Mittwoch, 22. August 2018

Über die Grenzen die Toleranz

Sie ist schon nicht mehr so ganz taufrisch, die letzte Ausgabe der 'Buddhismus Aktuell'. Trotzdem möchte ich mich hier, bevor die nächste Ausgabe erscheint, ein wenig mit dem dort veröffentlichten und meines Erachtens ausgesprochen lesenswerten Artikel des DBU-Ratsmitglieds Dr. Martin Ramstedt beschäftigen, der erfreulicherweise auch Online zur Verfügung steht. Eilige möchte ich bitten, zumindest die ersten beiden Absätze des Artikels zu lesen, da auch für mich das dort geschilderte Ereignis zum Anlass wurde, mich hier öffentlich zu äußern und ich daher darauf Bezug nehmen werde. Ein etwas anderer Blickwinkel als der Dr. Ramstedts sei mit der Wahl einer etwas anderen Überschrift bereits vorab angedeutet. Ich beziehe mich mit meinen Überlegungen allerdings nicht nur auf Dr. Martin Ramstedts Artikel und insbesondere den dort geschilderten Auftritt Dr. Kaltenbrunners auf der christlich-buddhistischen Dialog-Tagung in Hannover. Darüber hinaus beziehe ich mich auch auf andere Vorgänge um die DBU-Mitgliedsgemeinschaft BDD, die nach Erscheinen der letzten Nummer der BA Diskussionen nicht nur unter Buddhisten ausgelöst und zu einer erfreulich deutlichen Stellungnahme des Rates der DBU geführt haben.

Im Kern geht es nach meiner Auffassung bei diesen Diskussionen um die Gewaltfrage. Es mag überraschen, dass ausgerechnet im Zusammenhang mit einer buddhistischen Organisation wie der DBU diesbezüglich ein innerbuddhistischer Diskussionsbedarf besteht. Andererseits zeigen historische Beispiele etwa im japanischen oder tibetischen Buddhismus und auch aktuelle, wie etwa 969 und MaBaTha in Myanmar oder Bodu Bala Sena und Ravana Balakaya in Sri Lanka, dass auch buddhistische Organisationen immer wieder einen Klärungsbedarf in dieser Hinsicht haben. Es wäre ungerechtfertigte ethnozentrische Arroganz, einen solchen in Europa zu leugnen. Erfreulicherweise sind wir in Deutschland (noch) auf einem Level, wo es konkret um Rechte Rede geht. Aber was diese Diskussion so ernst macht, ist natürlich die Frage nach den karmischen Konsequenzen, die die kritisierten Aussagen auslösen können. Mir persönlich ist da der Verweis auf geschichtliche Erfahrungen gerade auch in Deutschland wichtig und darauf, dass uns der Vergleich oder Abgleich (was etwas Anderes ist als Gleichsetzung) mit historischen Erfahrungen dabei helfen kann, karmische Konsequenzen abzuschätzen und von daher die Heilsamkeit oder Unheilsamkeit solcher Aussagen zu beurteilen. Das wiederum ist das Kriterium dafür, ob wir es da mit Rechter Rede zu tun haben oder nicht.

Natürlich kann man nun fragen, was uns eigentlich die Rechte Rede Anderer angeht. Eine völlig berechtigte Frage und man sollte es auch durchaus ernst nehmen, wenn Fürsprecher Ole Nydahls dabei auf das Grundrecht freier Meinungsäußerung verweisen. Allerdings kann ich mich nicht immer des Eindrucks erwehren, dass da (ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt) ein Verwirrspiel mit dem Wechsel von Argumentationsebenen getrieben wird. Nicht jede zulässige freie Meinungsäußerung ist karmisch heilsam (also Rechte Rede) und nicht jede unrechte Rede ist strafbar. An einer Antwort auf die Frage, was das eigentlich uns angeht, möchte ich mich mittels eines Zitates von Helmut Gollwitzer versuchen. Gollwitzer spricht da von Verantwortung: "Verantwortung, das meint, dass ich mit meinen Ohren und mit meiner Seele einen Ruf höre, der an mich ganz persönlich ergeht, und dass ich ganz persönlich auf diesen Ruf antworte. [...] Und wir wissen, was aus dieser Verantwortung bei uns gewor­den, nein, gemacht worden ist." In dem Punkt "letzter persönlicher Verantwortung" liegt auch "der Punkt, an dem man widerstehen muss, wenn man nicht die Freiheit hoffnungslos preisgeben will". Und Gollwitzer spricht da auch eine Mahnung oder Warnung aus an die, die eben nicht "ganz persönlich auf diesen Ruf antworten" sondern auf Antworten Anderer vertrauen, die sich ihre persönliche Antwort vorweg nehmen lassen "durch eine andere freiwillig übernommene Autorität, oder sagen wir es in aller Deutlichkeit: in einer freiwillig übernommenen Knechtschaft".

