Dienstag, 19. Oktober 2010

Wie man sich ins eigene Fleisch schneidet

... ohne es zu merken.

Eine Sache, die mich in Bezug auf den Buddhadharma immer wieder beschäftigt, ist seine Inkulturation im Westen. Nicht ganz unerheblich dabei ist der Aspekt,  welche institutionellen Bedingungen geeignet wären, die Übermittlung des Buddhadharma im Westen zu fördern.


Voraussetzung für deren Schaffung ist natürlich ein offener Diskurs, der nicht nur die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen im Westen - bzw. grundsätzlich die einer globalisierten, sich zunehmend vereinheitlichenden Welt - in Betracht zieht, sondern der auch die Formen und Institutionen traditioneller Vermittlung des Buddhadharma auf den Prüfstand der Kritik stellt. Gerade hier sehe ich noch große Defizite. Diese sind leicht erklärlich, galt es doch in der Vergangenheit hauptsächlich, dem Anspruch des Christentums und seiner Vertreter auf nicht nur religiöse sondern auch kulturelle und moralische Überlegenheit apologetisch zu begegnen. Trotzdem müssen westliche Buddhisten sich einer solchen Auseinandersetzung stellen, wenn der Buddhadharma im Westen gedeihen soll. Dies wird und kann er nämlich nur, wenn er sich von den erwähnten Formen und Institutionen emanzipiert - wenn er nicht nur wächst, sondern auch erwachsen wird. Nach meiner Einschätzung ist der Prozess, den naiv-schwärmerischen Blick auf den asiatischen Buddhismus durch eine kritische Sicht (selbstverständlich aus buddhistischer Perspektive) zu ersetzen, noch in seinem Anfangsstadium und er stößt unter westlichen Buddhisten auf viel Skepsis wenn nicht gar Unverständnis. Doch dieser Prozess ist notwendig, wenn der Buddhadharma in einer modernen, durch die westliche Aufklärung geprägten Gesellschaft kein Fremdkörper mit vorhersehbarem Verfallsdatum sein soll - und vor allem ist er notwendig, wenn er im Wettstreit der Ideologien und Weltanschauungen nicht nur bestehen, sondern auch gesellschaftliche und politische Wirksamkeit entfalten soll.

Ich rede dabei keiner bedingungs- und besinnungslosen Modernisierung, keinem Bildersturm das Wort, sondern vielmehr einer kritischen Überprüfung im Sinne des Kalamer-Sutta: erkennen, was heilsam und untadelig ist, von Verständigen gepriesen wird (man soll die Stimmen wägen und nicht zählen, wie es Friedrich Schiller formulierte) und, wenn ausgeführt und unternommen, zu Segen und Wohl führt. Dies soll man sich zu eigen machen. Nach eben diesen Kriterien gilt es, Form und Gestalt der überlieferten Traditionen zu prüfen und ihre Zweckmäßigkeit unter den Bedingungen einer modernen westlichen Kultur zu beurteilen. Dabei sollte man selbstverständlich differenzieren, denn Vieles hat sich in seiner didaktischen Funktion bewährt, wenn auch vor einem anderem kulturellen Hintergrund. Man sollte dabei nicht in das Extrem verfallen, die importierte Tradition gänzlich zu entwurzeln. Ein verpflanzter Schößling ohne Wurzeln wird kaum gedeihen, sondern unweigerlich eingehen.Was jedoch auf Dauer ebenfalls nicht gedeihen wird, das sind bloße Filialen asiatischer religiöser Organisationen, die ohne Anpassung ihrer Strukturen letzlich Fremdkörper in unserer Kultur bleiben müssen.

