Samstag, 25. September 2010

Maras schöne Töchter

Offensichtlich gibt es etwas, das uns daran hindert, unsere wahre Natur (von der uns versichert wird, sie sei erleuchtet) zu sehen. Im Buddhadharma nennt man dies die zehn Fesseln wie sie z.B. im Sanyojana Sutta (AN.X.13) aufgezählt werden.




"Zehn Fesseln gibt es, ihr Mönche. Welche zehn? Die fünf niederen Fesseln und die fünf höheren Fesseln.
Welches aber sind die fünf niederen Fesseln?
  1. Persönlichkeitsglaube,
  2. Zweifelsucht,
  3. Hängen an Regeln und Riten,
  4. Sinnenlust und
  5. Haß.
Welches aber sind die fünf höheren Fesseln?
  1. Begehren nach feinkörperlichem Dasein,
  2. Begehren nach unkörperlichem Dasein.
  3. Dünkel,
  4. Aufgeregtheit und
  5. Unwissenheit."
Die zehnte Fessel Unwissenheit (Avidya) ist die Wurzel aller anderen. Avidya ist Nicht-Wissen der vier edlen Wahrheiten und der achtfache Pfad ist die Methode zum Lösen dieser Fesseln und der Weg zum Wissen, zu Prajna. Restlose Überwindung von Avidya ist höchste Erleuchtung, ist Anuttara Samyak Sambodhi.

Ein einfacheres Modell als das der zehn Fesseln gibt uns die Allegorie der drei Töchter Maras, des 'Versuchers', die das Erwachen Buddhas zu hindern suchen: Tanha - der Durst, Raga - Verlangen und Arati - Ablehnung. Der älteste Bericht über den 'Kampf' Buddhas mit Mara (Mara-yuddha), eine bemerkeswerte Parallele zur Versuchung des Rabbi Jeschua in den synoptischen Evangelien (Mt 4,1-11 / Mk 1,12-13 / Lk 4,1-13), ist wohl das Padhana-Sutta (Khuddaka Nikaya, Sutta Nipata III,2), in dem Maras Töchter noch nicht auftreten. Sehr breit geschildert wird der Mara-yuddha dann im Mara-Samyutta (Samyutta Nikaya 4). Eine weitere Ausschmückung der Allegorie findet sich dann im Lalitavistara und in Asvagoshas Buddhacarita-Dichtung (Buddhacarita-kavya-sutra XIII), wo zu den drei Töchtern auch noch drei Söhne Maras hinzutreten - was die Geschichte erfreulichweise etwas weniger misogyn erscheinen lässt. Eine weitere (und dann wohl kaum noch zu überbietende) Steigerung in der Darstellung des Mara-yuddha wäre zweifellos Richard Wagner gelungen, wenn er nach Abschluss des Parsifal nicht sein Projekt einer buddhistischen Oper, Die Sieger, aufgegeben hätte. Bei aller Wertschätzung der Musik Wagners – es ist wohl besser so …

Bleiben wir bei den Töchtern, die als allegorische Figuren natürlich 'sprechende' Namen tragen. Dabei ist Tanha das Verlangen nach angenehmen sinnlichen Erfahrungen; Raga ist der Wunsch zu werden, Ziele zu erreichen, Anerkennung und Ruhm zu finden. Arati ist der Wunsch, unangenehmen Erfahrungen zu entgehen. Alle drei sind sie verschiedene Formen von Verlangen, von Durst in zunehmender Subtilität: Kama-Tanha, Bhava-Tanha und Vibhava-Tanha.

Ihr gemeinsamer Oberbegriff ist Samudaya, meist als 'Ursache des Leidens (Duhkha)' übersetzt. Samudaya ist das, was mit Duhkha untrennbar verbunden ist – das 'Mitaufsteigende' ('sam' = mit, 'du' = auf). Ohne Samudaya kein Duhkha und umgekehrt. Im Grunde ist Samudaya Unterscheiden, Messen, Werten und dies ist wiederum nichts Anderes als das Aufsteigen von Gier und Hass, Zu- und Abneigung, Lust und Unlust. Im Xinxin Ming, einem Gedicht des dritten Zen-Patriarchen Jianzhi Sengcan heisst es:
"Der höchste Weg ist gar nicht schwer,
Nur abhold wählerischer Wahl.
Wo weder Liebe noch Haß,
Ist alles offen und klar."