Nun war Gollwitzer Theologe - Roshis, Lamas und Bhantes gab es zu dieser Zeit in Deutschland nicht. Aber das "und mit meiner Seele" in dem Zitat kann man ja schadlos beiseite lassen. Und auch den Begriff Freiheit sollte man gelegentlich für eine ganz andere Art Freiheit "hoffnungslos preisgeben" können, wie ich gerne einräume. Ich lese dieses Zitat aus der Perspektive eines Wegsuchers, der die Bodhisattva-Gelübde empfangen hat. Wenn man diese ernst nimmt, dann - so denke ich jedenfalls - ist dieser "Ruf", von dem Niemöller spricht, das 'Schreien der Welt' und das, was diesen aus Leiden geborenen Ruf ungehindert hört und mit karuṇā beantwortet, ist Avalokiteśvara. Das verweist auf die Übung, die durch Verblendung bedingte Hinderung des Hörens zu überwinden und dabei die pāramitās zu entwickeln. Alleine durch Hören entwickelt man die pāramitās nicht, sondern erst durch deren praktische Ausübung. In Gollwitzers Worten: durch das Übernehmen von letzter, persönlicher Verantwortung. Dann gehen uns auch solche Dinge wie die pauschale Diffamierung von Menschen anderer Religion, Ethnizität oder Hautfarbe etwas an. Erst recht deren mögliche Folgen.

Ganz besonders gilt diese Maxime der Übernahme von Verantwortung, wenn wir uns mit anderen Menschen verbinden, um als kleine Gemeinschaft in die große Gemeinschaft aller Wesen hinein heilsam zu wirken. Wenn wir also in dieser Absicht politisch handeln oder handeln wollen. Dabei die eigenen schwachen Kräfte mit denen Anderer zu verbinden und so zu bündeln, ist ein potentiell sehr mächtiges upāya und wie alle machtvollen upāya ein schwierig zu handhabendes. Ein solches upāya ist beispielsweise die DBU, die als gesellschafts- und religionspolitischer Akteur von Buddhisten in Deutschland konzipiert ist; die ihnen die Option eröffnet, mit solch einem upāya zu arbeiten. Wenn dies funktionieren soll, dann müssen die individuellen Handlungsimpulse, die gebündelt werden sollen, von gleicher oder zumindest hinreichend ähnlicher Intention getragen sein; von einem gleichen oder doch zumindest verwandten Verständnis von heilsamem Handeln mit Geist, Sprache und Körper. Aus genau diesem Grund muss man sich, wenn man denn eine handlungsfähige DBU will, die heilsame Wirkungen in die Gesellschaft hinein entfalten soll, der Frage stellen, mit welchen politischen Intentionen man sich selbst dort einbringt und mit welchen Intentionen dies Andere tun. Und man muss sich mittlerweile ganz konkret die Frage stellen, ob die Intentionen, die sich aus vielen Äußerungen Ole Nydahls in den letzten zwei Jahrzehnten erschließen lassen, solche sind, mit denen man die eigenen Intentionen verbinden will.

Dieser Prüfung darf man nicht ausweichen, wenn man eine handlungsfähige DBU will. Handlungsfähig kann die DBU nur sein, wenn die in ihr zusammengefassten Handlungsimpulse in eine gemeinsame Richtung weisen. Das bedeutet, es bedarf nicht zuletzt konkret einer Klärung, für welche Haltung gegenüber den in Deutschland lebenden Muslimen die DBU-Mitgliedsgemeinschaft BDD steht und für welche Haltung die DBU insgesamt stehen soll - und einer Antwort auf die Frage, ob diese Haltungen miteinander vereinbar sind. Das bedeutet, es muss geklärt werden, ob in der gesellschaftspolitischen Frage der Integration vor allem muslimischer Migranten (seien es nun legale Zuwanderer und deren Nachkommen, Asylsuchende oder Armutsflüchtlinge) ein Konsens innerhalb der DBU besteht, ob gegebenenfalls ein Dissenz für die DBU schadlos akzeptabel ist und schließlich, welche Konsequenzen aus solch einer Klärung zu ziehen sind.

