Mittwoch, 6. Juli 2011

Können wir Ihre Leber haben?

Die Gesundheitsministerkonferenz ist vorüber - und der Vorstoß von Hessens Sozialminister Stefan Grüttner (CDU)  und seinen Kollegen Markus Söder (Bayern, CSU) und Norbert Bischoff (Sachsen-Anhalt, SPD) für eine  'erweiterte Widerspruchslösung' bei der Organspende ist gescheitert. Vorerst. 'Erweiterte Widerspruchslösung' hätte nichts anderes bedeutet als ein Freibrief, künftig nicht nur jenen Sterbenden, die einen Spenderausweis unterschrieben haben, Organe zu entnehmen (warum ich hier von "Sterbenden" und nicht von "Toten" spreche, dazu später)  - sondern Jedem, der dem nicht ausdrücklich widerspricht.
Achtung! Nichts für schwache Nerven ... Ein seriöserer Beitrag zum Thema findet sich hier.

Man hat sich stattdessen auf eine so genannte "Erklärungslösung" verständigt, wonach die Bürger in einem geregelten Verfahren über Organspende informiert und zu einer persönlichen Erklärung augefordert werden sollen, ob sie einer Organspende zustimmen, nicht zustimmen oder sich nicht erklären möchten. Eine unterbliebene Erklärung überlässt die Entscheidung über eine Organentnahme bei potentiellen Organspendern dann den Angehörigen - was der schon heute geübten Praxis entspricht. Eine Neufassung des Transplantationsgesetzes ist (so jedenfalls Frank-Walter Steinmeier, SPD-Fraktionschef im Bundestag) noch dieses Jahr zu erwarten.

Natürlich wurde im Vorfeld der Konferenz wieder einmal heftig für die Widerspruchslösung agitiert - ein seit den Diskussionen um das Transplantationsgesetz von 1997 (das die sog. "erweiterte Zustimmungsregelung" einführte) mit schöner Regelmäßigkeit zu beobachtender Vorgang. So ist auch kaum zu erwarten, dass der parteienübergreifende Vorstoß Grüttner/Söder/Bischoff der letzte in dieser Richtung bleiben wird. Grund genug für mich, hier nochmals einige Überlegungen aufzugreifen, die ich bereits im Jahr 2004 in die Stellungnahme der DBU-Arbeitsgruppe 'Organspende' zu eben jenem Thema eingebracht hatte.

Wenn man das Problem analysiert, sieht man recht schnell, dass auch die Befürworter einer Widerspruchslösung genau das tun, was sie häufig ihren Gegnern vorwerfen: sie argumentieren auf der Basis einer bestimmten, weltanschaulich-religiös geprägten Sicht des Menschen. Auf dieser Basis - konkret in der abendländischen Kultur - wird der Tod zumeist unreflektiert als ein Ereignis verstanden, das zu einem genau definierbaren Zeitpunkt eintritt. Dieses Verständnis wurzelt in der Auffassung von der Doppelnatur des Menschen als einem vergänglichen Körper mit einer ewigen, unzerstörbaren Seele, wobei der Tod die 'Loslösung' der Seele vom Körper ist. Man war und ist noch heute in der Regel der Auffassung, diese Trennung (wenn auch nicht der konkrete Moment, in dem sie stattfindet) sei eindeutig anhand körperlicher Merkmale feststellbar.