Gerade in Hinsicht auf die Institutionen, in denen sich die vierfache Gemeinschaft aus Laien und Ordinierten beiderlei Geschlechts organisiert, kann der Blick auf andere, bereits etablierte religiöse Gemeinschaften - namentlich die christlichen Kirchen - durchaus hilfreich sein. Weniger im Hinblick darauf, wie dort eine ökonomische Basis zum einen Studium und Lehre auf hohem Niveau und zum anderen eine breite Wirksamkeit in die Gesellschaft hinein - und damit auch politischen Einfluss - gewährleistet. Die historischen Voraussetzungen, unter denen diese Basis entstand, sind (glücklicherweise, muss man im Hinblick auf Gedanken- und Religionsfreiheit sagen) nicht reproduzierbar. Eher gilt dies im Hinblick auf die Aufgabenteilung zwischen Klerikern und Laien, nicht zuletzt die Verfasstheit der Laien in Diözesanräten (katholische Kirche) und Synoden (evangelische Kirchen).  Die so oft wegen ihrer hierarchischen Struktur gescholtenen christlichen Kirchen sind, was Mitwirkungs- und Mitspracherechte der Laien angeht, vielen buddhistischen Gemeinschaften weit voraus.

Welche Ansätze auch immer man verfolgen will - Voraussetzung jeglicher eigenständigen Entwicklung ist zunächst die Vernetzung der unterschiedlichen buddhistischen Gemeinschaften und die Bündelung von Aktivitäten, ihre Zusammenfassung zu einem größeren Ganzen. Es kann dabei nicht nur um eine rein quantitative Summation gehen; Ziel muss selbstverständlich sein, durch diese Zusammenfassung auch qualitativ neue Perspektiven für ein spürbares Wirken, für einen Beitrag buddhistischer Gemeinschaften zu unserer Kultur und Gesellschaft zu eröffnen.

Eben dies hat sich die Deutsche Buddhistische Union (DBU) zur Aufgabe gemacht. Ob allerdings die von ihr seit einigen Jahren wieder verstärkt verfolgte Absicht, eine staatliche Anerkennung der DBU als Körperschaft des öffentlichen Rechts durchzusetzen, dabei eine richtige und begrüßenswerte Strategie ist, kann nach meiner Auffassung durchaus bezweifelt werden. Bei allen Vorteilen, die dieser Status zweifellos bietet. Da orientiert man sich nach meinem Empfinden doch zu sehr an den christlichen Kirchen und deren öffentlich-rechtlichem Status als (spezifisch deutsches) Relikt vergangener Staatskirchenherrlichkeit. Die Bedenken sind zunächst grundsätzlicher Natur: eine als Verein verfasste Gemeinschaft (wie es die DBU derzeit noch ist) beruht auf privatrechtlicher Autonomie; sie ist im eigentlichen Sinn des Wortes Privatsache ihrer Mitglieder. Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts beruht hingegen auf einem staats- und verwaltungsrechtlichen Hoheitsakt. Dieser Status wird von staatlicher Seite verliehen; die Körperschaft ist rechtlich nicht autonom. Sie ist trotz staatlich garantiertem kirchlichem Selbstbestimmungsrecht Träger hoheitlicher Funktionen und nimmt eine öffentliche Aufgabe wahr; ist dafür privilegierter Teil des Systems. Was dies für 'Kirchen' (auch für buddhistische) konkret bedeuten kann und immer wieder bedeutet hat, lehrt uns die historische Erfahrung zur Genüge.

Ich persönlich halte die Trennung von Staat und Kirche für eine der wichtigsten Errungenschaften der Aufklärung und damit der modernen westlichen Kultur - und ich halte es für einen historischen Unglücksfall, dass diese Trennung in Deutschland nur halbherzig und unzureichend vollzogen wurde; dass in Deutschland zwar keine Staatskirche mehr, aber immer noch ein Staatskirchenrecht existiert. So schreibt der emeritierte Rechts- und Religionssoziologe Prof. Dr. Johannes Neumann sehr treffend: "Körperschaftscharakter, Besteuerungsrecht und der Religionsunterricht der traditionellen Kirchen als ordentliches Lehrfach ließen die Interpretation zu, die Kirchen mit dem Charakter einer Körperschaft des öffentlichen Rechts würden von Verfassungs wegen gegenüber anderen Religionsgesellschaften bevorzugt. Das führte dazu, dass sie tatsächlich eine alle anderen religiös-weltanschaulichen Gruppen überragende rechtliche Position erhielten. Dabei wurden die verfassungsmäßigen Rechte der kleineren Religions- und Weltanschauungsgesellschaften nicht selten gravierend verletzt, obwohl es in der Verfassung keinen einzigen Anhalt dafür gibt, dass die Kirchen irgendwie zu bevorzugen wären. Die kirchenpolitischen Realitäten verwandelten den theoretisch gepriesenen Grundsatz der Parität tatsächlich in Disparität."

De facto privilegiert dieses Staatskirchenrecht speziell die 'alteingesessenen' christlichen Kirchen mit der Absicht, ihren Besitzstand zu sichern. Dass andere religiöse Gemeinschaften als die etablierten christlichen Kirchen bei Erfüllung der durchaus hoch angesetzten Voraussetzungen den gleichen Status erhalten können, ist nichts als ein juristisches (und verfassungsrechtlich notwendiges) Feigenblatt. Eine Gemeinschaft wie die DBU (sollte sie denn eine Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft erlangen) kann und wird bei weitem nicht den Nutzen aus diesem Status ziehen wie die christlichen Kirchen. Und wird es hoffentlich auch nicht wollen. Die DBU wirkt jedoch mit ihren Bestrebungen um Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Konsequenz vor allem an der Legitimation von Rechtsprivilegien mit, deren Abschaffung längst überfällig ist - und die nicht zuletzt gerade Mitglieder der DBU (vor allem solche, die in sozialen Berufen und im Gesundheitsbereich tätig sind) benachteiligen.

Meiner persönlichen Auffassung nach ist es nur logisch und konsequent, sich als Angehöriger einer nicht-privilegierten Religionsgemeinschaft oder als Nicht-Religiöser für die Abschaffung dieser Relikte aus der Zeit der Staatskirchen einzusetzen, also für eine konsequente Trennung von Staat und Kirche anstatt für eine im Umfang vergleichsweise ohnehin eher kümmerliche und mehr nominelle Teilhabe an solchen Privilegien. Von welchen Privilegien ist hier konkret die Rede? Vor allem wäre hier das Privileg der Dienstherrenfähigkeit zu nennen, das den als Körperschaft anerkannten Kirchen das Recht einräumt, nach eigenem Gusto Dienstverhältnisse zu begründen, die weder dem privaten Arbeitsrecht noch dem staatlichen Beamtenrecht unterliegen. Spürbar wird dies vor allem bei Krankenhäusern, Kindergärten und anderen sozialen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft. Bei ihnen handelt es sich um sog. Tendenzbetriebe, in denen die Diskriminierung von Menschen auf Grund ihrer Religion gesetzlich ausdrücklich erlaubt ist. Das steht natürlich im Widerspruch zum Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes (das freilich gesetzlich eingeschränkt werden darf und auch wird) und nicht zuletzt auch im Widerspruch zum EU-Recht - konkret diversen Antidiskriminierungsrichtlinien (vgl. hier, hier, hier und hier), bei deren Umsetzung unsere Regierung regelmäßig die vom Europaparlament gesetzten Fristen verstreichen ließ und sich damit diverse Vertragsverletzungsverfahren und Verurteilungen vor dem Europäischen Gerichtshof eingehandelt hat (EuGH Az. C-329/04  und C-43/05). Man kann unschwer erraten, welche Lobby da regelmäßig den Bremser gespielt hat.

Es hat bis zum August 2006 gedauert, bis die einschlägigen EU-Richtlinien verspätet mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) umgesetzt wurden. Und in diesem Gesetz gibt es - wen überrascht es - natürlich eine Ausnahmeregelung, die sog. Kirchenklausel in § 9 (Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung). Religiöse Diskriminierung ist nach deutschem Recht erlaubt, weil "eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften" "zulässig" ist, "wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft" "im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht" "eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt." Vereinfacht gesagt: wenn nach dem Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft in ihren Betrieben nur Angehörige der eigenen Religion arbeiten sollten, dann ist das eine gerechtfertigte berufliche Anforderung. Dann genügt es zur Erfüllung der Anforderung für eine bestimmte Stelle eben nicht, Erzieherin oder Sozialarbeiter zu sein, sondern man muss evangelische Erzieherin oder katholischer Sozialarbeiter sein.

So heisst es beispielsweise in der Präambel des Kirchengesetzes über die Mitarbeitervertretungen der EKD: "Kirchlicher Dienst ist durch den Auftrag bestimmt, das Evangelium in Wort und Tat zu verkündigen. Alle Männer und Frauen, die beruflich in Kirche und Diakonie tätig sind, wirken als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Erfüllung dieses Auftrages mit. Die gemeinsame Verantwortung für den Dienst der Kirche und ihrer Diakonie verbindet Dienststellenleitungen und Mitarbeiter wie Mitarbeiterinnen zu einer Dienstgemeinschaft und verpflichtet sie zu vertrauensvoller Zusammenarbeit." - und verdeutlichend stellt die EKD klar: "Damit ist grundsätzlich jeder Dienst in Kirche und Diakonie von der kirchlichen Aufgabenstellung her geprägt." - und wer es immer noch nicht so recht verstehen will: "Im Grundsatz darf in den kirchlichen Dienst nur eingestellt werden, wer Mitglied einer Gliedkirche der EKD ist. Davon gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel können muslimische Küchen- und Raumpflegekräfte in Kindergärten eingestellt werden."

Also, Putze ist o.k. - als Ausnahme(!) mit entsprechender kirchenaufsichtlicher Genehmigung. Als Erzieherin ist eine Muslima (oder Buddhistin) hingegen grundsätzlich nicht tragbar. Übrigens - von den arbeitsrechtlichen Privilegien einmal abgesehen -  können Eltern auch kein Recht auf Aufnahme ihres Kindes in einen kirchlichen Kindergarten geltend machen. Über die Aufnahme entscheidet der kirchliche Träger in eigener Verantwortung - Rechtsanspruch auf Kindergarten hin oder her. Wenn man nun sich noch klar macht, dass in Deutschland zwei Drittel(!) der Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft sind, dann wird schon deutlich, mit welchen Problemen nicht-christliche Eltern insbesondere auf dem Land konfrontiert sind. Da gibt es in der Regel nur den kirchlichen Kindergarten; oft nur einen für mehrere Dörfer. Falls nun jemand meinen sollte, Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft würden ja von den Kirchen (womöglich über die Kirchensteuer) finanziert und daher seien solche Privilegien zumindest verständlich wenn nicht gar gerechtfertigt, so irrt sich der. Die kirchlichen Tendenzbetriebe finanzieren sich genau wie alle anderen Krankenhäuser, Altenheime, Kindergärten usw. durch ihre Einnahmen und durch Zuschüsse der öffentlichen Hand. Also durch Steuergelder, die jeder Steuerzahler, gleich ob Christ, Muslim, Buddhist oder Atheist aufzubringen hat. Auch wenn er dort ggf. trotz fachlicher Qualifikation wegen mangelnder religiöser Qualifikation nicht arbeiten darf. Was wiederum nun auch kein ganz ungetrübtes Vergnügen ist, denn in kirchlichen Tendenzbetrieben gilt ja auch kein Betriebsverfassungsgesetz und kein Personalvertretungsgesetz - allenfalls ein von den Kirchen selbstgebasteltes Kirchenarbeitsrecht. Und wer da am längeren Hebel sitzt, dürfte klar sein; das ist, als wenn der Arbeitgeberverband das Betriebsverfassungsgesetz beraten und verabschiedet hätte und nicht der Bundestag. Ansonsten werden kirchliche Tendenzbetriebe schon längst wie ganz normale Unternehmen geführt - nämlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Und gerade die arbeitsrechtlichen Privilegien dieser Betriebe sind Gesichtspunkte von nicht unerheblicher wirtschaftlicher Bedeutung.

Dass da nun manche Leute der Ansicht sind, die Antidiskriminierungsrichtlinien der EU seien in Deutschland mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)  von 2006 eben nicht ausreichend umgesetzt, darf da nicht verwundern. Solche Zustände werden auch nicht abgeschafft, wenn sich Verbände nichtchristlicher Religionsangehöriger wie beispielsweise die DBU um einen rechtlich gleichen Status wie die Kirchen bemühen - selbst wenn es dann auf einmal Tendenzbetriebe gäbe, die nun nur noch Buddhisten beschäftigen wollen, was wohl kaum der Fall sein wird. Im Gegenteil - damit demonstriert die DBU lediglich, dass sie religiöse Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt akzeptiert und gut heisst. Dass ihr "Augenhöhe" mit solchen Organisationen wichtiger ist als die Beseitigung legaler Diskriminierung aufgrund des religiösen Bekenntnisses.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Abschied vom Sommer

Nördlich des Höhenzuges zwischen Ellerspring und Opel, den höchsten Erhebungen des 'Großen Soon', liegt inmitten des jetzt seine Herbstfärbung annehmenden Waldes eine eigenartige, fast ebene Parklandschaft - die Glashütter Wiese.