Das wäre Herstellung von Handlungsfähigkeit nach innen - aber es geht natürlich auch um eine Handlungsfähigkeit nach außen und genau deshalb ist es keine Option, dieses Problem einfach auszuklammern. Eine Handlungsfähigkeit nach außen kann es nur geben, wenn die DBU als Gesprächspartner im gesellschafts- und religionspolitischen Diskurs nicht nur wahr-, sondern auch ernstgenommen wird. Und, möchte ich hinzufügen, wenn sie als seriös und respektabel wahrgenommen wird. Ein öffentlich-rechtlicher Körperschaftsstatus alleine ist dazu bei weitem nicht hinreichend. Man muss dazu in diesen Diskurs auch klare Vorstellungen einbringen können, die für die Dialogpartner zumindest grundsätzlich akzeptabel sind. Noch besser, wenn man mit diesen partiell zu gemeinsamen Vorstellungen gelangt, so Unterstützung für die eigenen Anliegen findet und auch sinnvolle Anliegen Anderer unterstützen kann. Dabei ist es unvermeidlich, dass man sich, notfalls auch gegen innere Widerstände, auf Grundsätze festlegt und festlegen lässt - etwa in der Integrations- und Ausländerpolitik. Solchen Zwecken dienen demokratische Prozeduren. Sie sind der Preis politischen Handelns. Wenn man politisch handeln will, dann muss man ihn zahlen.

Aber das wäre schon der zweite Schritt. Entscheidend für eine gesellschafts- und religionspolitische Handlungsfähigkeit ist vor allem das Bild, das die DBU der Gesellschaft insgesamt, also der Öffentlichkeit, von sich und vom Buddhadharma vermittelt. Das negative Echo, das Äußerungen Ole Nydahls insbesondere auf dem diesjährigen Sommerkurs in Immenstadt in der Presse und im Fernsehen des Bayerischen Rundfunks hervorgerufen haben, ist diesem Bild nach meinem Geschmack ausgesprochen abträglich. Dass dies - einschließlich staatsanwaltlicher Prüfung der Aussagen Ole Nydahls auf strafrechtliche Relevanz hin - nun ausgerechnet auch noch in dem Bundesland geschehen ist, in dem federführend der Antrag der DBU auf Verleihung des Körperschaftsstatus geprüft wird, ist auch nicht gerade hilfreich. Genau so wenig wie die Äußerungen Dr. Kaltenbrunners auf der eingangs erwähnten Veranstaltung, die so eher geeignet waren, den interreligösen Dialog der DBU mit den christlichen Kirchen zu sabotieren als ihn zu führen. Es wäre meines Erachtens eine Fehleinschätzung, würde man Dr. Kaltenbrunner Naivität unterstellen. Anders als bislang die DBU haben sich Katholische Bischofskonferenz und EKD sehr deutlich hinsichtlich der Frage des Islam in unserer Gesellschaft positioniert - um Bundesgenossen für eine militante Haltung gegenüber dem Islam wurde da wohl kaum geworben.