Was hier mit 'der höchste Weg' übersetzt wird, schreibt sich im Original mit den Schriftzeichen 'zhì' und 'dào'. 'Zhì' steht für 'erlangen, ankommen' oder aber als Ausdruck für ein Extrem oder Höchstmass. 'Zhìdào' könnte also auch mit 'das Erlangen des Weges' übersetzt werden. 'Dào' steht übrigens nicht nur für Pfad/Weg/Straße, sondern auch für Methode. Im klassischen chinesischen (durch den Daoismus geprägten) Verständnis ist 'dào' eben nicht nur eine Art 'Weltgesetz', sondern auch die richtige Methode, ein Leben entsprechend diesem Weltgesetz zu führen. Dies entspricht dem buddhistischen Verständnis von 'Dharma' als einer Lehre, die nicht nur das 'Funktionieren' des Seins erklärt , sondern eben auch eine praktische Methode lehrt, in diesem Sein in leidfreier Harmonie aufzugehen. In späteren chinesischen Übersetzungen buddhistischer Texte wird 'Dharma' auch bevorzugt mit 'fá' statt mit 'dào' übersetzt - bei 'fá' ist die Bedeutung 'Methode' noch stärker im Vordergrund. Ansonsten wird 'Dharma' - um sich gegen den Daoismus abzugrenzen - statt nur mit 'dào' oder 'fá' häufig auch mit 'fódào' übersetzt, 'Buddhaweg'. 'Zhìdào' steht hier (in Sengcans Xìxinming) für 'ultimative, höchste Wahrheit' bzw. für das Erwachen zu ihr. Etwas unmissverständlicher könnte man übersetzen: "Das Erwachen zur höchsten Wahrheit ist nicht schwer" ;-)

Was im Xinxin Ming häufig missverstanden wird, ist das "weder Liebe noch Hass" – nämlich in dem Sinn, als würde im Zen eine Art gleichgültiger Emotionslosigkeit gefordert; nicht nur Freiheit von Hass, sondern auch gefühlskalte Lieblosigkeit. Nichts könnte verkehrter sein.

Die dritte der (aus vier Schriftzeichen bestehenden) Zeilen dieses Gedichts liest sich 'dàn mò zêngài': nur/aber/doch - nicht/tue nicht - hassen/verabscheuen - lieben/mögen. 'Zêngài', also die Kombination dieser beiden Schriftzeichen, ist wiederum eigentlich ein buddhistischer Fachbegriff, er steht für 'Hass und Gier' (sanskrit lobha und dosa), die aus Unwissenheit entstehenden Ursachen (samudaya) des Leidens (duhkha) – also die zweite edle Wahrheit der Lehre Buddhas. 'Liebe' ist in diesem Zusammenhang also eine unkorrekte Übersetzung, gemeint ist Gier im Sinne von mit Anhaftung verbundener, ich-bezogener (Vor-)Liebe. Liebende Güte und Mitgefühl (maitri und karuna) im buddhistischen Sinne schließt dieses "weder Liebe noch Hass" selbstverständlich nicht aus.

Richtig schwierig wird es übrigens mit der nächsten Zeile: 'dòng rán mínbái'. 'Dòng' bedeutet 'Höhle', aber auch durchschauen, wissen. 'Rán' bedeutet 'auf diese Art, mit Sicherheit', 'mínbái' wiederum (zusammengesetzt aus den Zeichen für hell/leuchtend/klar und für weiss/rein) bedeutet 'erleuchten, leuchten, hell sein'. Also: "auf diese Art wird unweigerlich die (dunkle) Höhle deines Wissens erleuchtet".

Während es ohne Weiteres einleuchtet, dass die Übung des achtfachen Pfades nicht sinnlichen Erfahrungen dient, so ist Maras zweite Tochter für den Übenden schon schwieriger zurückzuweisen. Wohl jeder kennt z.B. den Wunsch nach Anerkennung - kennt den Wunsch, die eigene Übung und Tiefe des Erkennens anerkannt zu sehen, sei es durch die Mitübenden oder durch den Lehrer. Dogen Zenji nennt dies "in die Grube von Ruhm und Gewinn fallen". Dies ist nichts anderes als Raga, Bhava-Tanha. Der Wunsch nach einem 'Werden' ist im tiefsten Grunde der nach einem ewigen 'Sein'.

Eine noch subtilere Falle ist nun Arati/Vibhava-Tanha, den man zu Recht einen Vernichtungswillen nennen kann. Dabei kann der Vernichtungswille auf die als leidhaft erfahrenen Objekte gerichtet sein oder scheinbar tiefergehend auf das Subjekt der Erfahrung, so dass dann von einem 'Selbstvernichtungsbegehren' gesprochen werden könnte. Doch ist dies nur eine künstliche Unterscheidung – konkret existent sind weder Subjekt noch Objekt als voneinander getrennte Dinge; konkret existent ist lediglich die beides umfassende Erfahrung, auf die der Vernichtungswille gerichtet ist. Vibhava-Tanha ist die ins Negative gewendete Gier - eine Gier, die sich durchaus auch auf das Erwachen oder auf Nirvana richten kann.

