, über mir endlos,
Blicke mit Schwindeln hinauf, blicke mit Schaudern hinab,
Aber zwischen der ewigen Höh und der ewigen Tiefe
Trägt ein geländerter Steig sicher den Wandrer dahin.
Lachend fliehen an mir die reichen Ufer vorüber,
Und den fröhlichen Fleiß rühmet das prangende Tal.
Jene Linien, sieh! die des Landmanns Eigentum scheiden,
In den Teppich der Flur hat sie Demeter gewirkt.
Freundliche Schrift des Gesetzes, des menschenerhaltenden Gottes,
Seit aus der ehernen Welt fliehend die Liebe verschwand,
Aber in freieren Schlangen durchkreuzt die geregelten Felder,
Jetzt verschlungen vom Wald, jetzt an den Bergen hinauf
Klimmend, ein schimmernder Streif, die Länder verknüpfende Straße;
Auf dem ebenen Strom gleiten die Flöße dahin,
Vielfach ertönt der Herden Geläut im belebten Gefilde,
Und den Widerhall weckt einsam des Hirten Gesang.
Muntre Dörfer bekränzen den Strom, in Gebüschen verschwinden
Andre, vom Rücken des Bergs stürzen sie gäh dort herab.
Nachbarlich wohnet der Mensch noch mit dem Acker zusammen.
Seine Felder umruhn friedlich sein ländliches Dach,
Traulich rankt sich die Reb empor an dem niedrigen Fenster,
Einen umarmenden Zweig schlingt um die Hütte der Baum.
Glückliches Volk der Gefilde! noch nicht zur Freiheit erwachet,
Teilst du mit deiner Flur fröhlich das enge Gesetz.
Deine Wünsche beschränkt der Ernten ruhiger Kreislauf,
Wie dein Tagewerk, gleich, windet dein Leben sich ab!
Aber wer raubt mir auf einmal den lieblichen Anblick?
Ein fremder Geist verbreitet sich schnell über die fremdere Flur!
Spröde sondert sich ab, was kaum noch liebend sich mischte,
Und das Gleiche nur ists, was an das Gleiche sich reiht:
Stände seh ich gebildet, der Pappeln stolze Geschlechter
Ziehn in geordnetem Pomp vornehm und prächtig daher,
Regel wird alles, und alles wird Wahl und alles Bedeutung,
Dieses Dienergefolg meldet den Herrscher mir an.
Prangend verkündigen ihn von fern die beleuchteten Kuppeln.
Aus dem felsigten Kern hebt sich die türmende Stadt ....



Anders als Heidelberg lässt sich Marbach nun kaum als 'türmende Stadt' bezeichnen. Zumindest hier ist ein Besuch auch wirklich empfehlenswert - und Schillers Geburtshaus  (es ist das mittlere auf dem nebenstehenden Photo) ohne größere Probleme auffindbar. Die junge Familie Schiller bewohnte dort ein recht kleines Zimmer und eine noch kleinere Küche im Erdgeschoß. Mit der freundlichen Kustodin hatte ich einen kleinen Schwatz über Rüdiger Safranskis Schiller-Biografie - es sei hier verraten, dass sie sie, anders als ich, nicht sonderlich schätzt..

In Anbetracht der hochsommerlichen Temperatur ersparte ich mir den Besuch des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs sondern suchte stattdessen in der Mittleren Holdergasse die ehemalige Salzscheuer auf, wo Herr Baader eigenhändig ein sehr wohlschmeckendes und bekömmliches Bier braut und ausschenkt. Eindeutig die größere Attraktion ...


Auf solche Art gestärkt, lässt es sich behaglich im Schatten sitzen und wenn man genug geplaudert hat greift man zum Vademecum und liest ein wenig. Zum Beispiel dieses hier - weil's so schön ist, ungekürzt:


"Glaub ich", sprichst du, "dem Wort, das der Weisheit Meister mich lehren,
Das der Lehrlinge Schar sicher und fertig beschwört;
Kann die Wissenschaft nur zum wahren Frieden mich führen,
Nur des Systemes Gebälk stützen das Glück und das Recht?
Muß ich dem Trieb mißtraun, der leise mich warnt, dem Gesetze,
Das du selber, Natur, mir in den Busen geprägt,
Bis auf die ewige Schrift die Schul ihr Siegel gedrücket
Und der Formel Gefäß bindet den flüchtigen Geist?
Sage du mirs, du bist in diese Tiefen gestiegen,
Aus dem modrigten Grab kamst du erhalten zurück,
Dir ist bekannt, was die Gruft der dunklen Wörter bewahret,
Ob der Lebenden Trost dort bei den Mumien wohnt.
Muß ich ihn wandeln, den nächtlichen Weg? Mir graut, ich bekenn es!
Wandeln will ich ihn doch, fuhrt er zu Wahrheit und Recht." -
Freund, du kennst doch die Goldene Zeit, es haben die Dichter
Manche Sage von ihr rührend und kindlich erzählt!
Jene Zeit, da das Heilige noch im Leben gewandelt,
Da jungfräulich und keusch noch das Gefühl sich bewahrt,
Da noch das große Gesetz, das oben im Sonnenlauf waltet
Und verborgen im Ei reget den hüpfenden Punkt,
Noch der Notwendigkeit stilles Gesetz, das stetige, gleiche,
Auch der menschlichen Brust freiere Wellen bewegt,
Da nicht irrend der Sinn und treu, wie der Zeiger am Uhrwerk,
Auf das Wahrhaftige nur, nur auf das Ewige wies? -
Da war kein Profaner, kein Eingeweihter zu sehen,
Was man lebendig empfand, ward nicht bei Toten gesucht,
Gleich verständlich für jegliches Herz war die ewige Regel,
Gleich verborgen der Quell, dem sie belebend entfloß.
Aber die glückliche Zeit ist dahin! Vermessene Willkür
Hat der getreuen Natur göttlichen Frieden gestört.
Das entweihte Gefühl ist nicht mehr Stimme der Götter,
Und das Orakel verstummt in der entadelten Brust.
Nur in dem stilleren Selbst vernimmt es der horchende Geist noch,
Und den heiligen Sinn hütet das mystische Wort.
Hier beschwört es der Forscher, der reines Herzens hinabsteigt,
Und die verlorne Natur gibt ihm die Weisheit zurück.
Hast du, Glücklicher, nie den schützenden Engel verloren,
Nie des frommen Instinkts liebende Warnung verwirkt,
Malt in dem keuschen Auge noch treu und rein sich die Wahrheit,
Tönt ihr Rufen dir noch hell in der kindlichen Brust,
Schweigt noch in dem zufriednen Gemüt des Zweifels Empörung,
Wird sie, weißt dus gewiß, schweigen auf ewig wie heut,
Wird der Empfindungen Streit nie eines Richters bedürfen,
Nie den hellen Verstand trüben das tückische Herz —
O dann gehe du hin in deiner köstlichen Unschuld,
Dich kann die Wissenschaft nichts lehren. Sie lerne von dir!
Jenes Gesetz, das mit ehrnem Stab den Sträubenden lenket,
Dir nicht gilts. Was du tust, was dir gefällt, ist Gesetz,
Und an alle Geschlechter ergeht ein göttliches Machtwort,
Was du mit heiliger Hand bildest, mit heiligem Mund
Redest, wird den erstaunten Sinn allmächtig bewegen,
Du nur merkst nicht den Gott, der dir im Busen gebeut,
Nicht des Siegels Gewalt, das alle Geister dir beuget,
Einfach gehst du und still durch die eroberte Welt.