Sowohl hinsichtlich der Äußerungen Dr. Kaltenbrunners als auch der aktuell diskutierten von Ole Nydahl selbst (sowie etlicher früherer von ihm) ist eine gründliche und unvoreingenommene Prüfung, ob die Mitgliedschaft der von Ole Nydahl geführten Gemeinschaft in der DBU "das Ansehen oder die gemeinsamen Interessen der DBU schädigt" (§ 3 Nr. 8 der DBU-Satzung) eine meines Erachtens mehr als nur angemessene Reaktion. Aber man muss sich zunächst "in letzter persönlicher Verantwortung" die Frage beantworten: was sollten gemeinsame Interessen der DBU sein? Wobei in dieser Hinsicht scheinbar ja schon der eine oder andere Konsens gefunden wurde:
"Die DBU fördert die Rahmenbedingungen für die Bewahrung, Darlegung und Praxis der Lehre des Buddha auf der Grundlage des Bekenntnisses. Die DBU bildet einen Rahmen für Begegnung und Austausch zwischen den buddhistischen Traditionen. Die DBU fördert die Integration des Buddhismus in die Gesellschaft."
- so steht es in § 2 der Satzung, betitelt mit "Zweck und Ziele des Vereins". Und so steht es im Leitbild der DBU:
"Wir üben uns darin, auf der Grundlage der Lehre des Buddha und unseres „Buddhistischen Bekenntnisses“ zum Wohle aller fühlenden Wesen im Bewusstsein der Verbundenheit und Mitverantwortung des Einzelnen für die Gesamtheit zu leben und zu wirken. In Übereinstimmung mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Menschenrechtskonvention treten wir für die Umsetzung der Menschenrechte und Gerechtigkeit sowie für Gleichheit vor dem Gesetz - ungeachtet ethnischer oder sozialer Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Sprache, Religion, Nationalität oder sozialem Status ein."
Das in beiden Zitaten erwähnte "Buddhistische Bekenntnis" enthält unter anderem die für alle Mitglieder verbindliche Selbstverpflichtung, sich in den pañcasīla und den brahmavihāra zu üben:
"Ich übe mich darin, keine Lebewesen zu töten oder zu verletzen, Nichtgegebenes nicht zu nehmen, keine unheilsamen sexuellen Handlungen zu begehen, nicht unwahr oder unheilsam zu reden, mir nicht durch berauschende Mittel das Bewusstsein zu trüben.

Zu allen Lebewesen will ich unbegrenzte Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut entfalten, im Wissen um das Streben aller Lebewesen nach Glück."
Letzlich geht es in der causa Nydahl darum, wie ernst es der DBU mit diesen ihren selbstdefinierten "gemeinsamen Interessen" ist.

"Wenn dieses ist, wird jenes; wenn dieses entsteht, entsteht jenes; wenn dieses nicht ist, wird jenes nicht; wenn dieses aufhört, hört jenes auf." (SN II.12.2)

Mittwoch, 15. August 2018

Aus gegebenem Anlass

Vom 30.07. bis 12.08.2018 fand der diesjährige "International Summer Course" im Europe Center bei Immenstadt / Allgäu statt. Als Veranstalter firmierte die "Buddhistische Union Diamantweg e.V". Geboten wurden laut Programm "teachings", bei denen ein gewisser Herr Ole Nydahl, den seine Anhänger als 'Lama' titulieren, die zentrale Rolle spielte. An 10 von 14 Tagen bestritt er das Programm alleine; an zwei Tagen gemeinsam mit Jigme Rinpoche und an weiteren zwei Tagen gemeinsam mit Nedo Rinpoche.

Laut eines Artikels von Peter Januschke und Bastian Hörmann in der "Augsburger Allgemeine" vom 03.08.2018 äußerte sich Ole Nydahl am 31.07.2018 auf dieser Veranstaltung öffentlich wie folgt:
"Hätte ich Stalin oder Hitler getroffen, ich hätte sie erschossen."
"Andere hatten Hitler und Stalin, wir haben den Islam. Das ist alles dasselbe."
Die erste Äußerung traf er laut Januschke / Hörmann "kurz vor dem Vergleich von Hitler und Stalin mit dem Islam". Das könnte man - wenn beide Aussagen tatsächlich so im Kontext gefallen sind - meines Erachtens sogar als verdeckten Mordaufruf interpretieren. Insbesondere im Zusammenhang mit der Aufforderung Herrn Nydahls an seine Anhänger, sich mit dem Gebrauch von Schusswaffen vertraut zu machen. Zitat Peter Januschke / Bastian Hörmann im o.g. Artikel:
"Bei einem Vortrag hat der 77-Jährige nach Aussage seines früheren Anhängers Christoph Schultheiß auf die Frage, wie man sich gegen den Islam wappne, vor hunderten Zuhörern gesagt: Learn how to shoot (Lerne zu schießen)."
Für einen Satiriker böte sich da die Umtitulierung des 'Diamantweg e.V.' in 'Wehrsportgruppe Nydahl' an. Nach Recherchen der beiden Journalisten sind laut Auskunft von Martin Kennerknecht, Vorsitzender der 'Königlich Privilegierten Schützengemeinschaft 1593' in Immenstadt, unter den Mitgliedern seines Schießsportvereins auch mehrere im "Europe Center" verkehrende Buddhisten. Einige von ihnen haben eine Waffenbesitzkarte und können damit Waffen auch privat lagern. Ich will diese Art Freizeitvergnügen nicht werten, nur auf die Wirkung verweisen, die das im Zusammenhang mit den angeführten Zitaten auf die Öffentlichkeit hat.