Als typisch für diese Auffassung soll hier folgendes Zitat stehen:
"Im Bereich der christlichen Anthropologie ist es wohlbekannt, daß der Augenblick des Todes für jede Person im endgültigen Verlust der konstitutiven Einheit zwischen Leib und Seele besteht. Jeder Mensch ist nämlich insofern lebendig, als er oder sie »corpore et anima unus« ist (Gaudium et spes, 14), und er oder sie bleiben es, solange diese substantielle Einheit in der Ganzheit besteht. Im Licht dieser anthropologischen Wahrheit wird deutlich, daß, wie ich bei früheren Gelegenheiten bereits betont habe, »der Tod des Menschen, in diesem radikalen Sinn, ein Ereignis ist, das durch keine wissenschaftliche Technik oder empirische Methode direkt identifiziert werden kann« (vgl. Ansprache vom 29. August 2000; in O.R. dt., Nr. 37, 15.9.2000, S. 7,4). Aus klinischer Sicht jedoch ist es der einzig korrekte – und auch der einzig mögliche Weg –, den Tod eines Menschen festzustellen, die Aufmerksamkeit und Forschung auf die Identifizierung jener angemessenen »Zeichen des Todes« zu konzentrieren, die an ihren physischen Symptomen im Individuum zu erkennen sind."
( Johannes Paul II., Botschaft an die päpstliche Akademie der Wissenschaften, 01. Februar 2005, Libreria Editrice Vaticana)
Traditionell wurde der Herzstillstand und das Einstellen der Atmung als Merkmal des Todeseintritts angesehen. Seit Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es jedoch verstärkt Bemühungen, neue Kriterien für den Eintritt des Todes einzuführen. Bahnbrechend war hier der Vorstoß einer Kommission der Harvard Medical School im Jahre 1968:
"Unser primäres Anliegen ist, das irreversible Koma (= Coma dépassé) als neues Todeskriterium zu definieren. Es gibt zwei Gründe für den Bedarf an einer neuen Definition:
1 . Der medizinische Fortschritt auf den Gebieten der Wiederbelebung und der Unterstützung lebenserhaltender Funktionen hat zu verstärkten Bemühungen geführt, das Leben auch schwerstverletzter Menschen zu retten. Manchmal haben diese Bemühungen nur teilweisen Erfolg: Das Ergebnis sind dann Individuen, deren Herz fortfährt zu schlagen, während ihr Gehirn irreversibel zerstört ist. Eine schwere Last ruht auf den Patienten, die den permanenten Verlust ihres Intellekts erleiden, auf ihren Familien, auf den Krankenhäusern und auf solchen Patienten, die auf von diesen komatösen Patienten belegte Krankenhausbetten angewiesen sind.
2. Überholte Kriterien für die Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung von Organen zur Transplantation führen."
(Beecher et al.: A definition of irreversible coma. Report of the ad hoc committee of the Harvard Medical School to examine the definition of brain death. Journal of the American Medical Association 1968; 205: 337-340, hier übersetzt)
Noch im selben Jahr wandte sich der Philosoph Hans Jonas in einer vernichtenden Kritik gegen diesen Vorschlag und die daraus ableitbaren Konsequenzen:
"Solange es sich nur darum handelt, wann es erlaubt sein soll, die künstliche Verlängerung gewisser Funktionen (wie Herzschlag), welche traditionell als Lebenszeichen gelten, einzustellen - und das ist eine der beiden erklärten Anliegen, denen die Kommission dienen wollte - , sehe ich nichts Ominöses in dem Begriff des „Gehirntodes“. In der Tat, es bedarf keiner neuen Definition des Todes, um in diesem Punkt dasselbe praktische Ergebnis wie diese zu legitimieren - wenn man sich z.B. den Standpunkt der katholischen Kirche zu eigen macht [...]: „Wenn tiefe Bewusstlosigkeit für permanent befunden wird, dann sind außerordentliche Mittel zur Weitererhaltung des Lebens nicht obligatorisch. Man darf sie einstellen und dem Patienten erlauben, zu sterben.“ Das heißt: Beim Vorliegen eines klar definierten negativen Gehirnzustands darf der Arzt dem Patienten erlauben, seinen eigenen Tod gemäß jeder Definition zu sterben, der von selbst das Spektrum aller nur möglichen Definitionen durchlaufen wird. Aber ein beunruhigend entgegengesetzter Zweck verbindet sich mit diesem in der Suche nach einer neuen Definition des Todes - d.h. in dem Ziel, den Zeitpunkt der Toterklärung vorzuverlegen: die Erlaubnis nicht nur, die Lungenmaschine abzustellen, sondern nach Wahl auch umgekehrt sie (und andere „Lebenshilfen“) weiter anzuwenden und so den Körper in einem Zustand zu erhalten, der nach älterer Definition „Leben“ gewesen wäre (nach der neuen aber nur dessen Vortäuschung ist) - damit man an seine Organe und Gewebe unter den Idealbedingungen herankann, die früher den Tatbestand der „Vivisektion“ gebildet hätten.
(zitiert nach: Hans Jonas. Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Insel Verlag 1987, S. 220f. Jonas seinerseits zitiert hier die sog. "Anaesthesistenpredigt" Papst Pius XII. vom 24.11.1957.) 
Anmerkung: Offensichtlich verwendet Jonas den Begriff 'Vivisektion' hier in seiner wörtlichen Bedeutung: "Zerlegung / Zergliederung von lebenden Wesen" und nicht im juristischen, i.d.R. ausschließlich auf Tiere bezogenen Sinn. Seine Folgerung lautete:
Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod ist nicht mit Sicherheit bekannt, und eine Definition kann Wissen nicht ersetzen. Der Verdacht ist nicht grundlos, dass der künstlich unterstützte Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist (wie er bis vor kurzem auch medizinisch allgemein angesehen wurde). D. h., es besteht Grund zum Zweifel daran, dass selbst ohne Gehirnfunktion der atmende Patient vollständig tot ist. In dieser Lage unaufhebbaren Nichtwissens und vernünftigen Zweifels besteht die einzig richtige Maxime für das Handeln darin, nach der Seite vermutlichen Lebens hinüberzulehnen.
(a.a.O., S.233)
Hans Jonas hatte seiner Kritik nicht umsonst den treffenden Titel „Gegen den Strom“ gegeben - der Vorstoß der Harvard-Kommission wurde von medizinischen Standesorganisationen aufgegriffen und das dort geforderte neue Kriterium für den Eintritt des Todes – der sog. Hirntod – wurde mittlerweile in vielen Ländern auch als juristische Norm eingeführt. Erst durch die so geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen wurde der heutige Stand der Transplantationsmedizin möglich. Das Hirntodkriterium macht einen menschlichen Körper, bei dem essentielle vitale Funktionen noch vorhanden sind, zu einer Sache, die einer medizinischen Weiterverwertung zugeführt werden darf. Die Frage, ob die Einstufung als 'Sache' objektiv gerechtfertigt ist – ob also zweifelsfrei davon ausgegangen werden kann, dass der tot Erklärte als Person nicht mehr existiert und durch die Weiterverwertung seines Körpers keinen Schaden erleidet - ist jedoch nach wie vor wissenschaftlich ungeklärt und wohl auch grundsätzlich nicht klärbar. Davon abgesehen sind hier natürlich auch Aspekte der Pietät und Würde im Umgang mit Toten und Sterbenden berührt - Aspekte, die in jeder Kultur ein Gradmesser sittlicher Reife sind.