Geologisch gesehen handelt es sich um eine Mulde zwischen den nördlichen und mittleren aus Taunusquarzit bestehenden Höhenzügen des Soonwaldes im Südosten des Hunsrücks. In den Eiszeiten wurde diese Mulde mit steinigen und schlammigen Verwitterungsmassen aufgefüllt, hinzu kam angewehter Löß. Das Wasser verschiedener Quellen und des Gräfenbachs sorgt für stetige Feuchte des moorigen Bodens aus Tonschiefer und Staublehm.

Ursprünglich standen hier wohl Buchen und am Lauf des Gräfenbachs Erlen und Birkenbrüche. Um 1700 legten die Herzöge von Simmern hier einen Tiergarten an; 1707 folgte eine Glashütte, die das örtlich vorhandene Holz als Rohstoff für Pottasche und zum Betrieb des Glasofens nutzte. Für Tiergarten und Glashütte wurden etwa 1.000 Morgen Wald gerodet. Schon 1720 wurde die Produktion wieder eingestellt. Aus den gerodeten Flächen wurden Wiesen und Viehweiden, bis der Staat 1899 die letzten Waldbauern vertrieb.

Heute sind noch etwa 300 Morgen dieser naturnahen Kulturlandschaft übrig, sie gehören dem Land. Goldhafer-Bergwiesen an trockeneren Standorten wechseln sich mit Sumpfdotterblumen-Wiesen und Waldbinsen-Sümpfen ab. Hier weidet vor allem das Rotwild. Auf den noch von einem Bioland-Betrieb als Viehweide genutzten Flächen sind hingegen Weidelgras-Weißklee-Weiden und Binsen-Pfeifengraswiesen entstanden. Die Wiesen sind mit alten Eichen, Buchen und Roßkastanien durchsetzt, an den feuchteren Stellen finden sich Gehölze mit Eschen, Schwarzerlen und Birken. Umrahmt wird die Wiese  von Buchen-Eichen-Mischwäldern und Birkenbrüchen, die derzeit ihre schönste Färbung haben - grüngesprenkeltes Gold. Im Süden stehen dunkle Fichten.

Im Frühjahr und Sommer blüht hier die Arnika - neben vielen anderen Wiesenblumen. Doch am liebsten bin ich jetzt, in dieser Jahreszeit dort, wenn der Sommer mit der Herbstzeitlose Abschied nimmt.


Herbstzeitlosen

Für uns, denen der Pfosten der Tür verbrannt ist,
an dem die Jahre der Kindheit
Zentimeter für Zentimeter
eingetragen waren.

Die wir keinen Baum
in unseren Garten pflanzten,
um den Stuhl
in seinen wachsenden Schatten zu stellen.

Die wir am Hügel niedersetzen
als seien wir zu Hirten bestellt
der Wolkenschafe, die auf der blauen
Weide über den Ulmen dahinziehn.

Für uns, die stets unterwegs sind
- lebenslängliche Reise,
wie zwischen Planeten -
nach einem neuen Beginn.

Für uns
stehen die Herbstzeitlosen auf
in den braunen Wiesen des Sommers,
und der Wald füllt sich
mit Brombeeren und Hagebutten -

Damit wir in den Spiegel sehen
und es lernen
unser Gesicht zu lesen,
in dem die Ankunft
sich langsam entblößt.


Für Hilde Domin und manche ihrer Leser mag dies ein Gedicht sein, das Heimatverlust thematisiert. Ein 'Exilgedicht'. Für mich beschreibt es nur das Wandern auf dem Weg - und dieser Weg führt nicht ins Exil und auch nicht heraus. Es ist nur ein Weg - und einen Weg zu gehen heisst, Dinge los- und hinter sich zu lassen.

Nur der Weg und die Bäume und Blumen am Rande. Und die Wiesen, in denen die Herbstzeitlose blüht - noch sind sie nicht braun ...