Ohne Aufgabe und Loslassen des Wunsches nach Weltüberwindung, nach persönlicher Überwindung von Duhkha und von Avidya, erfüllt sich jedoch dieser Wunsch nicht. Dies ist der eigentliche Kern der Lehre vom mittleren Weg – die Übung nicht auf ein 'Sein' bzw. 'Werden' zu richten, aber auch nicht auf ein 'Nicht-Sein' / 'Beenden'. Bodhidharma bringt diesen zweiten Aspekt überraschenderweise direkt mit dem Übungsfeld ethischer Lebensführung in Verbindung, speziell mit der ersten Shila:
"Die Selbstnatur ist auf geheimnisvolle Weise tief - die Sicht von Anhalten und Auslöschen nicht aufsteigen zu lassen wird in der Wahrheit des Dharma 'das Gelübde, kein Leben zu töten' genannt."
Daher ist die höchste Übung des achtfachen Pfades zweckfrei, ohne Ziel und ohne Absicht. Wenn wir diese Freiheit von allen Zielen und Absichten im reinen Sitzen, im Shikantaza, verwirklichen, dann ist die Übung selbst das Erwachen

Mittwoch, 15. September 2010

Führer gesucht

Ich fürchte nicht die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.
(Theodor W. Adorno) 

Zunächst - einen Glückwunsch. Die großartige Jessye Norman feiert heute ihren 65. Geburtstag. Und weil ein anderer 'runder' Geburtstag (Gustav Mahlers 150.) in meinen Urlaub fiel und daher hier keine Erwähnung fand, singt sie hier Gustav Mahlers Rückert-Lied Nr. 3:



Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben,
Sie hat so lange nichts von mir vernommen,
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
Ob sie mich für gestorben hält,
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
Und ruh' in einem stillen Gebiet!
Ich leb' allein in meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied!
Brava, Jessye!

Auch wenn es vielleicht etwas beliebig erscheinen mag - aber es ist nicht ganz zufällig, dass der heutige Eintrag zunächst einer afroamerikanischen Sängerin gewidmet ist, die hier von einem indischen Dirigenten begleitet wird. Das gilt auch für die Textauswahl - eines von Friedrich Rückerts besseren Gedichten. Wobei  in Hinsicht auf das Folgende hinzuzufügen wäre, dass eben dies die Stelle einer vierten Strophe einnehmen soll. Der Weg des Zen mag zum Rückzug aus der Welt führen - aber wenn er authentisch ist, führt er von dort auch wieder  mitten in sie hinein. Schmutzbedeckt und mit Asche beschmiert auf den Marktplatz.

Weniger mit dem Folgenden hat dieser Link zu tun, aber doch mit dem Lied. Eine interessante Geschichte ist es allemal.

Ein wenig meiner Freizeit ist auch dem Gesang gewidmet; ich singe im Männergesangverein meines Dorfes mehr schlecht als recht im 2. Tenor. Jedenfalls - so kommt es, dass ich gelegentlich in unserer Dorfkirche am (evangelischen) Gottesdienst als Gast teilnehme. So auch diesen Sonntag, wo aus Anlass des Tags des offenen Denkmals ein besonderer Gottesdienst mit anschließender Verköstigung stattfand, um möglichst viele Besucher anzuziehen und zur Unterstützung des Fördervereins zur Sanierung unserer  sehr schönen spätgotischen Kirche zu gewinnen. Wir sangen eine deutsche Chorbearbeitung von Edward Elgars berühmten 1. Marsch aus 'Pomp and Circumstance' ("Menschen der Erde, reicht Euch die Hand ...") und passend dazu (oder umgekehrt) sprach der Pfarrer über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur und ließ dabei auch ein deutliches Wort darüber fallen, wie die Thesen eines Dr. Sarrazin denn eigentlich mit einem christlichen Menschenbild zu vereinbaren seien (nämlich gar nicht).