Schon in der frühen Erklärung der Harvard-Kommission wird deutlich von einem 'Bedarf' für das Hirntod-Kriterium gesprochen und der Verdacht liegt nahe, dass es vor allem der im zweiten Punkt der Erklärung angesprochene Bedarf war, - „Kontroversen bei der Beschaffung von Organen“ zu vermeiden - , der zur schnellen Akzeptanz der Gehirntod-Definition führte. Die Motivation durch einen ‘Bedarf’ lässt es gerechtfertigt erscheinen, in Bezug auf den Hirntod von einer 'zweckgerichteten Definition' zu sprechen. Es sind daher neben den schon angesprochenen Fragen auch eben diese Zwecke (hier speziell der unter Punkt zwei genannte), die einer genauen Prüfung in Bezug auf ihre ethische Rechtfertigung und ihre sozialen Auswirkungen unterzogen werden sollten.

Zunächst ist zu bedenken (um dies verdeutlichend zu wiederholen), dass die Herangehensweise der modernen westlichen Medizin an die Problematik einer Definition des Todes durchaus nicht rein wissenschaftlich ist, sondern auch auf einer rational nicht begründbaren ethnozentrischen Voraussetzung beruht – nämlich auf dem abendländischen Leib-Seele-Modell. Als Gegenbeispiel sei hier das - durchaus mit modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen kompatible - buddhistische Menschenbild angeführt, das sich besonders deutlich vom christlich geprägten Bild eines beseelten Körpers unterscheidet. Der Mensch ist nach buddhistischer Auffassung eine Einheit psychischer und physischer Faktoren, wobei keinem dieser Faktoren die Rolle eines 'Persönlichkeitskernes' oder einer Seele zugewiesen werden kann. Eine Person existiert demnach nur durch das Zusammenwirken dieser grundsätzlich gleichwertigen Faktoren, als ihre Funktion. Eine eingehende Erörterung ist z.B. bei Suwanda H. J. Sugunasiri, The whole body, not heart, as seat of consciousness: the Buddha's view, Philosophy East and West, 45/3, July 1995, P.409-430 zu finden.

Der Tod ist nach diesem Verständnis daher nicht der Eintritt eines bestimmten Ereignisses – etwa der Ausfall eines bestimmten Organs – sondern wird prozesshaft begriffen als die allmähliche Auflösung eben dieses Funktionszusammenhanges der die Person ausmachenden Faktoren. Da keiner dieser Faktoren für sich als Träger des Ich begriffen wird, kann auch keiner von ihnen allein ein Kriterium für den Eintritt des Todes, also für einen abgeschlossenen Sterbeprozess, liefern. Einen bestimmten Zeitpunkt innerhalb dieses Auflösungsprozesses als Eintritt des Todes zu definieren, kann daher nur eine rein formale Festlegung sein. In dieser formalen Festlegung liegt die eigentliche Problematik der 'zweckgerichteten Definition', da bei den hierzu herangezogenen Kriterien tendenziell Nützlichkeitserwägungen die entscheidende Rolle spielen, die nicht dem Sterbenden selbst, sondern anderen Zwecken dienen.

Sicher ist eine solch formale Definition des Todeseintritts nicht rein willkürlich, doch täuscht sie eine Zäsur vor, die aus sich selbst heraus – jenseits der erwähnten Nützlichkeitserwägungen – nicht zwingend nachvollziehbar ist. Die Tatsache, dass bei Feststellung des Hirntodes der Sterbeprozess in ein nicht mehr umkehrbares Stadium eingetreten ist, darf nicht den Blick dafür verstellen, dass man es immer noch mit einem Sterbenden zu tun hat, der Anspruch auf Respektierung seiner Würde hat.

Aus dem rein formalen, legalistischen Charakter der Definition von ‘Tod’ folgt, dass eine Organentnahme zum Zweck der Transplantation (also zu einem medizinisch noch sinnvollen Zeitpunkt) auf jeden Fall einen Eingriff in den Sterbeprozess bedeutet. Bedenklich ist ein solcher Eingriff insbesondere, da nach buddhistischer Lehre in das zentrale Heilsziel der Be­freiung noch im Verlauf des Sterbeprozesses eingetreten werden kann, das bewusste Er­fah­ren des Auf­lö­sungsprozesses zumindest aber einer Annäherung an dieses Ziel förderlich sein kann. Dass mit dem Ausfall der sog. höheren Bewusstseinsfunktionen ein solches Erfahren ggf. stark verändert ist, sich auf einer anderen geistigen Ebene abspielt, ist unzweifel­haft. Aus der Unmöglichkeit, einen solchen Modus der Erfahrung medizi­nisch-wis­senschaft­lich nachzu­weisen (argumentum ex silentio), kann und darf jedoch nicht auf seine Nichtexistenz ge­schlossen werden.

