Mittwoch, 23. Dezember 2009

Buddha-Natur, Geist und Atman - Teil II

Buddhismus und Hinduismus sind aus dem Brahmanismus entstanden. Der Buddhismus ausdrücklich als Gegenbewegung zum bestehenden Brahmanismus und zum gleichzeitig entstehenden Hinduismus, wie er sich in den frühen Upanischaden abzeichnete und zwar insbesondere in scharfem Gegensatz zur atman/brahman – Lehre. Eine treffende Beschreibung für den Dharma ist 'anatmavada', weil die anatman-Doktrin eben DAS Merkmal ist, worin sich der Dharma von allen anderen aus dem Brahmanismus entstandenen Systemen unterscheidet.

Shakyamuni bezog in diesem entscheidenden Punkt eine explizite Gegenposition zum 'Mainstream' indischen Denkens. Wenn wir uns nun also fragen, welches die Position ist, gegen die er sich wandte, was also für Shakyamuni der 'atman' war, den er ablehnte, so müssen wir uns bei seinen Zeitgenossen umsehen.

Mit einiger Wahrscheinlichkeit kannte Shakyamuni die Veden, die Brahmanas und die älteren Upanischaden. Bei den mittleren Upanischaden oder der Bhagavad-Gita ist dies zumindest zweifelhaft, jedoch zeichnet sich schon in den älteren Texten ausreichend deutlich eine Entwicklung ab. Der 'atman' wird als Essenz der Person, des Individuums aufgefasst - eine unzerstörbare und unvergängliche Essenz. Gleichzeitig ist dieser 'atman' identisch mit dem 'brahman', einem absoluten Seinsgrund. 'Atman' ist gewissermaßen die Individuation des 'brahman'. 'Atman' wäre also zunächst mit (wahres) Selbst zu übersetzen. Die Übersetzung 'Seele' macht sicher auch Sinn (wenn man gleichzeitig 'brahman' mit 'Weltseele' übersetzt), allerdings sollte man sich dabei bewusst sein, dass der Begriff 'Seele' aus einem ganz anderen geistesgeschichtlichen Kontext stammt. Wenn man Begriffe zu leichtfertig gleichsetzt, führt dies notwendig zu Unschärfen. Trotzdem lässt sich Buddhas Position zu 'atman' und 'brahman' grundsätzlich durchaus auch auf die Konzepte 'Seele' und 'Gott' anwenden - in beiden Fällen handelt es sich per definitionem um Substanzen/Essenzen mit einem nicht-bedingten 'Eigensein' (svabhava).

Ein weiteres Problem ist, dass zu Shakyamunis Zeiten die oben angedeutete Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen war - vor allem die verwendeten Begriffe sind nicht einheitlich. Die Bedeutungen von 'atman', 'brahman' und verwandten Begriffen (etwa 'purusa', 'prana') schwanken je nach herangezogenem Text und sind auch in den Texten selbst nicht immer eindeutig und fest (konsistent). Nach all diesen Einschränkungen nun noch ein paar wenige Textproben, die Shakyamuni vermutlich kannte und auf die (u.a.) er sich bei der Formulierung der anatman-Doktrin wohl implizit bezog (Übers. Alfred Hillebrandt).

"Die Welt war anfangs Brahman. Er schuf die Götter und nach ihrer Schöpfung setzte er sie einzeln in die Welten ein ... Der Brahman aber selbst ging nach der entgegengesetzten Seite. Nach der entgegengesetzten Seite gegangen, überlegte es: 'wie möchte ich in diese Welten wieder hinabgehen?' Es ging mittels zweier Dinge, nämlich mittels Name und Gestalt [namarupa] in sie wieder hinab. Was immer einen Namen trägt, das ist eben Name; was aber keinen Namen trägt und, indem man sich sagt, 'diese Gestalt ist das', an seiner Gestalt erkennbar ist, das ist Gestalt. So weit reicht diese Welt, wie Name und Gestalt."
(Shathapatha-Brahmana XI)

"Am Anfang war hier nur das Selbst; es war wie ein Mensch. Es blickte um sich und sah nichts anderes als sich selbst. 'Das bin Ich' war sein erstes Wort.
[...]
Die Welt war damals noch nicht (nach Name und Gestalt) geschieden. Sie schied sich nach Name und Gestalt. ... Das (Selbst) ist (in alles) bis in die Nagelspitzen eingegangen. Wie das Messer in der Scheide verborgen liegt, wie das Feuer im Reibholz, so nimmt man es nicht wahr. Denn es ist zerteilt.
Wenn es atmet, ist 'Atem' sein Name; wenn es spricht, ist 'Rede' sein Name; wenn es sieht, ist 'Auge' sein Name; wenn es hört, ist 'Ohr' sein Name; wenn es denkt, ist 'Verstand' sein Name. All das sind nur Namen für seine Tätigkeiten. Der weiß das nicht, der nur die Einzelerscheinungen verehrt. Denn es ist zerteilt und tritt nur als Einzelerscheinung auf. Er soll nur den Atman verehren; denn in ihm werden all diese Einzelerscheinungen (Atem, Rede, Auge) zur Einheit. Darum ist der Atman ein Weg zu allem.
[...]
Nur den Atman soll er als die Welt verehren. Das Werk dessen, der nur den Atman als die Welt verehrt, wird nicht zunichte. Denn aus diesem Atman schafft er sich alles, was immer er nur begehrt."
(Brihad-Âranyaka-Upanishad I)

"In der Brahmaburg (des Leibes) ist eine kleine Lotosblüte als Behausung. Darin ist ein kleiner Innenraum. Was in diesem sich befindet, muß man erforschen, das muß man zu erkennen suchen. Wenn sie zu ihm sagen sollten: 'In der Brahmaburg ist eine kleine Lotosblüte als Behausung. Darin ist ein kleiner Innenraum. Was befindet sich darin, das man erforschen, das man zu erkennen suchen muß?', so möge er sagen: 'So groß wie hier dieser Raum, so groß ist der Raum im Innern des Herzens. Himmel und Erde sind beide darin enthalten, Agni und Vâyu beide, Sonne und Mond beide, Blitz und Gestirne; was hier (des Menschen) ist und was nicht, das alles ist darin enthalten.'
Wenn sie zu ihm sagen sollten: 'Wenn hier in der Brahmaburg alles enthalten ist, alle Wesen sowohl als alle Wünsche, was bleibt davon übrig, wenn das Alter sie befällt oder sie zugrunde geht?', so möge er sagen: 'Nicht wird sie durch sein (des Menschen) Alter morsch, noch durch seine Tötung vernichtet. Dies ist die wahre Brahmastadt (welche bestehen bleibt und nicht mit dem Körper gleichbedeutend ist). In ihr sind alle Wünsche enthalten. Dies ist das Selbst. Es hat alle Übel abgeworfen, ist frei von Alter, Tod, Kummer, Hunger, Durst; wahrhaft in seinem Verlangen, wahrhaft in seinem Entschließen.
[...]
Welches Ziel er immer begehrt, nach welchem Wunsche er verlangt, all das erhebt sich auf seinen Willen. ... All die wahrhaften Wünsche sind mit Unwahrheit überdeckt. ... Wie man über einen verborgenen Goldschatz, dessen Stelle man nicht kennt, immer wieder hinwegläuft, ohne ihn zu finden, so finden alle diese Geschöpfe die Brahmawelt, obwohl sie Tag um Tag (schlafend) in sie eingehen, nicht. Denn sie sind durch Unwahrheit gebannt. Dies Selbst ist im Herzen. ... Wer so weiß, geht Tag um Tag in die Himmelswelt ein.'
'Die selige Ruhe, die aus diesem Körper aufsteigt, in den höchsten Glanz eingeht und in ihrer eigenen Gestalt zur Vollendeung kommt, die ist der Atman', so sprach er. 'Das ist das aller Gefahr entrückte Unsterbliche, das ist das Brahman. Dieses Brahman führt den Namen satya.' sattiya: das sind drei Silben: sat, das ist das Unsterbliche; ti ist das Sterbliche; mit yam hält er beides fest. Weil er damit beides festhält, darum heisst es yam. Wer so weiß, geht Tag für Tag in die Himmelswelt ein.
Das Selbst ist die Brücke, die die Welten trennt, damit sie nicht zusammenstürzen. Tag und Nacht, Alter, Tod, Kummer, gute und schlechte Tat überschreiten diese Brücke nicht."
(Chândogya-Upanishad VIII)