Ein weiteres wörtliches Zitat von Ole Nydahl von dieser Veranstaltung:
"Der Islam ist die größte Bedrohung für unsere Zivilisation ..., das sind Menschen wie Bomben".
Wie verschiedene regionale Presseorgane, darunter die Allgäuer Zeitung und das Allgäuer Anzeigeblatt am 08.08.2018 berichten, hat die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft Kempten am 07.08.2018 mitgeteilt, die Behörde werde ein Verfahren zur strafrechtlichen Prüfung islamfeindlicher Äußerungen einleiten. Am selben Tag berichtet auch der Bayerische Rundfunk, die Staatsanwaltschaft Kempten habe Ermittlungen gegen Ole Nydahl eingeleitet.


And now for something completely different .... Bevor wir uns ein paar Fakten und Zahlen zuwenden, eine Videoempfehlung zur Abendunterhaltung speziell für DBU-Mitglieder:
https://www.youtube.com/watch?v=jrGmNXjjDNk

Es gibt weltweit schätzungsweise 1,8 Milliarden Muslime. Darüber, wie viele davon den militärisch / terroristischen Jihad praktizieren, sind mir keine halbwegs verläßlichen Schätzungen bekannt (ich vermute mal, Herrn Nydahl auch nicht). Aber eine kleine Überschlagsrechnung kann da eine Vorstellung der Größenordnung vermitteln: 1% dieser 1,8 Milliarden wären 18 Millionen Jihadisten. Da scheint mir dieses eine Prozent schon ein wenig zu hoch gegriffen. Aber reden wir stattdessen von Muslimen in Deutschland, da haben wir etwas besseres Zahlenmaterial. Preußische Bürokratie halt ...

Der Verfassungsschutzbericht 2017 beziffert das "Islamismuspotential" in Deutschland aufgrund ausreichend gesicherter Zahlen mit 25.810 Personen. Keine gesicherten Zahlen liegen dabei für das 'Islamische Zentrum Hamburg e.V.' sowie über IS, Al-Quaida und deren Ableger sowie al-Shabab und Hai’at Tahrir al-Sham vor. Diese "Dunkelziffer" dürfte jedoch deutlich unter 2.000 Personen liegen - Zitat: "In der Gesamtschau liegen den deutschen Sicherheitsbehörden zum Ende des Jahres 2017 Erkenntnisse zu mehr als 960 Personen vor, die seit Mitte des Jahres 2013 in Richtung Syrien und Irak gereist sind, um dort aufseiten des IS und anderer terroristischer Organisationen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder jene in sonstiger Art und Weise zu unterstützen."

Mit sehr großzügigem Aufrunden käme man damit zu einem "Islamismuspotential" von maximal 30.000 Personen in Deutschland. Das ist zumindest insofern beruhigend, als noch im Verfassungsschutzbericht 2012 das "islamistische Personenpotential" in Deutschland mit 42.550 Personen beziffert wurde - also keine steigende Tendenz feststellbar ist, sondern das genaue Gegenteil. Nun ist 'Islamismus' darüber hinaus nicht gleichbedeutend mit militantem 'Jihadismus' oder Terrorismus - z.B. die mit ca. 10.000 Mitgliedern größte der im Verfassungsschutzbericht genannten Gemeinschaften, die Millî Görüş-Bewegung und zugeordnete Vereinigungen, wird ausdrücklich als legalistisch eingestuft. D.h. sie verfolgt zwar Ziele, die als antidemokratisch eingeschätzt werden, bekennt sich aber ausdrücklich zu einer gewaltfreien und legalen politischen Interessenvertretung und verstößt bislang auch nicht gegen dieses Legalismusprinzip. Bei den meisten Landesämtern für Verfassungsschutz stehen sie seit etwa 2015 nicht mehr unter Beobachtung. Auch von den abzüglich dieser Legalisten verbleibenden 20.000 Personen sind wohl kaum alle als aktiv gewaltbereit einzustufen, wenn sie auch (in unterschiedlichen Graden) einer potentiellen "Unterstützerszene" zugerechnet werden können.