In traditionell buddhistischen Ländern wird daher in der Regel großer Wert darauf gelegt, diese Erfahrung des Sterbeprozesses, sein ‘Erleben’, zeitlich weit über das Verlöschen wahr­nehmbarer körperlicher Funktionen hinaus möglichst frei von jeglichen störenden Einflüssen zu halten. Dies betrifft emotionalen Stress (z.B. durch Angehörige, die in unmittelbarer Nähe des Sterbenden ihrer Trauer allzu deutlich Ausdruck geben) und selbstverständlich auch phy­sische Störungen, wobei ein Eingriff in die körperliche Integrität des Sterbenden oder Toten sicher deren extremste Form ist.

Bei allen genannten Vorbehalten sollte jedoch ein anderer Aspekt keinesfalls übersehen werden. Die bewusste Entscheidung für eine Organspende ist eine ethisch begrüßenswerte Entscheidung, sie ist praktizierte Freigebigkeit und Mitgefühl; sie kann das Leiden Kranker lindern und durch diese radikalste Form des Sich-Entäußerns zum Nutzen Anderer auf heilvolle Weise die Über­win­dung von Anhaf­tung und Ich-Illu­sion fördern. Dies ist der Grundgedanke hinter buddhistischen Texten wie z.B. dem Sasa-Jataka (Jatakam Nr. 316) des Palikanon oder dem mahayanischen Vyaghri-Jataka. Voraussetzung dafür ist jedoch als Vorbereitung eine intensive persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben und ein im Bewusstsein der Konsequenzen gefasster, freiwilliger und vorbehaltloser Entschluss. Es ist dies eine Entscheidung, die ein jeder nur für sich persönlich treffen kann – sie kann und darf ihm nicht aufgedrängt werden und sie kann und darf auch nicht anderen Menschen, insbesondere den Angehörigen Sterbender, aufgebürdet werden.

Aus den genannten Gründen ist beim Fehlen einer eindeutigen Willensäußerung eines potentiellen Organspenders eine Organentnahme ethisch fragwürdig und auch den Angehörigen ist eine stellvertretende Einwilligung in eine Organentnahme bei Zweifeln über die Einstellung des Sterbenden nicht zu empfehlen. Gerade um den Angehörigen die zusätzliche emotionale Belastung durch ein solches Ansinnen, das an sie herangetragen werden könnte, zu ersparen, ist es empfehlenswert, rechtzeitig eine eindeutige persönliche Entscheidung zu treffen und diese zu dokumentieren. Dazu bietet sich außer Gesprächen mit Angehörigen an, einen Organspendeausweis auszufüllen und bei sich zu tragen. Die Möglichkeit, in diesem Ausweis die Organentnahme auch ausdrücklich zu verweigern, ist leider nur unzureichend bekannt. Die von der Gesundheitsministerkonferenz angestrebte 'Erklärungslösung' ist jedenfalls aus dieser Erwägung heraus grundsätzlich begrüßenswert.

Die von den Befürwortern der Widerspruchslösung geforderte gesetzliche Lösung soll hingegen das Fehlen solcher eindeutigen Willensäußerungen administrativ kompensieren. Das Bedenkliche daran ist, dass diese Kompensation nicht nur nicht durch Aufklärung geschehen soll, sondern diese schlicht obsolet macht. Ich persönlich bin der Auffassung, dass die 'Aufklärung' der Bevölkerung vor allem deswegen bislang nicht zu spürbaren Ergebnissen führt, weil sie in aller Regel einseitig ist - so "zweckgerichtet" ist wie die Hirntod-Definition. Sie soll den Bürger überreden, nicht wirklich aufklären. Entsprechend ist der Erfolg; der Durchschnittsbürger mag uninformiert sein, aber er ist nicht naiv - er misstraut solcher 'Aufklärung' und bleibt unentschlossen. Ob dies allerdings durch die 'Erklärungslösung'  spürbar besser werden wird, darf  bezweifelt werden.