Möglicherweise wird aus diesen Zitaten klarer, WAS Shakyamuni mit seiner anatman-Doktrin VERWARF und der Leser wird nach einiger Prüfung für sich auch die Frage beantworten können, wieweit damit auch christlich-abendländisch geprägte Konzepte wie 'Seele' und 'Gott' verworfen wurden. Aus buddhistischer Sicht kann es hier keinen Kompromiss geben - es ist ja nach Shakyamunis Lehre gerade der Glaube an die Existenz eines atman, der die tiefste Wurzel von duhkha ist – also ist es die Essenz des Dharma, gerade an der Rodung dieser Wurzel zu arbeiten. Der Weg, der 'Yoga', der der in den obigen Zitaten skizzierten Metaphysik (brahma-vidya) entspricht, ist dagegen ganz im Gegenteil die Suche nach dem 'wahren Selbst', dem atman. Ein Weg, den der Buddha ja selbst zunächst ebenfalls ging und den er dann nach gründlicher Erprobung verwarf. Hier existiert in der Ausrichtung der Praxis ein grundsätzlicher Widerspruch, ist diese im Buddhadharma doch auf die Einsicht in die Leere der skandhas (der Komponenten, aus denen die Person zusammengesetzt ist) gerichtet.

Die skandhas sind wie die Schalen einer Zwiebel. Du kannst die Zwiebel schälen - und du wirst unter den Schalen nichts finden, keinen Kern, keine 'Essenz der Zwiebel', keinen atman und keine Seele. Gemeinsam funktionieren die Schalen als Zwiebel - aber von keiner einzelnen Zwiebelschale kann man sagen, sie sei die Zwiebel, sie enthalte ihr 'wahres Wesen'. Und wenn man sagt, alle Schalen enthielten das 'wahre Wesen' der Zwiebel - was wäre dann der Unterschied zwischen Zwiebel und Schale? Der Unterschied ist aber da und er ist erheblich - die Zwiebel lebt, die Schalen nicht ...

Buddha-Natur, Geist und Atman - Teil I


Dieser Versuch einer Klärung von Begrifflichkeiten entstand ursprünglich anläßlich einer Polemik Hans Grubers (nein, gemeint ist NICHT der Oberfiesling aus 'Stirb langsam') - hier zu lesen:
Der Diskussion im Internetforum der DBU
entzog sich Herr Gruber leider recht schnell.

Da - wie Herr Grubers Polemik zeigt - Begriffe wie 'Buddhanatur' oder 'Wahres Selbst' bei nur oberflächlicher Auseinandersetzung mit ihnen leicht zu irrigen Auffassungen führen können, habe ich das Thema etwas ausführlicher behandelt und um einen zweiten Teil, der sich mit der Genese von Buddhas anatman-Lehre beschäftigt, ergänzt.

Zum Thema Buddha-Natur (buddhatâ, chin. fóxìng, jap. busshô) ist zunächst zu sagen, dass es sich dabei um eine Lehre handelt, die nicht in allen buddhistischen Schulen anerkannt ist. Eine besondere Rolle spielt der Begriff jedoch im fernöstlichen Buddhismus (China, Japan, Korea ...). Buddha-Natur ist ein allen empfindenden Wesen angeborenes Potential, es ist potentielle bodhi (Erleuchtung / Erwachen). Dieses Potential bedarf der Kultivierung, um Frucht zu tragen. Insofern ist es gleichbedeutend mit tathagatha-garbha, dem 'Schoß der Soheit' oder Keim der Erleuchtung.

Entsprechend werden drei Arten der Buddha-Natur unterschieden: die allen Wesen inhärente Buddha-Natur (gewissermaßen das Grundpotential), die durch die Übung des achtfachen Pfades herausgebildete Buddha-Natur und die aus der vollständigen Entfaltung des ursprünglichen Potentials entwickelte Buddha-Natur des Erwachten (jishôjû busshô, inshutsu busshô und shitokura busshô). Insbesondere wird die durch Übung herausgebildete Buddha-Natur (inshutsu busshô) von Buddha-Natur als Prinzip (ri busshô) unterschieden. Dieses Prinzip, dass die Buddha-Natur allen fühlenden Wesen als Potential inhärent ist, ist shôin, die grundlegende direkte Ursache (nach dem Mahaparinirvanasutra eine von drei) der aktualisierten Buddhanatur. Die anderen beiden Ursachen sind 'aktivierend', es handelt sich um die bedingende Ursache (Dharma-Praxis) und die enthüllende Ursache (prajna).

Im Aspekt shôin busshô – inhärente Buddha-Natur als Potential und direkte Ursache der aktualisierten, aktiven Buddha-Natur - wird sie mit sunyatâ (Leere) oder tathatâ (Soheit) identifiziert. Keinesfalls aber mit einem höchsten Selbst oder transzendenten Wesen; wie gesagt, ist Buddha-Natur ein Potential bzw. ein (Wirkungs-)Prinzip, nicht etwas tatsächlich Existierendes. Der Unterschied ist derselbe wie der zwischen 'Stein' und 'Schwere' – der Stein ist nach konventioneller Auffassung etwas real Existierendes, ein Ding - Schwere aber ein Prinzip, ein Potential. Das 'wahre Selbst', von dem z.B. im Zen gelegentlich gesprochen wird, ist gerade eben KEIN Selbst – im Gegenteil, es ist etwas völlig anderes. Das ist mit 'wahr' gemeint.

Buddha-Natur (buddhatâ, eigentlich eher 'Buddhaheit') wird also in ihrem Aspekt als die allen Wesen inhärente (d.h. untrennbar mit ihnen verbundene) direkte Ursache (als Potential) der aktualisierten Buddha-Natur (des verwirklichten Potentials) mit sunyatâ (Leere) oder tathatâ (Soheit) / bhûta-tathatâ (So-Sein) identifiziert. Eine andere Identifikation ist die mit dem âlaya-vijnâna (Speicherbewusstsein) – entscheidend ist dabei jeweils der Zusammenhang, in dem etwas verdeutlicht wird. So wird man etwa von bhûta-tathatâ sprechen, wenn man in einem ontologischen Zusammenhang argumentiert (das Sein als solches untersucht). Von âlaya-vijnâna wird man eher in einem psychologischen Zusammenhang sprechen, wenn man Bewusstseinsformen und ihre Relationen untersucht. Das im Abendland gelegentlich genannte 'Geisteskontinuum' könnte man als eine Übersetzung von âlaya-vijnâna auffassen. In diesem speziellen Zusammenhang (Geist - Sein) wäre allerdings der Begriff tathâgata-garbha (Schoß der Soheit) geläufiger als Buddha-Natur. Diese unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die grundsätzlich dasselbe meinen, stammen aus unterschiedlichen didaktischen Ansätzen, denen auch unterschiedliche philosophische Schulen entsprechen - insbesondere das madhyamaka und das cittamatra oder vijnanavada. Weitere mögliche Identifikationen mit dieser inhärenten Buddhanatur sind der dharmakaya (Dharma-Körper) der trikaya-Lehre oder der dharmadhatu ('Dharma-Reich'). Um dasselbe handelt es sich auch, wenn Shakyamuni im Palikanon (Udana 8.2 und Itivuttakam 43) so spricht:

"Es gibt ein Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, nicht Bedingtes. Wenn es dies hier nicht gäbe, dann wäre ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Bedingten nicht zu erkennen. Weil es nun aber ein Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, nicht Bedingtes gibt, deshalb ist hier ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Bedingten zu erkennen." (Übers. Dr. Hellmuth Hecker)

Dass so unterschiedliche oder gar widersprüchlich erscheinende Begriffe wie 'Leere' und 'Speicherbewusstsein' für ein und dasselbe benutzt werden, zeigt schon, dass es sich um etwas handelt, das sich eigentlich allen Begriffen (und dem logischen Begreifen) entzieht. Insofern ist die vielleicht am wenigsten unzutreffende Bezeichnung 'Leere', sunyatâ. Das 'Ungeborene' ist leer von jeder Form, es ist leer von jeder Eigennatur oder Eigensein (svabhava) – also ohne Charakteristika, Qualitäten, Eigenschaften. Sogar die Leere selbst ist leer, ist nur eine Konvention, nur Begriff ohne realen Gehalt. Also kann Buddha-Natur keine Eigenschaft sein – zu einer Eigenschaft gehört eine Substanz, der diese Eigenschaft zukommt. Und wenn wir eine solche Substanz annehmen würden, dann könnten wir ihr auch einen Namen geben: atman, brahman, Gott, was auch immer …

Keine reale Substanz – keine realen Eigenschaften. Das Wahrnehmen und Unterscheiden von Qualitäten und Eigenschaften ist also nichts Reales; es ist klesa, Trübung des Geistes. Hier – im Zusammenhang mit Wahrnehmen und Unterscheiden – sprechen wir von Geist, von âlaya-vijnâna oder Geisteskontinuum. Nicht, dass wir mit diesen Begriffen etwas fassen, etwas identifizieren könnten – wir fassen lediglich einen Aspekt dieses 'etwas'. Genauer gesagt: eine Funktion.

Somit wäre Buddha-Natur keine Eigenschaft dessen, was Shakyamuni im Palikanon "Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, nicht Bedingtes" nennt, sondern seine Funktion. Und da die 'Essenz', der 'dharmakaya', das 'Geistkontinuum' oder wie immer man es benennen will, sich ausschließlich über seine Funktion aktualisiert - ins Sein tritt - ist sie als Seiendes mit dieser Funktion identisch. 'Hinter' der Funktion steht keine Essenz, auch wenn wir Begriffe für eine solche Essenz benötigen und verwenden, um die Funktion beschreiben zu können – so funktioniert eben unser dualistischer Verstand. Die Funktion ist 'leer' und mit der 'Essenz' identisch.

Dies ist das mahayanische Verständnis von anatman – anatman und Leere sagen dasselbe aus; anatman heisst leer von einer Essenz, einem Eigen-sein (und damit auch von Eigenschaften) zu sein. Die Namen, die wir jeweils benutzen, um die Funktion zu beschreiben, können sie nicht vollständig erfassen. Auch sie beschreiben immer nur einen Ausschnitt, einen Aspekt dessen, was nicht in Worte zu fassen ist. So nennen wir diese Funktion tathâgatha-garbha, buddhatâ, bodhicitta. Oder aber wir nennen sie avidya, duhkha ... Oder wir nennen sie einfach Funktion - und treffen damit genauso weit daneben wie mit 'Essenz'.

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Beim Klang der Glocke

Im Eiheiji, der von Dogen gegründeten Übungsstätte in den Tannenwäldern der Provinz Echizen, hängt unterhalb des Sammon, des Haupttores des Klosters, die Große Glocke, O-bonsho oder Kyosho.



Morgens gegen halb vier wird in der Wohnhalle Sodo zum Wecken die Zeit geschlagen; die Stunde mit einer Trommel, die Minuten mit einem Gong, dem Koten. Nach etwa einer halben Stunde Zeit für das Waschen gehen zwei Mönche mit Handglocken, Shinrei genannt, durch sämtliche Gebäude. Danach schlägt die Kyosho zum Beginn des Tages. Die Mönche und Novizen sitzen in der Sodo an ihrem Schlafplatz in Zazen, bis ein weiterer Schlag der Kyosho etwa 40 Minuten später das Ende des Zazen anzeigt. Dann werden ein großer Gong, der Dai Kaijo, und ein kleines Holzbrett in schnellem Wechsel miteinander geschlagen und schließlich die Glocke der Sodo, die Naitansho. Dies nennt man Chukaisho, das 'Lösen der gekreuzten Beine'. Danach wird das Takkesa Ge rezitiert und das Kesa angelegt, bevor alle zur Haupthalle Hatto zur Choka gehen, der Morgenzeremonie. Den Tag über werden in der Hatto und der Zendo kleinere Glocken, Densho genannt, benutzt. Auch das Ende des Tages wird nicht durch die Kyosho angezeigt, sondern durch die Abendglocke Konsho, die am Schrein Dogens, dem Joyoden, steht.

Der einzige Tag, an dem die Kyosho mehr als zweimal schlägt, ist der letzte Tag des Jahres. In der Neujahrsnacht wird die Kyosho hundertacht mal angeschlagen - hundertsieben mal vor Mitternacht; mit dem letzten Schlag beginnt das neue Jahr. Die Glockenschläge gemahnen an die hundertacht Bonno, die aus Unwissenheit, Hass und Gier geborenen Selbsttäuschungen.

Die Stadt Hiroshima hat eine Kyosho, die nicht an Neujahr geläutet wird. Sie wird jedes Jahr am Morgen des 6. August hundertacht mal angeschlagen - der letzte Schlag ist um 8.16 Uhr. Am 06.08.1945, um 8.16 Uhr Ortszeit, zündete 'Little Boy'. 45.000 Menschen starben sofort oder noch am gleichen Tag. Die, bei denen das Sterben länger dauerte, suchten in der Trümmerwüste Schutz vor schwarzem Regen – 91.000 Verletzte ohne Obdach. Weitere 13.000 Menschen starben im Laufe der nächsten drei Wochen einen schweren Tod. Nach vier Monaten waren es 64.000 Tote. Die Spätfolgen forderten noch einmal so viele Opfer - insgesamt 136.000, etwa 45 mal so viel, wie 2001 durch den Anschlag auf das World Trade Center ums Leben kamen. Drei Tage nach 'Little Boy' zündete über Nagasaki 'Fat Man' und forderte weitere 64.000 Opfer.

In den achtziger Jahren stiftete die DDR der Stadt Nagasaki eine Stele für ihren Friedenspark. Japan bedankte sich mit einer Friedensglocke, die seit dem 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs (also seit dem 01.09.1989) im Volkspark Friedrichshain in Berlin steht - auf einem Hügel, den Trümmerfrauen aus dem Schutt der zerbombten Häuser Berlins aufgetürmt hatten.

Mittlerweile gibt es weltweit 24 solcher Friedensglocken – und es gibt schätzungsweise 30.000 Atombomben. Seit der Räumung des Luftwaffenstützpunktes Ramstein im Jahr 2005 sind immer noch etwa 20 Wasserstoffbomben vom Typ B-61 in Deutschland auf dem Fliegerhorst Büchel stationiert, unweit des romantischen Moselstädtchens Cochem. Fliegerbomben mit einer Sprengkraft von 340.000 Tonnen TNT. Little Boy hatte gerade mal 13.000 Tonnen. Diese Wasserstoffbomben sollen im Ernstfall von den Tornado-Piloten des Bundeswehr-Jagdbombergeschwaders 33 abgeworfen werden. Worauf auch immer. Ein im Februar 2008 freigegebener Untersuchungsbericht der US-Luftwaffe („Blue Ribbon Review of Nuclear Weapons Policies and Procedures") bescheinigt übrigens, dass es in Deutschland und in den übrigen Stationierungsländern Europas (Niederlande Belgien, Italien) erhebliche Sicherheitsmängel gibt.