Dazu eine Anmerkung: grundsätzlich ist 'Islamismus' ein im westlichen Diskurs fast durchgehend undifferenziert und unreflektiert gebrauchter Begriff. Die Meisten assoziieren mit Islamismus ausschließlich das Banditentum von Gruppen wie IS (Daesh) oder Taliban. Das wird dem sehr vielschichtigen Begriff 'Islamismus' nicht gerecht. Gerade das Thema Islam und Demokratie sachgerecht zu diskutieren, ist schlicht nicht möglich, ohne mit dem wissenschaftlichen Diskurs über dieses Thema einigermaßen vertraut zu sein - was ich persönlich auch für mich nur sehr beschränkt in Anspruch nehmen möchte; meine Interessen liegen vorrangig auf anderen Gebieten. Dazu gehört selbstverständlich und vor allem auch Kenntnis des innerislamischen Diskurses, der im Westen weitgehend (jedenfalls von den populären Medien und selbsternannten 'Islamkritikern') ignoriert wird. Die Exponenten dieses Diskurses im Bereich islamischer politischer Theologie (und genau das ist Islamismus) sind offensichtlich denen, die sich gerade zu diesem Thema am lautstärksten äußern, nicht einmal dem Namen nach bekannt - jedenfalls wird da nach meinen Beobachtungen nicht auf sie verwiesen, wenn von Islamismus gesprochen wird. Um hier per namedropping nur einige der wichtigsten Vordenker zu nennen: der Marokkaner Mohammed Abed al-Jabri, der Tunesier Rachid al-Ghannouchi, der Ägypter Muhammad Ammara, die Sudanesen Hasan al-Turabi und Abdelwahab el-Affendi, der Türke İhsan Eliaçık, der Pakistani Fazlur Rahman. Nur ergänzend sei angemerkt, dass es seit etlichen Jahren auch ein Netzwerk intellektueller Muslimas gibt, die für einen islamischen Feminismus stehen und die sich für die "Schützeraktivitäten" des Herrn Nydahl bedanken würden, der sich insbesondere über die Rolle der Frauen im Islam gerne öffentlich Sorgen macht - etwa "wie die Frauen den Kitzler abgeschnitten bekommen und die anderen Sachen, die immer wieder geschehen im Namen des Islam und wir müssen hier unsere Frauen schützen." (Zitat aus diesem Blog)

Das heisst, es wird hierzulande in der Regel völlig ignoriert, was islamische Intellektuelle zu dem Thema zu sagen haben – man will es auch nicht wissen, es könnte ja die bequemen Vorurteile über "den Islam" stören. Wen's interessiert - zum Reinschnuppern:

https://www.perlentaucher.de/vorgeblaettert/leseprobe-zu-mohammed-abed-al-jabri-kritik-der-arabischen-vernunft-teil-1.html
https://www.jstor.org/stable/4283614?seq=1#page_scan_tab_contents
http://www.abdelwahab-el-affendi.net/index.html
http://en.qantara.de/content/interview-with-turkish-theologian-ihsan-eliacik-the-koran-and-social-justice
https://books.google.de/books/about/Islam_and_Modernity.html?id=FJcyIeHeeZwC&redir_esc=y&hl=de
https://www.budrich-journals.de/index.php/gender/article/download/18026/15701

Nicht, dass mir persönlich diese Leute den Islam oder gar den Islamismus als Religion bzw. Ideologie annehmbarer machen würden. Muss ja auch nicht sein - aber der Punkt ist doch, dass die islamisch geprägten Kulturen einen Anspruch darauf haben, ihre eigenen Antworten auf die Problemstellungen der modernen Welt zu finden und es nichts als postkoloniale Arroganz ist, ihnen vorschreiben zu wollen, nach welchen Werten sie ihr Leben gefälligst auszurichten hätten - nämlich nach unseren. Es geht nicht um unsere Werte, es geht vielmehr um die die Werte, über die islamische Gesellschaften selbst einen Konsens erzielen können. Europa kann für eine solche Konsensfindung nur Impulse liefern und tut natürlich auch genau dies - alleine schon in Form der "Herausforderung", der sich die islamische Welt spätestens seit dem Zerfall des osmanischen Reiches gegenüber sieht und auf die sie Antworten sucht. Wer nun wiederum als Migrant zu uns kommt, von dem darf man berechtigt 'compliance' erwarten. Das bedeutet jedoch nicht Anpassung und Aufgabe eigener kultureller Wurzeln, sondern schlicht Akzeptanz unserer säkularen staatlichen Ordnung, wenn schon nicht aktives Engagement dafür. Die wenigsten Migranten bzw. deren Nachkommen haben nach meinem Eindruck damit ein Problem. Doch dazu gleich. Jedenfalls - wenn man sich schon zum Thema öffentlich so prononciert wie ein Herr Nydahl äußert, sollte man wenigstens eine bescheidene Ahnung haben, wovon man überhaupt spricht.

Kommen wir auf "unsere" 20.000 Muslime zurück, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als potentielle Gefahr eingestuft werden. Wieviele Muslime insgesamt in Deutschland leben, ist schwierig zu beziffern, wie dieser Artikel in der ZEIT verdeutlicht. Frau Merkels 4 Millionen waren sicherlich zu niedrig angesetzt - nehmen wir der Einfachheit halber die dem Einen oder Anderen möglicherweise weniger fake-news-verdächtige Schätzung der AfD von 5 Millionen. Das macht ziemlich genau 6 % der Bevölkerung Deutschlands aus; zumindest für mich ist das weit entfernt davon, mir Angst vor einer "Islamisierung des Abendlandes" einzujagen. Vor allem, wenn man sich bewusst macht, dass die ca. 20.000 Islamisten, die den Verfassungsschützern Sorgen bereiten (was ja auch in Ordnung ist, das ist schließlich deren Job), gerade einmal 0,4 % der in Deutschland lebenden Muslime ausmachen - die anderen 99,6 % sind also laut Verfassungsschutz kein "Islamismuspotential" sondern überwiegend mehr oder weniger gut integriert (und entsprechend unauffällig), leben häufig schon in zweiter, dritter und vierter Generation in Deutschland, viele haben die deutsche Staatsbürgerschaft, zahlen in Renten- und Sozialkassen ein, leisten ihren Anteil am Bruttosozialprodukt usw. usf. .... Wenn man sich jetzt noch einmal bewusst macht, dass die 20.000 'Problemfälle' unter den Muslimen in Deutschland gerade einmal 0,24 Promille der Bevölkerung ausmachen, dann bleiben als plausible Erklärung für islamophobe Sprüche eigentlich nur pathologische Paranoia oder hetzerische Demagogie. Die Geistesgifte Verblendung und Hass.

Was zumindest mir in der Diskussion um Ole Nydahls Äußerungen deutlich wird, das ist, dass nicht die in Deutschland lebenden Muslime ein Problem für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung darstellen. Vielmehr wird deutlich, dass die psychosoziale Funktion des nach wie vor in Deutschland virulenten Antisemitismus (vor dem auch Muslime angesichts der jüngeren Geschichte Palästinas - Stichwort Naqba - nicht gefeit sind) zunehmend durch islamophobe Feindbilder erfüllt wird. Natürlich verbieten sich hier Gleichsetzungen – aber es gibt unübersehbare Parallelen. "Juden wie Muslime dienen als Sündenböcke für Wirtschafts- und Globalisierungsprobleme, und sie werden als innere Gefahr wahrgenommen" - so Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Wobei ein gewisser Herr Adorno schon 1955 diagnostizierte: "Nicht selten verwandelt sich der faschistische Nationalismus in einen gesamteuropäischen Chauvinismus [...]. Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch." So, wie im antisemitischen Milieu vor 1945 der "Ostjude" (gerne auch als "Kaftanjude" diffamiert) neben anderen Stereotypen (am deutlichsten sichtbar in den Karikaturen des 'Stürmer') als Prototyp des Juden schlechthin herhalten musste, so gilt heute Manchen "der Salafist" wenn nicht gleich "der Taliban", der islamistische Terrorist, als Prototyp des Muslims schlechthin. Was dieser Prämisse widerspricht, kann – nein, muss - hingegen nur arglistige Tarnung sein. Das zeigt, dass Antisemitismus wie Islamophobie (und btw. auch der Hass auf Migranten) wenig mit der Realität, jedoch um so mehr mit Realitätsflucht zu tun haben. Da werden aus den unterschiedlichsten Quellen stammende Existenzängste schlicht auf eine Gruppe projiziert, die aufgrund eines sozialen Merkmals (Religion, ethnische Herkunft etc.) ausgrenzbar ist. Hier liegt dann auch das eigentliche Problem, das unsere Demokratie mit dem Islam hat - es ist die Angst vor ihm und deren Instrumentalisierung. Islamophobie ist im Gegensatz zum Antisemitismus weitgehend gesellschaftsfähig und genau das ist es, was wirklich in den letzten Jahren zu einem stetig wachsenden Problem geworden ist und unsere "westlichen Werte" konterkariert und bedroht. Von buddhistischen Werten wie rechter Rede und den brahmavihara ganz zu schweigen.