Nun - wenn schon der geschätzte christliche Kollege sich zu dem Thema äußert, will auch ich nicht zurückstehen. Über Herrn Sarrazins Buch allerdings möchte ich mich nur knapp auslassen; dazu ist alles Notwendige schon mehr als reichlich gesagt und geschrieben worden. Ja, Sarrazin greift ein zweifellos existierendes und lange (fast möchte man sagen gezielt) vernachlässigtes Problem auf. Auch von Herrn Sarrazin in seiner Eigenschaft als Berliner Finanzsenator vernachlässigt, sollte man hier ruhig hinzufügen. Aber er beschreibt das Problem nicht, er karikiert, überzeichnet es und baut ein völlig realitätsfernes Bedrohungsszenario auf. Er macht einige durchaus diskussionswürdige Vorschläge - absolut indiskutabel hingegen sind seine pseudowissenschaftlichen Argumente. Kurz gesagt - in wissenschaftlicher Hinsicht (soziologischer, politologischer) ist sein Machwerk das Gestümper eines Amateurs, in politischer Hinsicht ist es an Volksverhetzung grenzende Demagogie.

Für den Umgang mit solchen Elaboraten gibt es eigentlich nur eine angemessene Empfehlung: tiefer hängen. Daswegen auch bislang sowie fürderhin hier nichts weiter zu diesem Buch, es wäre zu viel der Ehre. Was mir hingegen eher der Betrachtung wert scheint, sind einige andere Aspekte der unappetitlichen Debatte um dieses Buch. Das beginnt schon damit, wie diese Debatte lanciert wurde.

Was zum Teufel reitet beispielsweise die Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), die sich durch die Veröffentlichung von Büchern durchaus seriöser Autoren (ganz unsortiert und beispielhaft: Theodor Heuss, Sebastian Haffner, Jean Gebser, Albert Einstein, Marcel Reich-Ranicki, Carlos Fuentes, José Ortega y Gassett) ein gewisses Renommée erworben hat, solch ein Werk zu veröffentlichen? Warum hat man Herrn Dr. Sarrazin keinen Lektor zur Seite gestellt, der dafür gesorgt hätte, dass wenigstens die allzu hanebüchenen Argumente noch einmal einem Realitätscheck unterworfen wurden? Dann wäre Herr Sarrazin nicht gezwungen gewesen, auf seine Frau als Lektorin zurückzugreifen, die als Grundschullehrerin wohl doch nicht die ausreichende Qualifikation und als Ehefrau nicht die notwendige Objektivität für solch eine Aufgabe mitbringt (meine Frau hält mich auch für einen großartigen Sänger ...). Vermutlich wäre dann von dem Buch jedoch nicht mehr viel übrig geblieben, das man hätte veröffentlichen können.

Man liegt sicher nicht ganz verkehrt wenn man den Grund in der (ja durchaus eingetroffenen) Aussicht vermutet, einen Bestseller zu landen und daran kräftig zu verdienen. Ein Beitrag zur Ausländerdebatte, zum öffentlichen Diskurs über Migranten und deren Integration in die deutsche Gesellschaft? Papperlapapp. So befruchtet und befördert man keinen öffentlichen Diskurs, so lässt man ihn abstürzen und hart auf Stammtischniveau aufschlagen. Da hat sich ein Verlag aus Profitgründen von seiner Reputation und von seiner Seriosität verabschiedet. Man kann auch sagen: sich prostituiert.

Was zum Teufel reitet beispielsweise den Spiegel, für dieses Machwerk kostenlos Reklame zu machen, indem er Passagen daraus vorab veröffentlicht? Ein Beitrag zur Ausländerdebatte? Ja sicher - aber was nutzen solche unqualifizierten Beiträge und wem nutzen sie? Jedenfalls der Auflage des Spiegel ... Falls man sich diese Frage tatsächlich ernsthaft gestellt haben sollte, hat man sich wohl auf die klassische Entschuldigung für derart moralisch Anrüchiges besonnen: wenn wir es nicht machen, dann ein Anderer. Der Focus zum Beispiel, horribile dictu. Und nachdem dann auch die Illustrierte Stern eine Ausgabe herausgebracht gebracht hat, die man sinnvollerweise am besten gleich als Sarrazin-Sonderausgabe deklariert hätte, kam es schließlich auch noch (was Spiegel-Kundige ohnehin vorausgesehen hatten) zum Hinterletzten - der notorische Pausenclown des Spiegel Henryk M. Broder durfte über dem Scherbenhaufen öffentlich seine Notdurft verrichten. Da ist man doch glatt versucht, Liebermann zu zitieren: "Ich kann gar nicht so viel fressen ..."

So viel zum 'tiefer hängen'. Damit lässt sich keine Auflage machen. Mediale Zurückhaltung und Besonnenheit schadet dem shareholder value. Diese Erkenntnis ist in der Medienlandschaft mittlerweile offenbar flächendeckend verbreitet und Maxime des Handelns. Offenbar müssen wir uns allmählich von der ohnehin fadenscheinig gewordenen Fiktion 'seriöser Verlage' und einer 'seriösen Presse' verabschieden. So viel zum ersten Aspekt der sog. 'Sarrazin-Debatte', der mir einen Kommentar wert schien.