Mitglieder der 704. Munitionsversorgungsschwadron in Ghedi Torre,
Italien, üben die Wartung einer B-61-Wasserstoffbombe in einem
Munitions-Versorgungsfahrzeug.
Quelle: USAF


Jeden Morgen schlägt die große Glocke des Eiheiji und die Mönche und Novizen legen ihr Kesa an. Jeden Abend schlägt die kleine Glocke in meinem Schlafzimmer. Sie schwingt im Gleichklang mit der Kyosho des Eiheiji, mit der Glocke in der Zendo der Altbäckersmühle und den 24 Friedensglocken. Mit den Klängen der Musik Johann Sebastian Bachs und der aktuellen MTV-Hits, mit den Stimmen der Kinder, die auf der Gasse vor unserem Haus Fußball spielen, den Stimmen des Chors, der im Gemeindehaus gegenüber probt, den Stimmen der Nachrichtensprecher im Fernsehen, mit den Detonationen der Bomben, dem Seufzen der Sterbenden. Wenn ich still bin, kann ich sie alle hören. Es ist ein einziger Klang.

Meister Ummon fragt: "Die Welt ist groß und weit. Warum legst Du beim Klang der Glocke Deine Sieben-Streifen-Robe an?" Ich weiss es nicht. Ich habe keine Wahl.

Montag, 30. November 2009

INSTANT KARMA

"Nothing you do will do. Now what will you do?"
(Hosekei Hisamatsu Shin'ichi, 1889–1980)




Kausalität ist selten eindeutig, im 'normalen Leben' eigentlich nie. In naturwissenschaftlichen Experimenten muss ein erheblicher Aufwand getrieben werden (schon im Vorfeld ein hoher Aufwand an gedanklicher Abstraktion), um eindeutige kausale Beziehungen zu schaffen oder nachzuweisen. Jede reale, also nicht unter Laborbedingungen geschaffene Situation ist hingegen durch eine unübersehbare Fülle von Einflüssen bedingt. Buddhistisches Denken trägt dem Rechnung, indem es nur selten (und dann mit pädagogischer Intention) eindeutige, 'scharfe' Ursache-Wirkungsbeziehungen postuliert, sondern eher multikausal von 'Ursachen und Bedingungen' (hetupratyaya) ausgeht. Ich gehe jetzt nicht auf die (je nach Schule) unterschiedlichen Klassifizierungen dieser 'Ursachen und Bedingungen' ein; sie tun hier nur wenig zur Sache. Entscheidend ist, dass jede nur denkbare Situation bedingt ist, jedoch nicht durch eine Einzelursache, sondern durch ein diffuses Feld von Ursachen und Bedingungen.

Der Begriff 'karma' kommt nun ins Spiel, wenn das Setzen einer einzelnen Ursache oder Bedingung auf einen Willensimpuls zurückgeht, somit eine karmische Frucht (phala) erzeugt wird. Anders gesagt - es handelt sich um das Ins-Sein-Treten von samskara ('Willensprojektionen'), dem 2. nidana/Faktor von pratityasamutpada ('wechselseitig bedingtem Entstehen') durch Handlungen mit Körper, Sprache und Geist. Häufig wird nun (auch in buddhistischen Schriften) nicht unterschieden zwischen karma, dem 'motivierten Handeln', und der daraus entstehenden Veränderung (durch Setzen einer neuen Ursache oder Bedingung) der Situation, also der Frucht (phala) des Handelns.

Dies macht in gewisser Hinsicht durchaus Sinn - weil Ursache und Wirkung eigentlich nicht voneinander getrennt sind. Wir nehmen Kausalität 'gerichtet' wahr, also wie ein Vektor in eine Richtung verlaufend. Diesen 'Richtungsvektor' nennen wir Zeit - Zeit ist aber (wie auch der Raum) nichts als ein Konstrukt. Zeit und Raum sind die Struktur der Realität, sie sind die Form der Leere - 'Leere' hier in buddhistischen Sinne als 'leer von inhärentem Sein' zu verstehen. Raum und Zeit als Form (rupa) gibt Empfindungen, Wahrnehmungen, dem analytischen und synthetischen Denken sowie den karmisch wirksamen Willensimpulsen Kohärenz - das Zusammenspiel dieser Faktoren (skandhas) ist es, das Realität als empirische Erfahrung erschafft.

Wir spechen von 'Leere' (sunyata), weil dieser Realität wie auch ihren einzelnen, scheinbar durch Raum und Zeit voneinander geschiedenen Momenten (dharmas) kein inhärentes Sein zukommt. Inhärenz ist ein ontologischer Kernbegriff - in der abendländischen Philosophie steht 'Inhärenz' für das Verhältnis der Eigenschaften (Akzidenzien) zu einem postulierten Träger dieser Eigenschaften, der Substanz. Insbesondere ist es das Sein der Eigenschaften, das als 'inhärent', als 'ererbt' von einer Substanz bezeichnet wird. Kant z.B. bezeichnet die Eigenschaften oder Akzidenzien als 'das Reale in der Substanz', insofern als allein die Akzidenzien empirisch erfahrbar sind. Wird diesem 'Realen in der Substanz' nun ein besonderes Dasein beigelegt, so bezeichnet man dies nach Kant als Inhärenz; das Dasein der Substanz wiederum wird als Subsistenz ('Zu-Grunde-liegendes-Sein') bezeichnet.

Wird nun das sinnlich-empirisch Erfahrbare als leer von inhärentem Sein aufgefasst, so bedeutet dies, dass das Erfahrene keinem 'Ding an sich' zuzuordnen ist, auf keine Substanz verweist, die diese erfahrenen Eigenschaften 'hat' bzw. ihr eigenes Sein den Eigenschaften vererbt. Es wird damit nicht der Realität bzw. dem Sein der Erfahrung widersprochen (was offensichtlich unsinnig wäre), doch dieses Sein wird eben nicht als inhärent - als auf etwas jenseits der Erfahrung Stehendes, ein 'Ding an sich' bezogen - aufgefasst. Das Einzige, worauf die Erfahrung bezogen ist, ist der Erfahrende. Die in der Erfahrung wahrgenommenen 'Eigenschaften' sind also nicht Eigenschaften von etwas; sie sind nichts außerhalb ihrer selbst 'zu eigen'.

Die mahayanisch-buddhistische Position, die das Seinsmerkmal (laksana) 'anatman' als 'leer von einem inhärenten Sein' definierte, entstand vermutlich als Gegenposition zur hinduistischen Vaisesika-Philosophie, die sechs Kategorien (padartha) des Seins definierte: dravya (Substanz, Materie), guna (Akzidens, Eigenschaft), karma (Handeln), samanya (Allgemeinheit), visesa (Unterschiedenheit) und samavaya. Dieses 'samavaya' ist es, das gewöhnlich mit 'Inhärenz' wiedergegeben wird. Es steht (etwas allgemeiner als in der abendländischen Philosophie) für Relationen zwischen einem Über- und einem Untergeordneten - also z.B. für die Relation zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, zwischen Substanz und Akzidens, zwischen Generellem und Speziellem. Der Buddhismus wiederum verwirft solche hierarchischen Relationen, Bezüge auf etwas Transzendentes, jenseits der Erfahrung Liegendes. Das 'Ganze', die 'Substanz', das 'Generelle' - das sind alles nur abstrakte Gedankenkonstruktionen, denen keinerlei konkrete Realität zukommt. Das ist eine Konsequenz der anatman-Lehre.

Somit sind auch Zeit und Raum nicht nur die Form dieser Leere, ihre Struktur, die im Zusammenwirken mit den anderen skandhas deren empirische Gestalt erstehen lässt. Sie sind selbst 'leer' von einem Für-sich-Sein; nur im Zusammenwirken der Faktoren der empirischen Erfahrungswelt, durch die sich das empirische Ich setzt (skandhas) und im Konditionalnexus der Faktoren wechselseitig bedingten Ins-Sein-Tretens (pratityasamutpada) treten sie gemeinsam mit ihren Ko-Faktoren und in Abhängigkeit von ihnen ins Sein. Der 'Ort', wo sie scheinbar selbstständig und unabhängig ins Sein treten, ist einer dieser Ko-Faktoren im Modell der skandhas wie auch im Modell pratityasamutpada - das unterscheidende Denken (vijnana).

Daher sind Ursache und Wirkung, sind karma (die dem Willensimpuls folgende Tat) und phala (dessen Frucht) nur im unterscheidenden Denken getrennt. Tatsächlich existieren weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern lediglich der sich stetig wandelnde Moment, der mit einem Begriff wie 'Dauer' nicht zu fassen ist. Dogen nennt dies 'Uji', 'Sein-Zeit'. Die 'Zeit' in dieser 'Sein-Zeit' deutet nicht auf einen bestimmten Ort, einen bestimmten Moment in der Zeit, in der ein Seinsmoment erscheint - diese 'Zeit' ist nicht von 'Sein' als Ganzem zu trennen. 'Sein-Zeit' verweist nicht auf ein 'vorher' oder 'nachher', 'Sein-Zeit' verweist ausschließlich auf das dynamische Jetzt. Dieser dynamische Charakter ist neben dem schon genannten 'anatman' das zweite 'Seinsmerkmal' der buddhistischen Ontologie - anitya. Das letzte und dritte der Seinsmerkmale ist schließlich 'duhkha' - ein Begriff für die spezifische Qualität der Seinserfahrung, die sich aus einer kognitiven Fehlhaltung ('falscher Sicht') speist - namentlich der Nicht-Erkenntnis von anitya und vor allem anatman. Diese 'falsche Sicht', das Ausgehen von falschen Voraussetzungen, setzt dem Wollen Ziele, deren Verfolgung zwangsläufig zur Erfahrung permanenter Frustration führt - duhkha.

Wenn Vergangenheit (die Richtung, aus der der 'Vektor' Zeit kommt) und Zukunft (die Richtung, in die der Vektor zeigt) nur durch die Dynamik des ewigen Jetzt (Meister Eckart nennt es die 'ewige Geburt') bedingte Projektionen sind, reine Gedankenkonstrukte unterscheidenden Denkens, dann gilt dies auch für eine (in der Vergangenheit liegende) Ursache und eine (in der Zukunft) darauf folgende Wirkung. Ursache und Wirkung, karma und phala, sind insofern 'gleichzeitig'. Daher ist auch pratityasamutpada nicht eine sich zyklisch wiederholende 'Abfolge' von 12 Gliedern (nidana), sondern vielmehr ein vernetztes Gefüge, ein morphologisches Modell des Seins. Dieses Sein enthält einen Impuls (den wir als 'Vektor' wahrnehmen) und dieser Impuls wiederum ist der aus 'Trübungen' (kleshas) von Soheit (tathata) entstehende Wille. Cetanaham bhikkave kammam vadami - 'den Willen, ihr Mönche, nenne ich karma', lehrte Shakyamuni.

Die Gleichsetzung von karma und phala sollte keinesfalls dazu verführen, karma als Fatum, als verhängtes Schicksal zu verstehen. Es ist karma - individuelles Wollen - das die Erfahrungswelt als Frucht, phala, dieses Wollens, in einem ganz entscheidenden Punkt verursacht und bedingt. Dieser Punkt ist die oben angesprochene Qualität der individuellen Seinserfahrung. WAS es erfährt, darauf hat das Individuum nur einen sehr begrenzten Einfluss - da ist es bis auf einen winzigen Rest Produkt von Ursachen und Bedingungen, die außerhalb seiner Kontrolle liegen. Was allerdings der Kontrolle unterliegt, das ist das WIE individueller Seinserfahrung. Anders gesagt - ihr karmisch bedingter Aspekt.

Wenn dieses WIE, die Qualität, karmisch bedingt ist, stellt sich zunächst die Frage, wie weit unsere Motive, unser Handeln und die daraus entstehenden Folgen determiniert sind. Mit anderen Worten - ist der Wille, der ja primär aus Unwissenheit (ich hatte dies mit 'Trübungen' und 'falsche Sicht' bereits angesprochen) und sekundär aus Gier und Hass (ein Freudianer würde hier eher von 'Lust' und 'Unlust' als grundlegenden Antrieben sprechen) heraus entsteht, ein freier Wille? Die Beantwortung dieser Frage hat weitreichende Konsequenzen - nicht nur für die Verantwortlichkeit des Handelns in ethischer Hinsicht, sondern auch für die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen Befreiung (moksha) von duhkha möglich ist, eine andere Erfahrung des Seins. Letzlich: ob wir überhaupt etwas zur Befreiung tun müssen oder können. Hier haben die buddhistischen Traditionen durchaus unterschiedliche Antworten gefunden - wie auch die Christen in der ähnlich gelagerten Frage der Prädestination.

Welchen Standpunkt man hier einnimmt, ist letztlich eine Frage der persönlichen Ausgangsvoraussetzungen - und damit der daraus abzuleitenden Praxis. Dies ist jedenfalls die Position, die Grundlage des Ekayana/'einen Fahrzeugs' und der Upaya-Lehre des Lotus-Sutra ist. Der Shin-Buddhismus beispielsweise nimmt in dieser Frage gewissermaßen eine Extremposition ein - jegliche persönliche Anstrengung ist letzlich kontraproduktiv, da sie eine Anstrengung des Willens (eigene kraft, joriki) voraussetzt - und es doch gerade dieser persönliche Wille ist, der einer Befreiung im Wege steht. Trotzdem gibt es eine shin-buddhistische Praxis - die des Vertrauens in die 'fremde Kraft' (tariki), die Kraft Amida Buddhas. Zen scheint da zunächst eine ebenso extreme Gegenposition einzunehmen. Statt dies nun weiter auszuführen, möchte ich aus einem mündlichen Vortrag von Kobun Chino Rôshi zitieren:

"Es ist ein bedeutender Charakterzug von Zen. Das Gefühl 'Ich selbst muss es tun. Ich kann nicht Andere bitten, es für mich zu tun.' Wenig verschieden von selbstgerecht .... Joriki und tariki sind traditionelle Begriffe. Joriki ist eigene Kraft; tariki ist andere Kraft. Dies entstand aus dem Unterschied zwischen Zen und der Schule des Reinen Landes. Im Zen hilft dir nicht einmal Buddha, erleuchtet zu werden. In der Schule des reinen Landes kannst du selbst überhaupt nichts tun, nur Buddha kann dies. Amitabha Buddha kann dich retten. Das sieht nach einer ganz anderen Idee aus. Aber die Wurzel ist dieselbe, die Erscheinung ist ein wenig unterschiedlich. Bei joriki - wenn das Selbst ich-zentriert oder selbst-zentriert ist, ist es nicht wahres joriki. Das wäre ein Missverständnis, als würde ein Fisch sagen 'ich bin ein Hund'. Es wäre nicht das wahre Selbst. Joriki ist das joriki Buddhas, die wahre Natur von allem, jeder Person - und tariki ist dasselbe. Was sich unterscheidet, ist was du mit joriki meinst. Ist dies deine Kraft oder das joriki Buddhas? Und tariki ist die Kraft der anderen Person oder Buddhas Kraft. Die Wurzel ist dieselbe: Nicht-Selbst. Nicht-Selbst ist die Wurzel, die gleiche Wurzel."

Offensichtlich führt die Frage nach dem Determinismus in die Irre - weil wir auf der Ebene, in der wir uns als ein 'Ich' erfahren, determiniert sind, obwohl wir selbst uns bei naiver Betrachtung für aus freiem Willen Handelnde halten. Dieser Wille operiert zwar nicht blind, aber instinktiv aus der Perspektive eines unabhängig für sich existierenden Ich, das sich Ursachen und Bedingungen entspechend zwar wandelt, jedoch eine diesem Wandel unterworfene Substanz hat - einen atman, eine Seele. Das ist die tiefste Ursache der bereits angesprochenen 'kognitiven Fehlhaltung'. Dieser vermeintliche individuelle Wesenskern ist Bezugs- und Ausgangspunkt für alle Projektionen des Willens, die entsprechendes Handeln auslösen - karma. Dieser Bezugspunkt gibt das Maß für Wertungen, er liefert die Kriterien dafür, was ergriffen und was abgewehrt wird - und ist damit der Auslöser für duhkha. Denn weil nichts einen beständigen Wesenskern hat, nichts Substanz hat, kann das Ergriffene nicht auf Dauer festgehalten und das Abgewehrte nicht auf Dauer ferngehalten werden. 'Alle Lust will Ewigkeit' heisst es im 'Zarathustra' - doch dieses Wollen ist unerfüllbar. Der Wille ist determiniert durch die Zwänge, die durch eine falsche Sicht der Wirklichkeit gesetzt sind. Er stößt ins Leere, er greift nach Schatten.

Auf der Ebene des 'wahren Selbst' sind wir absolut frei - aber dieses 'wahre Selbst' (das beileibe kein 'wahres Ich' sondern vielmehr 'wahres Nicht-Ich' ist) manifestiert sich in einem determinierten Ich. Dies gibt uns einen Schlüssel für das Verständnis der Praxis des Zazen - Zazen ist keine Willensanstrengung, sondern das Verlieren dieser determinierten Form, ist einfach 'jinshin datsuraku' ('Abfallen von Körper-und-Geist'). Es ist das Aufgeben der ich-zentrierten Form des Selbst, wodurch das formlose 'wahre Selbst' frei zu handeln und frei im Handeln wird.






"He Bonze!
Wunder über Wunder!
Du machst heute Zazen?"

"Klar doch!"

Dienstag, 24. November 2009

mushi shōji – Geburt-und-Tod ohne Anfang

Gestern Abend erreichte mich die eMail eines alten Jugendfreundes. Unser gemeinsamer Freund Klaus Federlein ist vor einigen Tagen in München unerwartet verstorben; am Freitag findet die Beisetzung statt. In Speyer, dem Städtchen, in dem wir gemeinsam zur Schule gegangen sind (oder manchmal auch nicht), gemeinsam das erste Mal gekifft haben, eine Rockband gegründet haben …

Trauer? Ja sicher, auch wenn sich unsere Wege schon lange getrennt haben. Es waren wichtige, prägende Jahre - die Zeit, als wir erwachsen wurden. Die Trauer hat sicher mehr mit mir als mit ihm zu tun. Es ist ein Stück von mir, von meiner Jugend, das nun unwiederbringlich vergangen ist. Wie auch all die Erinnerungen, die ich noch bewahre, verschwinden werden. Das Loslassen schmerzt noch immer.


Der Tod kam über Nacht zu Dir. Ich hoffe, er war sanft.




While riding on a train goin' west,
I fell asleep for to take my rest.
I dreamed a dream that made me sad,
Concerning myself and the first few friends I had.

With half-damp eyes I stared to the room
Where my friends and I spent many an afternoon,
Where we together weathered many a storm,
Laughin' and singin' till the early hours of the morn.

By the old wooden stove where our hats was hung,
Our words were told, our songs were sung,
Where we longed for nothin' and were quite satisfied
Talkin' and a-jokin' about the world outside.

With haunted hearts through the heat and cold,
We never thought we could ever get old.
We thought we could sit forever in fun
But our chances really was a million to one.

As easy it was to tell black from white,
It was all that easy to tell wrong from right.
And our choices were few and the thought never hit
That the one road we traveled would ever shatter and split.

How many a year has passed and gone,
And many a gamble has been lost and won,
And many a road taken by many a friend,
And each one I've never seen again.

I wish, I wish, I wish in vain,
That we could sit simply in that room again.
Ten thousand dollars at the drop of a hat,
I'd give it all gladly if our lives could be like that.

(Bob Dylan)

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Denk nach!! Wie kannst du glauben, jemand zu sein und von „bevor der Geburt“ und „nach dem Tod“ sprechen? Welche Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft kannst du ergreifen? Seit undenklichen Zeiten gibt es nicht die geringste Abweichung, keinen Augenblick lang. Von der Wiege bis zum Grab ist es nur das. Aber obwohl dies so ist, wenn du es nicht einmal verwirklichst, wirst du genarrt werden von deinen Sinnen und ihren Objekten und wirst dieses Selbst nicht verstehen. Gerade so, als ob du ein Brett vor dem Kopf hättest und nicht sehen kannst, was sich genau vor deinen Augen befindet. Also wirst du den Ursprung deines Körpers und deines Geistes und der Myriaden Dinge nicht verstehen und ohne guten Grund versuchen, Verblendung zu durchschneiden und Erleuchtung zu finden. Da dies so ist, hast du die Buddhas damit belästigt, in der Welt zu erscheinen und die Patriarchen genötigt, freundlicherweise ihre Ermahnungen zu geben. Und obwohl sie diese gnädigen Ermahnungen gegeben haben bist du immer noch in deinen eigenen Ansichten gefangen und behauptest, du könntest es nicht erfassen oder du hättest es nicht verstanden! Wirklich, du bist nicht unwissend, noch bist du mit der Wirklichkeit vertraut, sondern du verweilst stolz in Gedanken und Berechnungen, Unterscheidungen von Gut und Böse.


Verstehst du denn nicht, daß du antwortest, wenn einer ruft und daß du folgst, wenn einer den Finger ausstreckt? Dies wird nicht von unterscheidendem Denken oder von willentlicher Anstrengung bewerkstelligt, sondern ist die Arbeit des Wahren Menschen. Dieser Wahre Mensch hat weder ein Gesicht noch körperliche Merkmale, dennoch zögert er niemals auch nur für eine Sekunde. Das ist der Grund, warum sich dieser Geist erhebt und „Körper“ genannt wird. Wenn der Körper erscheint, verbinden sich die 4 Elemente, die 5 Skandhas, die Millionen Poren und die 360 Knochen und du bist ein Körper. Es ist wie ein Juwel im Licht oder ein Klang, der ein Echo hat. Von der Wiege bis zum Grab gibt es weder Mangel noch Überschuß. Mit solcher Geburt und solchem Tod hat deine Geburt keinen Anfang und dein Tod hinterläßt keine Spuren. Als ob sich die Wellen auf dem Meer erheben und verschwinden, ohne die geringste Spur zurückzulassen. Obwohl die Wellen verschwinden, gehen sie nicht an irgendeinen besonderen Ort. Weil das Meer ist, was es ist, erscheinen große und kleine Wellen und verschwinden wieder.


[…]


Heute Morgen, um etwas Entschiedenes zu dieser Geschichte zu sagen, würde ich euch gerne ein kleines Gedicht vortragen. Wollt ihr zuhören?

Selbst mit der Klarheit der Herbstwasser bis an den Himmel
Wie wollte man es mit dem hofumgebenen Frühlingsmond vergleichen?
Viele Menschen suchen die Klarheit in Ihren Leben
Sie putzen und putzen, doch ihr Geist ist immer noch nicht leer.


(Keizan, Dentoroku, Micchaka-Kapitel)


Donnerstag, 19. November 2009

Meditation - eine "Zen-Geschichte"

Vor einigen Tagen (am 07.11.) hat mein Dharma-Freund Herbert in seinem Blog eine "Zen-Geschichte" gepostet, siehe hier. Sie ist nicht sehr lang und ich bitte darum, sie sich einmal kurz zu Gemüte zu führen.


Fertig?

Nun bringt diese Geschichte, so wie sie da zu lesen steht, auf recht brauchbare Art und Weise eine Ansicht über angemessene buddhistische Praxis zum Ausdruck - nur hat das wiederum mit Zen nichts zu tun. Was wiederum daran liegt, dass es sich hier eben nicht um eine "Zen-Geschichte" handelt, sondern um etwas, das aus einer tatsächlichen "Zen-Geschichte" durch Verstümmelung und Verfälschung entstanden ist. Nun ist das Herbert nicht anzulasten - ihm ist diese Geschichte als "Zen-Geschichte" verkauft worden und für jemanden, der (wie Herbert) selbst nicht in einer Zen-Tradition praktiziert, ist es bei "Zen-Geschichten" oft schwierig, Talmi von Gold zu unterscheiden.

Auch ich habe dieses Elaborat schon diverse Male zu hören bekommen - meistens sollte es als Beleg dafür dienen, wie wenig Gewicht die alten Meister auf Zazen - auf das 'Sitzen' - gelegt haben sollen. Nicht zufällig hört man diese Geschichte dann eben auch von Leuten, die ihr 'Wissen' über Zen gerade nicht authentischer Zen-Praxis verdanken. Anders gesagt - von Leuten, die sich nicht dazu bequemen wollen, sich gelegentlich auch einmal hinzusetzen und für ein paar Minuten oder Stunden Meinungen, Ansichten, Theorien loszulassen. Stattdessen suchen sie nach solchen Geschichten, die ihre Meinungen, Ansichten und Theorien bestätigen - und es ihnen womöglich noch erlauben, dies als 'Zen' auszugeben. Wenn sich da nichts findet, dann wird halt, was nicht passt, passend gemacht. So ist wohl auch diese Fälschung entstanden.

Wenden wir uns also dem Original zu. Es findet sich nicht in den berühmten Koan-Sammlungen - im Hekiganroku (Biyan Lu), Mumonkan (Wumen Guan) oder Shoyoroku (Congrong Lu) - sondern in einer älteren Quelle, dem Keitoku Dentoroku (Jingde Zhuandeng Lu). Eine ganz zentrale Rolle spielt diese Geschichte in Dogens Shobogenzo Zazen Shin, wo Dogen sie ausführlich kommentiert.

Ein kurzer Hinweis noch zu den Personen: Es handelt sich um zwei der bedeutendsten Figuren des klassischen Zen der Tang-Dynastie. Dazhi von Jiangxi ist besser bekannt unter dem Namen Mazu Daoyi (vgl. hier), Dahui von Nanyue hingegen als Nanyue Dairang (vgl. hier). Dazhi ('Großes Wissen') und Dahui ('Große Weisheit') sind postum verliehene Ehrentitel.

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Als der Chan-Meister Dazhi von Jiangxi mit Chan-Meister Dahui von Nanyue studierte, saß er beständig in Meditation. Einmal ging Nanyue zu Dazhi und sagte. "Ehrenwerter, was erwartest du, wenn du hier in Meditation sitzt?"
Jiangxi sagte: "Ich erwarte, einen Buddha zu machen."
Da nahm Nanyue einen Ziegel auf und begann, ihn auf einem Stein zu reiben. Nach einer Weile fragte Dazhi: "Meister, was tust du?"
Nanyue sagte: "Ich poliere dies hier, um einen Spiegel zu machen."
Dazhi sagte: "Wie kannst du durch Polieren eines Ziegels einen Spiegel machen?"
Nanyue antwortete: "Wie kannst du durch Sitzen in Meditation einen Budha machen?"


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Kurze Unterbrechung - so weit der erste Teil. Wenn man nun den Rest der Geschichte verschweigt, könnte tatsächlich der Eindruck entstehen, Nanyues Antwort sei ironisch gemeint und ziele darauf ab, das 'Sitzen in Meditation' (zuochan / zazen) sei nicht geeignet, 'einen Budha zu machen'. Tatsächlich aber ist diese Frage durchaus ernst gemeint - es geht um das 'Wie' des Sitzens. Die Antwort darauf, wie man aus einem Ziegel einen Spiegel macht, bleibt uns Nanyue nicht schuldig.
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Dazhi fragte: "Nun, was ist das Richtige?"
Nanyue antwortete: "Wenn ein Mann auf einem Ochsenkarren fährt und der Karren nicht vorankommt, sollte er den Karren oder den Ochsen schlagen?"
Dazhi antwortete nicht.

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Es ist keineswegs Ratlosigkeit, die hier Dazhis Schweigen veranlasst. Die Nicht-Antwort ist die einzig angemessene Antwort auf die Frage. Natürlich wäre es absurd, den Karren zu schlagen - das ist einfach zu sehen. Doch wäre es nicht auch absurd, den Ochsen zu schlagen, wenn der Karren ein gebrochenes Rad hat? Nanyue ist auch hier nicht auf eine einfache Antwort aus.
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Nanyue fuhr fort: "Studierst du 'Meditation im Sitzen' oder studierst du 'sitzender Buddha'? Wenn du 'Meditation im Sitzen' studierst, dann ist Meditation nicht 'Stillsitzen'. Wenn du 'sitzender Buddha' studierst, dann ist Buddha kein fixiertes Mal. Wenn du 'sitzender Buddha' studierst, dann ist das 'Buddha töten'. Wenn du nach dem Mal des Sitzens greifst, erfasst du nicht sein Prinzip."


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Man sieht, die eigentliche "Zen-Geschichte" ist schon ein wenig schwieriger zu verstehen, als die mißlungene Travestie. Sie ist eigentlich gar nicht zu verstehen, wenn man nicht sowohl 'Meditation im Sitzen' als auch 'sitzender Buddha' intensiv studiert, wenn man nicht die Wirkungsweise von 'Karren' und 'Ochse' versteht (wodurch sich auch das Schlagen erübrigt). Aber auch ohne dies läst sich erkennen, dass es hier nicht um eine Kritik des Sitzens als solches geht - sondern um einen Hinweis zum richtigen Sitzen.

'Richtiges' Sitzen, Zazen, ist kein 'Stillsitzen' - soll heißen keine Versenkungsübung, ist nicht die Übung der Jhanas (vgl. hier). Dies ist immer wieder als 'Zen des toten Holzes' (eigentlich 'totes Holz [und] kalte Asche', kumu shihui) kritisiert worden. Zwar gehen das chinesische 'Chan' bzw. japanische 'Zen' auf sanskrit 'Dhyana' zurück (pali 'Jhana'), und doch ist Zen, ist Zazen kein Dhyana. Zazen ist 'sitzender Buddha' - aber auch nur dann, wenn man dabei 'Buddha tötet', wenn man nicht nach Buddha als dem Mal des Sitzens greift und daran anhaftet. Dazhis Problem, das Nanyue in dieser Geschichte korrigiert, ist dieses Anhaften - "Ich erwarte, einen Buddha zu machen." Wahre buddhistische Praxis löst sich von Anhaftungen, von Erwartungen, von Zielen. Auch vom Sitzen. Was nicht heisst, man würde nicht sitzen ...

"Wenn du verstehst, wie wertvoll dein Leben ist und dass die Art, wie du es manifestierst und es lebst, voll und ganz deiner eigenen Verantwortung unterliegt - dann ist das solch eine große Verantwortung, dass so jemand ganz natürlich sich für ein Weilchen hinsetzt. Es ist keine absichtsvolle Handlung, es ist eine natürliche Handlung."
(Houn Kobun, 1938 - 2002)

In diesem Sinne ...

Mittwoch, 18. November 2009

Tee, Lu Tong und Hölderlin

Keine Angst - das gibt hier keine geistesgeschichtliche Abhandlung. Nur wollte ich zur Eröffnung dieses Blogs nicht gerade etwas über Buddhismus bzw. Zen schreiben. Oder doch? Wie auch immer ... Zu den Dingen, an denen ich mit Vorliebe anhafte, gehören gute Gedichte und guter Tee. Beides Dinge, die wunderbar zusammenpassen. Warum also nicht dieses Blog mit einem Beispiel meiner persönlichen Obsessionen beginnen?

Zur Zeit der Tang-Dynastie lebte im 'Klausengebirge' Lu Shan ein merkwürdiger Mann. Sein Name war Lu Tong; er wurde im Jahr 798 geboren. Obwohl er das zurückgezogene Leben eines taoistischen Einsiedlers führte, so wurde er doch weithin als Dichter und vor allem als Teemeister geschätzt und bewundert, worauf schon sein Literatenname 'Jadequelle' hinweist: 'flüssige Jade' ist ein poetischer Ausdruck für Tee. Er übte sich im Wu-Wei, in absichtsloser, spontaner Aktivität - und diese Aktivität war vor allem das Rezitieren von Gedichten und die Zubereitung von Tee. Er war dem Tee so sehr zugetan, dass manche seiner Zeitgenossen ihn für verrückt hielten. Eine Zeile eines seiner Gedichte, die ihn wohl am besten charakterisiert, lautet:

Mich kümmert nicht Unsterblichkeit - nur der Geschmack von Tee.

Etwa hundert Gedichte sind von ihm überliefert – darunter das berühmteste Tee-Gedicht überhaupt; der immer wieder zitierte 'Gesang von den sieben Schalen Tee'. Er gehört zu einem längeren Gedicht, das den etwas umständlichen Titel trägt: 'Dankschreiben an Zensor Meng für eine Sendung frisch gepflückten Tee'.

Der Zensor Meng, dem das Gedicht gewidmet ist, war wohl ein Nachkomme des konfuzianischen Philosophen Meng Zi (Mencius) und hatte als solcher (wie auch die Nachkommen des Kung Zi / Konfuzius) ein Erbamt am kaiserlichen Hof inne – er durfte und sollte den Lebenswandel des Kaisers begutachten und - wenn notwendig - kritisieren. Kein ganz ungefährliches Amt … So ist auch der augenzwinkernde Humor des letzten Verses zu verstehen, wo der Taoist Lu Tong den so überaus wichtigen konfuzianischen Hofbeamten mit leiser Ironie bedenkt.


Dankschreiben an Zensor Meng
für eine Sendung frisch gepflückten Tees


hoch stand die sonne schon am himmel,
als tief ich noch im schlafe lag -
da reisst mit schlägen an das tor
ein offizier mich aus den träumen.

er sagt, der zensor sende mir
ein schreiben – zur beglaubigung
baumeln drei siegel an der hülle
aus schwerer, steifer, weisser seide.

das siegel geöffnet - und schon
seh ich des zensors gesicht vor mir.
er schickt dreihundert päckchen tee -
handverlesen, wie monde geformt -

zum verkosten, denn im neuen jahr
schreckten schritte auf einem bergpfad
die mücken aus dem winterschlaf
erwachend mit dem frühlingswind.

der kaiser selbst, er muss noch warten
auf den geschmack des yang-xian-tees
und etliche kräuter wagen
noch nicht, schon die blüten zu öffnen.

in freundlicher brise reifen
in keim und knospe verborgen
wie perlen, noch ehe der frühling
sie austreibt, die goldgelben sprossen.

frisch gepflückt, am feuer getrocknet,
noch duftend gerollt und verpackt,
ward ihre essenz aufs beste,
wahrlich unübertrefflich bewahrt.

eine zu große ehre ist dies
für mich, die kaiser und fürsten
nur gebührt; wie kam dies geschenk
zur hütte des mannes der berge?

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das tor aus reisig schließe ich,
so dass kein ungeschliffner gast
mir nahekommen möge;
die seidenkappe setz ich auf,
für mich in meiner weidenhütte
ihn aufzugiessen und zu trinken.

da steigen jadewolken auf,
doch ohne dass ihr hauch
das treiben weisser blüten störte
deren leuchten sich verdichtet
auf der schale spiegel.

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die erste schale tee, sie netzt
mir kehle und lippen, die zweite
zerbricht meine melancholie.

die dritte schale aber sickert
mir tief ins gemüt, das verdorrt
von den worten tausender bücher war.

die vierte schale tee
ruft leichtes schwitzen hervor,
befriedet allen kummer des lebens

und treibt ihn zu den poren hinaus.
die fünfte schale tee, sie klärt
und reinigt mich durch und durch.

die sechste schale macht meinen geist
den unsterblichen zum genossen -
die siebte zu trinken vermag ich nicht.

und doch erwachen mir flügel, sie tragen
mich geläutert im wind des lebens.

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wie verweilt man in jenen bergen,
wo die unsterblichen wohnen?
jadequell reitet diesen reinen wind,
heimkehr ersehnend nimmt er abschied,

zu jenen bergen, in deren mitte
unsterbliche die niedere erde regieren;
zum reinen, erhabenen thron der welt
jenseits von wind und regen.

wo friedvolles verstehen ist
der zahllosen schicksale rastlosen lebens -
das in stetem verfall, wie ein sturz in den abgrund
sein bitteres los empfängt.

gelegentlich werd ich den zensor befragen
über dieses geschäftige leben:
ob es nicht erfüllung kennt,
sammlung, erlangen, erneuerung, ruhe.


Im Jahr 835 kam Lu Tong auf Einladung des Zensors Meng an den Hof des Kaisers Li Ang (Tang Wen Zong, 826-840). Ob er Gelegenheit fand, den Zensor über das "geschäftige Leben" zu befragen, weiss man nicht. Jedenfalls aber erfuhr er nun selbst eines jener "zahllosen Schicksale rastlosen Lebens, das in stetem Verfall, wie ein Sturz in den Abgrund, sein bitteres Los empfängt".

Lu Tong geriet in die Wirren des "Tau-Zwischenfalls". Der Kaiser und einige seiner Vertrauten wollten die Herrschaft der Palasteunuchen brechen, die längst die eigentlichen Machthaber geworden waren und schon Li Angs Vorgänger ermordet hatten. Es wurde das Gerücht gestreut, ein Granatapfelbaum im Palast sei mit Tau bedeckt - und dort wurde ein Hinterhalt gelegt. Die Eunuchen wurden eingeladen, das günstige Omen des betauten Baumes in Augenschein zu nehmen; jedoch wurde der Anschlag vorzeitig entdeckt und der Kaiser als Geisel genommen. Er wurde bis zu seinem Tod unter Hausarrest gestellt und etwa zweitausend tatsächliche und angebliche Verschwörer wurden geköpft – darunter auch Lu Tong, dem sein hochrangiger Freund und Gönner nun zum Verhängnis wurde.


Wenn ich die letzten Verse - den vierten Abschnitt - dieses Gedichtes lese, kommt mir unweigerlich ein anderes Gedicht in den Sinn - eine Resonanz, ein ergänzendes Gegenstück aus anderem Blickwinkel, durch ein Jahrtausend und eine halbe Welt getrennt: 'Hyperions Schicksalslied' von dem unglücklichen Friedrich Hölderlin:

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.