Zur Ergänzung dazu eine tiefenpsychologische Deutung des bereits genannten Herrn Adorno, die ich für durchaus hilfreich für ein tieferes Verständnis dieses Phänomens halte:
"Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr. [...] In der Paranoia treibt dieser Haß [sic] zur Kastrationslust als allgemeinem Zerstörungsdrang. Der Erkrankte regrediert auf die archaische Ungeschiedenheit von Liebe und Überwältigung. Ihm kommt es auf physische Nähe, Beschlagnahmen, schließlich auf die Beziehung um jeden Preis an. Da er die Begierde sich nicht zugestehen darf, rückt er dem anderen als Eifersüchtiger auf den Leib, wie dem Tier der verdrängende Sodomit als Jäger oder Antreiber. Die Anziehung stammt aus allzu gründlicher Bindung oder stellt sich her auf den ersten Blick, sie kann von den Großen ausgehen wie beim Querulanten und Präsidentenmörder oder von den Ärmsten wie beim echten Pogrom. Die Objekte der Fixierung sind substituierbar wie die Vaterfiguren in der Kindheit; wohin es trifft, trifft es; noch der Beziehungswahn greift beziehungslos um sich. Die pathische Projektion ist eine verzweifelte Veranstaltung des Ichs, dessen Reizschutz Freud zufolge nach innen unendlich viel schwächer als nach außen ist: unter dem Druck der gestauten homosexuellen Aggression vergißt der seeliche [sic] Mechanismus seine phylogenetisch späteste Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung, und erfährt jene Aggression als den Feind in der Welt, um ihr besser gewachsen zu sein."
(Horkheimer / Adorno, Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung. in: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1955)

Eine weitere, etwas lesbarere Lektüreempfehlung zu diesem Thema: der vom Deutschen Institut für Menschenrechte herausgegebene Essay 'Das Islambild in Deutschland - Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam'. Daraus hier abschließend zwei weitere Zitate:

"Im Umgang mit Minderheiten, in diesem Fall muslimischen Minderheiten, zeigt sich immer zugleich das Selbstverständnis einer Gesellschaft im Ganzen. Nicht zuletzt steht auch das Verständnis von Aufklärung mit auf dem Spiel: Es geht näherhin darum, eine an den Menschenrechten orientierte freiheitliche Diskussionskultur von solchen Konzepten abzuheben, in denen sich der Anspruch der Aufklärung zu einem Topos kulturkämpferischer Polarisierung und Ausgrenzung verhärtet."

[...]

"Es ist weder hilfreich noch angemessen, die Äußerung von Skepsis, Kritik oder auch Angst gegenüber dem Islam pauschal ins Unrecht zu setzen. Vielmehr geht es darum, mit den weithin existierenden Vorbehalten und Befürchtungen sorgfältig umzugehen, sie auf ihren möglichen Sachgehalt hin kritisch zu prüfen, stereotype Darstellungen und Erklärungen zu überwinden und Diffamierungen klar entgegenzutreten. Die für eine liberale, aufgeklärte Diskussionskultur entscheidende Trennlinie verläuft deshalb nicht zwischen freundlichen und weniger freundlichen Darstellungen des Islams und seiner Angehörigen, sondern zwischen Genauigkeit und Klischee. Hinter dem Postulat der Genauigkeit steht letztlich das Gebot der Fairness, das die Grundlage einer aufgeklärten Diskussionskultur bildet."


In diesem Sinne ...