Ist Organspende bislang noch tatsächlich eine Spende - eine freiwillige Gabe des Sterbenden, ein Geschenk - so kann bei der angedachten (und nicht zum ersten Mal geforderten) Widerspruchsregelung von einer Spende keine Rede mehr sein. Dann handelt es sich vielmehr um eine Enteignung und dem Bürger wird zugemutet, sich ggf. vorsorglich und rechtzeitig gegen eine solche Enteignung der eigenen Organe rechtlich zu wehren, da diese in einer Situation stattfindet, in der er nach einer Definition, die einem anderen Zweck als seinem eigenen Wohl dient, für tot erklärt - jedenfalls aber hilflos und jeder Möglichkeit des Widerspruchs beraubt ist. Von den ethischen Implikationen einmal abgesehen - es ist ein ernster Eingriff des Staates in die Autonomie des Menschen; der Staat erhebt Anspruch auf seinen Körper, um ihn in fremdem Interesse zu verwerten. Verfassungsrechtlich ist es ein schwerer Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, in Deutschland durch Art. 2 Abs. 2 GG garantiert - das nach dem Recht auf Leben wichtigste Grundrecht überhaupt.

Ein gesetzlich normiertes Zugriffsrecht des Staates auf die Körper seiner Bürger wäre ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel und es ist legitim, sich hier Gedanken über dessen längerfristige soziale und kulturelle Auswirkungen zu machen. Besonders naheliegend ist hier der Bereich der Lebendorganspende - wo ebenfalls pressure groups auf gesetzliche Rahmenbedingungen drängen, die die fortschreitende Kommerzialisierung der Lebendorganspende legalisieren sollen. De facto sind Organe heute schon ein begehrtes Handelsgut, eine hochbezahlte Ware. Noch sind zumindest die Bürger der reichen westlichen Nationen nicht die Leidtragenden dieser Art medizinischen 'Fortschritts'. Wenn sich jedoch der Staat erst einmal den Zugriff auf die Organe seiner sterbenden Bürger genehmigt hat, ist der Schritt auch zur Inanspruchnahme der Organe gesunder Bürger eine durchaus denkbare - und völlig logische - Folge.
"Man kann sich ein umgebautes Wohlfahrtssystem vorstellen, in dem Organe Vermögenswerte darstellen, die verkauft werden müssen, bevor eine Person Anspruch auf öffentliche Hilfe hat. Insgesamt bleiben Ungleichheiten in politischem Einfluss und sozialer Absicherung so grundlegend, und Armut und Benachteiligung so extrem, dass der freiwillige Charakter eines Organverkaufs zu bezweifeln ist."
(Bericht der internationalen Bellagio-Arbeitsgruppe über Transplantation, körperliche Unversehrtheit und den internationalen Organhandel, veröffentlicht in Transplantation Proceedings 1997, 29:2739-45, hier übersetzt.)
Dahin kommen wir zwangsläufig, wenn ethische Argumente in der Organspende-Debatte als irrational und unwissenschaftlich diffamiert werden bzw. die Durchsetzung des zur Verlängerung von Menschenleben medizinisch Machbaren zur propositio maxima erklärt wird. Mal ehrlich - was spricht denn (von ethischen Argumenten mal abgesehen) dagegen, einem gesunden Hartz IV - Empfänger jegliche öffentliche Unterstützung zu streichen, so lange er im Besitz zweier wertvoller Nieren ist, von denen er ohne weiteres eine verkaufen könnte. Wenn er den Erlös verbraucht hat, käme immer noch eine Teilleberspende in Frage. Knochenmark sowieso. Damit wäre vielen Kranken, die auf 'Spender'organe angewiesen sind, geholfen - und die Sozialkassen wären deutlich entlastet. Schöne neue Welt, die solche Bürger trägt ...