Zum Zweiten: es ist auffällig, wie dankbar und eifrig Dr. Sarrazins marketinggerechte Provokation von weiten Teilen der politischen Klasse an- und aufgenommen wurde, welch anschwellender Bocksgesang da durch die Republik hallte. Einer, der hervorragend geeignet war, Anderes zu übertönen. Die skandalöse soziale Schieflage des Merkel'schen Sparpaketes. Das Milliardengeschenk an die Energiekonzerne, abgesichert durch Geheimverträge falls der Souverän es bei zukünftigen Wahlen dann vielleicht doch lieber anders hätte. Die 40 Milliarden an Bürgschaften, die nun nach angemessener Schamfrist der Hypo Real Estate noch mal hinterher geworfen werden. Dafür, dass die mittlerweile dem Staat gehörende HRE ihren Wertpapiermüll in einer 'Bad Bank' entsorgen (wirklich ein treffender Begriff - allerdings haben die Sorgen dann Andere) kann. Wie Phönix aus der Asche wird dann aus dem HRE-Desaster eine genesene Deutsche Pfandbriefbank hervorgehen sowie eine 'FMS Wertmanagement' (der Begriff 'Wert' ist jetzt hier nicht so *ganz* treffend). Die 'Werte', die dann da gemanagt werden, bestehen aus toxischen und anderen unerwünschten Papieren im rein fiktiven Wert von nominell 180-185 Milliarden. Mag jemand mit mir wetten, dass die Deutsche Pfandbriefbank, wenn sie die Gewinnschwelle überschritten hat, privatisiert wird während die 'FMS Wertmanagement' selbstredend im Besitz des Staates bleibt? Und worüber wird breit und laut öffentlich diskutiert? Über die wirren Thesen eines Bundesbank-Vorstands. Nicht zur HRE speziell oder zur sogenannten Banken- und Finanzkrise allgemein - das scheint ihn herzlich wenig zu interessieren - sondern zu einem Thema, von dem er offenbar nicht viel versteht. Und wenn sich das öffentliche Interesse an  diesem Thema (und am 'Jahrhundert-Prozess' Jörg Kachelmanns) erschöpft hat, wird man schon eine andere Sau finden, um sie mit Gejohle durchs Dorf zu hetzen während die Katze den Speck aus der Vorratskammer klaut.

Vorerst versucht man erst einmal noch, aus dem 'Fall Sarrazin' Lehren zu ziehen. Jetzt nicht in dem Sinne, wie man die Integration von Migranten verbessern könnte (was tatsächlich dringend notwendig wäre, da hat Sarrazin schon recht). Das wäre zum Nulltarif nicht zu haben  - also wird es außer schönen und mehr oder weniger klugen Worten nichts geben, bis das Interesse der Öffentlichkeit an dem Thema wieder abebbt. Nein - die Lehre, die man daraus zieht, ist die, dass sich in Deutschland über das Instrument xenophober Demagogie offenbar ein nennenswertes Wählerpotential für eine rechtspopulistische Partei rekrutieren ließe. Es fehlt eigentlich nur noch ein Frontmann vom Schlag eines Jörg Haider oder Jean Le Pen - Dr. Sarrazin oder Frau Steinbach mangelt es zu deutlich an Charisma. Deutschland sucht den Super-Haider. Bewerbungen bitte beim Spiegel abgeben.

Genug Dampf abgelassen ... Man sieht, ich teile mit Dr. Sarrazin den Unmut über bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Nur, dass die beiden sich allenfalls partiell überschneiden. Die Gründe für die  Erscheinungen, die uns beide stören, sind wohl tatsächlich angeboren, wenn auch nicht als unüberwindliches genetisches Erbe. Gier, Hass und Unwissenheit sind ein Erbe, das man ausschlagen kann. Vorausgesetzt, man ist bereit, zu lernen.

 Das Lernen - auch und gerade das Lernen aus der Geschichte - befreit uns von den Verstrickungen der Vergangenheit. So entfesselt kann sich die Kraft der Utopie entwickeln und entfalten.

Amen, Herr Pfarrer.




Richard Strauss, Morgen op. 27, 4
Text: John Henry Mackay

Und morgen wird die Sonne wieder scheinen,
und auf dem Wege, den ich gehen werde,
wird uns, die Glücklichen, sie wieder einen
inmitten dieser sonnenatmenden Erde...

Und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen,
werden wir still und langsam niedersteigen,
stumm werden wir uns in die Augen schauen,
und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen ...