"Ebenso wie in europäischen Gesellschaften stellt auch in asiatischen Gesellschaften die Religion lediglich eine von mehreren Optionen dar, Handlungen theoretisch zu begründen. Buddhistinnen und Buddhisten haben neben einer pazifistischen Rhetorik auch Argumentationsmuster entwickelt, derer sich einzelne Individuen wie auch Kollektive bedienen, um ihr, auf eine Fülle weiterer Faktoren zurückzuführendes, gewalttätiges Handeln im Bedarfsfall zu rechtfertigen."
Das obige Zitat stammt aus dem recht lesenswerten einführenden Artikel von Karénina Kollmar Paulenz und Inken Prohl in Heft 11.2 (2003) der Zeitschrift für Religionswissenschaft, das speziell dem Thema Buddhismus und Gewalt gewidmet ist.
In buddhistisch geprägten Gesellschaften gab und gibt es selbstverständlich ebenso wie in christlichen, islamischen, jüdischen, hinduistischen usw. Mechanismen der religiösen Rechtfertigung von Gewalt. In westlichen Zenkreisen hat sich dies vor allem durch die Arbeiten des Soto-Zenpriesters Brian Victoria über die Verstrickung japanischer buddhistischer Gemeinschaften in den japanischen Nationalismus (auf die die nebenstehende Illustration anspielt) herumgesprochen.
Das ist ein wichtiger Punkt - gerade in Hinsicht auf die aktuellen Islamismus-Debatten kann man kaum deutlich genug sagen, dass nicht die jeweilige Religion aggressiv ist, vielmehr sind es jene Menschen, die Religion für ihre (in aller Regel ausgesprochen 'unreligiösen') Ziele instrumentalisieren und die unkritischen Gläubigen, die solchen Rattenfängern folgen. Dass Religionen missbraucht werden können, spricht nicht gegen Religion - aber um so mehr für einen vernünftigen Umgang mit ihnen.
Natürlich kann man darüber hinaus dann durchaus auch noch differenzieren. Man kann qualitativ differenzieren, also untersuchen, ob eine bestimmte Religion eher geeignet ist, Rechtfertigungen für Gewaltanwendung zu liefern als andere und wie hoch der jeweils dazu notwendige Aufwand an glattzüngiger Auslegung ist. Und man kann quantitativ diferenzieren, nämlich untersuchen, wie häufig und in welchem Umfang eine bestimmte Religion im Vergleich zu anderen schon dazu herhalten musste, Anwendung von Gewalt zu rechtfertigen. Beides steht natürlich in einem Zusammenhang. So oder so - der Buddhismus schneidet bei beiden Kriterien im Vergleich zu anderen Religionen nicht allzu schlecht ab. Trotzdem oder gerade deswegen bin ich an solchen Vergleichen eigentlich nicht interessiert. Mich interessiert eher, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen, um sie künftig zu vermeiden. Wobei das 'Vermeiden' mich natürlich auf mich selbst zurückwirft - auf mein eigenes Tun und Handeln, mein eigenes Verhältnis zu Gewalt.
Auf den ersten, naiven Blick erscheint das Problem Buddhismus und Gewalt einfach auflösbar: wenn Buddhisten Gewalt befürworten oder gar anwenden, ist dies Verfälschung und Missbrauch von Buddhas Lehre. Bei näherer Betrachtung jedoch ist eine solche Sicht wohl doch zu undifferenziert, zu holzschnittartig. Nehmen wir als ein (hoffentlich) solche vermeintliche Sicherheit irritierendes Beispiel den bekannten Friedensnobelpreisträger Tenzin Gyatso, bekannt als 14. Dalai Lama. Das Eintreten des Dalai Lama für eine gewaltlose Lösung der Tibet-Frage findet zu Recht weltweit große Anerkennung und Zustimmung. Die öffentliche Wahrnehmung sieht ihn in einer Reihe mit Mahatma Gandhi und Martin Luther King und auch er selbst nimmt gelegentlich auf diese großen Persönlichkeiten und ihre vorbildliche Art, politisches Engagement mit kompromisslosem Gewaltverzicht zu vereinbaren, Bezug.
Trotzdem scheint mir seine persönliche Haltung zur Gewaltfreiheit doch eine etwas andere zu sein. Mit anderen Worten: seine Einstellung zur Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele scheint mir in der Öffentlichkeit verzerrt wahrgenommen zu werden. Wenn ich verschiedene Äußerungen von ihm richtig verstehe, dann betrachtet er Gewalt – auch militärische Gewalt – durchaus als eine grundsätzlich akzeptable Option.
Konkret beziehe ich mich da vor allem auf zwei Äußerungen von ihm, deren Authentizität mir hinreichend sicher zu sein scheint. So sagt er in einem Interview mit John Avedon*:
»[John Avedon:] Einige Tibeter sprechen immer noch davon, ihr Land gewaltsam zurückzuerobern. Schließen sich Gewalt und Religion nicht gegenseitig aus? Sind sie irgendwie miteinander vereinbar? Oder ist das unmöglich? Welcher Auffassung sind Sie hierüber?
[Dalai Lama:] Sie sind vereinbar. Es hängt von der Motivation und vom Ergebnis ab. Wenn beide gut sind und die Umstände keine andere Alternative erlauben, ist Gewalt erlaubt.
[John Avedon:] Können Sie das noch etwas genauer erklären?
[Dalai Lama:]Ein gutes Motiv hieße hier, es im Interesse der Mehrheit der Menschen zu tun. Aber im Hinblick auf die tibetische Frage, da wäre natürlich ein bewaffneter Kampf Selbstmord.
[John Avedon:] Wegen der gewaltigen Überlegenheit der Chinesen?
[Dalai Lama:] Ja, deswegen.«
*John F. Avedon, An Interview with the Dalai Lama, Littlebird Publications, New York 1980. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Rüdiger Majora, Hasenzahl, München 1985, S. 33f
Die zweite Äußerung, die ich hier anführen möchte, fand ich in seiner von Claude Levenson verfassten und von ihm autorisierten Biografie**. Sie zitiert ihn wie folgt:
»Radikales Handeln und Gewalt können unter gewissen Umständen verständlich sein, nämlich wenn die Motivation uneigennützig, wenn der Beweggrund gerecht ist und wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. In diesem aus tieferer Einsicht stammenden Sinn ist Gewalt Gewaltlosigkeit, hat sie doch die Hilfeleistung an den anderen zum Zweck.
[...]
Es handelt sich dabei um eine Methode, nicht um einen Zweck. Bleibt keine andere Wahl mehr, dann ist sie verständlich, wenn nicht gar zu rechtfertigen. […] Um den anderen zu helfen, wenn wirklich alle anderen Mittel erschöpft sind, dann ist es zulässig. Die zornvollen Göttinnen und die erzürnten Götter sind da, um anzuzeigen, daß man zur Gewaltanwendung als Methode greifen kann, handelt es sich doch um ein wirkungsvolles Instrument, das aber nie und nimmer ein Zweck sein kann.«
**Claude B. Levenson, Le Seigneur du Lotus Blanc, Lieu Commun 1987. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Elisabeth Mainberger-Ruth, Paperback-Ausgabe Patmos 1998, S. 266f
Damit steht er offensichtlich auch in der Tradition seines Vorgängers, des XIII. Dalai Lama, in dessen Testament sich die deutliche Aussage findet: „Wende friedliche Methoden an, wenn sie angemessen sind; aber wenn sie nicht angemessen sind, dann zögere nicht, auf schlagkräftigere Mittel zurückzugreifen“.*** Eine Maxime, nach der der XIII. Dalai Lama im chinesisch-tibetischen Krieg 1930-33 auch handelte.
*** eigene Übersetzung, zitiert nach Glenn H. Mullin, Path of the Bodhisattva Warrior: The Life and Teachings of the Thirteenth Dalai Lama, Snow Lion Publications 1989, S. 112: “Use peaceful methods when they are appropiate; but where they are not appropiate, do not hesitate to resort to more forceful means”.
Dies nun zu werten bzw. meinen Lesern eine Wertung nahezulegen, ist nicht meine Absicht. Ebenso wenig soll im Folgenden versucht werden, die zitierten Aussagen zu begründen oder zu rechtfertigen. Es geht mir bei diesen Zitaten nicht - wie oben schon angedeutet - um politische Fragen, sondern vielmehr darum, an Hand eines populären 'role models' aufzuzeigen, dass man Gewalt aus buddhistischer Sicht offensichtlich sehr differenziert bewerten kann. Besonderes Augenmerk sollte hier der Unterscheidung zwischen "Methode" und "Zweck" gelten, auf die der XIV. Dalai Lama hinweist.
Es hilft wenig, wenn man Gewalt pauschal ablehnt, dabei den Begriff 'Gewalt' aber nur nach rein objektiven Kriterien definieren will. Das ist unrealistisch, welt- und menschenfremd. Selbst wenn wir ganz weitgefasst Gewalt definieren als 'Erzeugen von Leid', verlagern wir das Problem lediglich, ohne es zu lösen. Jemandem ein Bein abzuhacken erzeugt zweifellos Leid. Wenn man 'Gewalt' objektiv definieren will, fällt ein solches Handeln sicher unter eine solche Definition. Die entscheidende Frage ist aber doch, ob der Betroffene damit getötet oder verstümmelt werden soll oder man ihn mit einer Amputation vor dem Tod durch Wundbrand bewahren will. In letzterem Fall wäre eine solche Handlung zwar zweifellos leiderzeugend, aber (falls erfolgreich) auch heilsam. Aus diesem Grund ist nach buddhistischer Lehre eben nicht das objektive Handeln karmisch bedeutsam, sondern lediglich der Wille / die Absicht, die das Handeln motiviert.
"Es wurde ferner gesagt, daß man das Wirken (karma) zu erkennen hat, sowie seine bedingte Entstehung, seine Verschiedenartigkeit, sein Ergebnis, seine Aufhebung und den zu seiner Aufhebung führenden Weg. Warum aber wurde dies gesagt? Den Willen (cetana), ihr Mönche, bezeichne ich als das Wirken (karma), denn, sobald der Wille entsteht, vollbringt man das Wirken, sei es durch Körper, Sprache oder Geist."
Nibbedhika Sutta (A VI.63)
'Gewalt' als ethisches Problem lässt sich nicht trennen von dem das Handeln bedingenden Willen. Es ist dieser Wille, der einem ethischen Urteil unterworfen werden kann - und sollte. Buddha lehrte, dass es der Wille (cetana) ist, der dem Karma Gestalt gibt. Das nackte Handeln hingegen – ohne Berücksichtigung des Willens – lässt sich allenfalls nach Kriterien der Zweckmäßigkeit beurteilen. Genauer: es ist der Wille / die Absicht, der oder die einem ethischen Urteil unterworfen werden können. Das durch diesen Willen ausgelöste / motivierte Handeln hingegen kann lediglich danach beurteilt werden, wie weit es in Bezug auf den Willen zweckmäßig ist – geeignet, eben diesen Willen umzusetzen.
Das Problem in Diskussionen über Gewaltanwendung und ihre mögliche Rechtfertigung (und der Punkt, an dem häufig aneinander vorbeigeredet wird) liegt häufig in einem unterschiedlichen Zugang der miteinander Diskutierenden. Man kann moralische Dilemmata - beispielsweise den hypothetischen Fall, dass man mit dem Töten eines Menschen zehn anderen das Leben retten könnte - grundsätzlich auf zwei Arten angehen. Man kann sie vom Standpunkt einer normativen Ethik beurteilen und man kann sie vom Gesichtspunkt praktischen Handelns aus beurteilen.
Theoretisch-normativ zu argumentieren ist zunächst einmal recht einfach - man kann ethische Maximalforderungen aufstellen und moralischen Rigorismus predigen und das alles zunächst einmal fern jeder Gefahr, eine solche Radikalität auch selbst praktisch umsetzen zu müssen. Erfreulich (und anzuerkennen), wenn dann gelegentlich wenigstens Zweifel an der eigenen Fähigkeit, solch hochgesteckten Normen zu entsprechen, geäußert werden (nach dem Muster "ich hoffe, selbst nie in eine solche Situation zu kommen" ...). Zum Problem wird eine solche Haltung natürlich, wenn die Weigerung eines Anderen, sich vorbehaltlos einer theoretisch begründeten normativen Ethik zu unterwerfen (und deren Praktikabilität dabei außer Auge zu lassen) interpretiert wird als ein inhaltliches Verwerfen ethischer Ideale. Dann bedeutet diese Haltung eine Weigerung, die theoretische Ebene zu verlassen und man interpretiert Widersprüche zum Ideal, die sich aus praktischem Handeln ergeben, als ein Verwerfen eben dieser theoretischen Ideale und damit als das Propagieren einer anderen, einer 'zweifelhaften' Ethik. Es gibt nur eines, was einem fruchtbaren Dialog mehr im Wege steht, als der unausgesprochene Vorwurf, einer zweifelhaften Ethik zu folgen - nämlich diesen Vorwurf auszusprechen.
Auf der anderen Seite besteht bei einem rein praktisch Argumentierenden die Tendenz, die normative Ethik zu sehr zu relativieren oder gar zu entwerten. Ich persönlich bin der Auffassung, dass die buddhistische Ethik keine absoluten Verhaltensnormen kennt - das wäre ein Verstoß gegen den 'mittleren Weg' und es gibt darüber hinaus auch keine Instanz, die solch absolute Normen begründen könnte. Shakyamuni Buddha ist nun einmal kein 'Gesetzgeber' wie Jehovah, der seinen Propheten dem staunenden Volk absolute ethische Normen verkünden lässt und diesem dann lediglich deren praktische Umsetzung überlässt. Im Dharma gibt es keine transzendente Quelle ethischer Norm, weshalb buddhistische Ethik speziell von christlicher Seite auch gerne als reine Zweckethik abgetan wird. Was gar nicht so falsch, aber mE auch durchaus nicht ehrenrührig ist, da eben der Zweck kein selbstsüchtiger ist - geht es doch um die Überwindung von Duḥkha für alle fühlenden Wesen.
Es gibt im Dharma also keine absoluten ethischen Normen - aber es gibt Ideale. Klassisch ausgedrückt: 'Wege'. Wege, die gegangen werden sollen, Ideale, die eingeübt werden sollen, weil sie heilsam, kusala, sind. Diese 'Heilsamkeit' ist der schon angesprochene 'Zweck' jeglicher buddhistischen Ethik. Einer dieser 'Wege', der sicherlich wichtigste und zentrale, ist Ahimsa, Nicht-Verletzen.
Die ethischen 'Regeln', die wir als Buddhisten mit der Zufluchtnahme empfangen, sind alle auf die eine oder andere Art Ausdruck des Ideals 'Ahimsa' - Nicht-Verletzen mit Sprache, Körper und Geist. Ich sehe diese 'Regeln', seien es nun die Sikkhapada ('Sila') der Theravadin, die zenbuddhistischen Kai (Gelübde), oder sonstige Formen, nicht als ethische Normen (analog zu den christlichen 'zehn Geboten') sondern als Übungsfelder alltägllicher, sozialer Praxis. Ob nun beispielsweise "Töten von Lebewesen" mit den Regeln / Gelübden vereinbar ist oder nicht, ist nur ein Scheinproblem - eines auf der theoretischen Ebene. Das wirkliche Problem ist, dass "Töten von Lebewesen" gar nicht zu vermeiden ist. Wenn du Fleisch isst, tötest Du Tiere. Wenn du Vegetarier bist, tötest Du Pflanzen. Wenn du Penicillin schluckst, um eine Infektion zu bekämpfen, tötest du Bakterien. Wenn du dich als hingebungsvoller Asket zu Tode hungerst, tötest du dich selbst. Leben heisst Leben nehmen. Die Kai geben Ideale vor – Ideale, die im Samsara unerfüllbar sind, die jedoch - und das ist das Entscheidende - über Samsara hinausweisen.
Ein deutlich greifbareres Problem der Übung in Ahimsa (das spezielle, um das es in diesem Artikel geht) besteht darin, dass diese Übung nicht lediglich ein passives Unterlassen fordert (was manche Gelübdeformeln wie "ich gelobe, abzustehen von ..." nahelegen), sondern auch ein aktives Handeln, wenn es um das Wohl anderer Wesen geht. Damit fangen dann die praktischen Probleme an - dann stellt sich die Frage nach "Methode" und "Zweck" (um hier die Formulierung des Dalai Lama aufzugreifen) des Handelns. Es ist nun ein Merkmal speziell der Schulung im Zen, dass da recht viel Vertrauen in spontanes, unreflektiertes Handeln gesetzt wird und man weniger Wert auf starre Regeln legt. Dass dieses unreflektierte Handeln trotzdem 'kultiviert' werden muss, versteht sich.
Aus dem praktischen, alltäglichen Handeln ergeben sich zwangsläufig Konflikte mit dem Ideal Ahimsa. Insbesondere gilt dies für Haushälter (Upasaka/Upasika, 'Laienbekenner'), die nicht nur für sich selbst, sondern auch für Andere verantwortlich sind. Für ihre Kinder, für die Gesellschaft und die politischen Gemeinschaften, in denen sie leben. Ob es nun das Gemeinwohl ist oder das Wohl von Kindern oder von sonstigen Mitmenschen - es sind immer wieder Situationen möglich (und es sind jede Menge solcher Situationen vorstellbar), wo das persönliche Handeln in Konflikt mit dem ethischen Ideal gerät. Ja, wo ein Handeln entgegen diesem Ideal nicht nur gesellschaftlich toleriert, sondern sogar gefordert wird. Notwehr und Nothilfe sind die entsprechenden juristischen Begriffe.
Willentliche Gewaltausübung und insbesondere Töten ist unzweifelhaft ohne Wenn und Aber unheilsam. Allerdings sind Situationen (insbesondere Nothilfesituationen) vorstellbar, wo es akzeptabel sein kann, unheilsames karma auf sich zu nehmen - wenn es aus Mitgefühl und zum Wohl anderer Wesen geschieht. Das muss nicht gleich Töten sein, das gilt generell für die Anwendung physischer und auch schon verbaler Gewalt. Hier ergibt sich nun das Dilemma, dass ein Eingreifen unheilsam für einen selbst wäre - ein Nichteingreifen jedoch unheilsame Konsequenzen für Andere hätte. Hier das persönliche Heil über das Anderer zu stellen, ist nun eben gerade nicht heilsam.
Es gilt dann also, situationsgerecht zu handeln - d.h. nicht aus ich-bezogenen Antrieben heraus. Das kann dem Anschein nach objektiv Sila (der buddhistischen Ethik) widersprechen, in Anbetracht der Gegebenheiten jedoch trotzdem im Sinn von Sila optimales (bestmögliches) Handeln sein. Ich erinnere hier an das oben Erläuterte. Es ist der Wille (cetana), der einem ethischen Urteil unterliegt, während das durch den Willen bedingte Handeln selbst nach seiner Zweckmäßigkeit zu beurteilen ist. Was genau ist bei einer Gefahrenabwehr/Nothilfe zum Zeitpunkt der Tat der die Tat bedingende und verursachende Wille? Ist es der Wille zu töten? Oder ist es der Wille, Leben zu schützen / zu retten? Und ich rede hier nicht von Rationalisierungen, sondern von samskara, vorbewussten Willensimpulsen. Von Handeln, wie man es in der Praxis der Sila geübt, konditioniert hat. Wie das Handeln nun konkret aussieht, ist eine Frage persönlicher Fähigkeit, ist abhängig vom Stand der Übung. Buddha konnte einen in Panik geratenen Elefantenbullen mit einer Geste seiner Hand aufhalten und beruhigen. Ein weniger Fortgeschrittener wird dann vielleicht doch ggf. zu einem anderen Mittel greifen müssen.
Gerade Nothilfe und Gefahrenabwehr sind Situationen, wo sehr schwer zu beurteilen ist, wie da nun auf beste Weise Ahimsa zu üben wäre. Hier ist nach meiner persönlichen Auffassung das Sich-Zurückziehen auf abstrakte Normen, das Sich-Verweigern, das Nicht-Tun, der vielleicht bequemere Weg - ein schematisches Handeln nach theoretischen Idealen, einer normativen Ethik. Wer so handelt, sollte sich dann aber auch die Frage stellen, ob sein 'heilsames' Handeln doch nicht zu sehr einzig auf das eigene, persönliche Heil ausgerichtet ist. Das stellt ggf. die Selbstlosigkeit und damit die 'Heilsamkeit' schon recht deutlich in Frage. Aber - und das ist der entscheidende Punkt - in solchen Situationen folgt man eben nicht Überlegungen und theoretischen Er- und Abwägungen, sondern man handelt spontan. So, wie man es geübt hat. Mit dieser Übung ist hier natürlich nichts anderes als buddhistische Praxis, die Übung des achtfachen Weges, gemeint. Eine Übung, die andauert, so lange wir leben. In aller Regel (wenn man nicht gerade ein vollendeter Bodhisattva-Mahasattva ist) wird die Motivation des Handelns nicht 'rein' (ausschließlich durch Mitgefühl bestimmt) sein, selbst wenn der Wille zum Helfen im Vordergrund steht. Es ist das Ausmaß, in dem hier neben dem Willen zu schützen und zu helfen Antriebe wie Hass, Wut, Zorn, Angst usw. noch eine Rolle spielen, das für die karmische Unheilsamkeit der Tat in Bezug auf den Handelnden ausschlaggebend ist.
Notwendige Zwischenbemerkung - dieses Handeln, sei es so oder so, kann aus der Sicht des Dharma letzlich nur vom Handelnden selbst beurteilt und bewertet werden. Nur dieser selbst kann zweifelsfrei ergründen, wie weit sein Handeln von Ich-Verblendung, Gier und Hass beeinflusst oder frei davon war. Der Dharma gibt uns kein Gesetzbuch an die Hand, nach dem wir das Handeln Anderer bewerten können. Übrigens ist nach meiner Überzeugung genau das auch der eigentliche Sinn gewisser Jataka-Geschichten von (zum höheren Zweck, versteht sich) tötenden Bodhisattvas, die in diesem Zusammenhang immer gerne angeführt werden. Es geht dabei meines Erachtens gar nicht um Rechtfertigungstrategien für das Töten; es geht nach meinem Verständnis darum, dass zuverlässige ethisch-moralische Urteile über das Handeln Anderer nicht möglich sind, solange das Wissen über den Bedingungszusammenhang, in dem dieses Handeln stattfindet, nicht vollständig ist. Dieses vollständige Wissen über den Bedingungszusammenhang (pratityasamutpada) ist nichts anderes als bodhi, Erwachen / Erleuchtung.
Leider – oder vielmehr sollte ich sagen zum Glück - lässt sich Handeln nur selten so lange aufschieben, bis die richtige Einsicht dämmert. Wir müssen schon mit dem bißchen Einsicht handeln, das wir haben. Eben das ist Übung, ist Praxis – und nur durch sie entwickelt sich Einsicht. Sich den konkreten Anforderungen im Alltag zu stellen, nicht ihnen auszuweichen, ist buddhistische Praxis - und das theoretische Erörtern konstruierter Fälle hilft dabei wenig. Meistens soll mit solchem Theoretisieren etwas gerechtfertigt werden - siehe das einleitende Zitat. Solche "hidden agendas" (denn das zu Rechtfertigende wird allzu häufig nicht ausgesprochen) bergen selten Heilsames. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sich natürlich auch die Dalai Lama - Zitate noch einmal näher anschauen - wobei man sich des schwachen Fundaments eines daraus gebildeten Werturteils bewusst sein sollte ...
Wie wir ganz persönlich mit in ethischer Hinsicht problematischen Situationen umgehen, das ist unser Übungsfeld, das wir zu kultivieren und zu entwickeln haben. Das ist nichts anderes, als wenn ich sage, dass wir so handeln, wie wir es mit unserer buddhistischen Praxis - was im Fall eines Zenbuddhisten Zazen bedeutet - einüben. Jeder so gut er kann. Bei der Einübung mögen wir auf Ideale zielen (auch, wenn es besser ist, dies nicht zu tun) – aber in dem Moment, wo wir tatsächlich handeln, ist das Ziel ohnehin vergessen. Dann handelst du so, wie du geworden bist – nicht, wie du sein willst. Und gerade dies ist dann auch Praxis.
Trotz des "nicht zielen" - das Kultivieren des Übungsfeldes kann nur gelingen, wenn wir dabei den Weg und das Ziel in einem anderen Sinn nicht aus den Augen verlieren. Das heisst, wenn wir die ethischen Ideale, denen wir dabei ziellos folgen, nicht als bloße Theorie ohne Wert abtun. Die angesprochenen problematischen Situationen müssen sich dabei gar nicht übermäßig dramatisch darstellen. Die Frage, wie wir in unserer Praxis, unserem täglichen Handeln, dem Ideal Ahimsa folgen, stellt sich schon bei so alltäglichen Dingen, wie wir im Sommer mit den Stechmücken in unserem Schlafzimmer umgehen, mit den Flöhen, die unsere Katze (und womöglich uns selbst) belästigen. Wie wir es mit dem Fleischverzehr halten und und und ... Da geht es ganz konkret um Ahimsa - und unser praktisches Verhalten genau hier zu klären und so unsere Praxis auszuüben ist sicherlich sinnvoller, als theoretisch über die ethische Bewertung eines Attentates auf Hitler zu sinnieren, einer militärischen Befreiung Tibets oder über Bedrohungen unserer Kinder und ob wir bereit oder doch zumindest fähig wären, zu ihrem Schutz zu töten.
Dabei geht es immer um unsere eigenen, konkreten Entscheidungen, unser eigenes Karma. Hüten wir uns davor, unser Handeln oder - noch schlimmer - womöglich gar lediglich unsere Ideale, Vorstellungen und Theorien zu einer allgemeingültigen Norm zu erheben und sie mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit zu vertreten. Das mag etwas mit Religion zu tun haben - aber nicht mit dem Dharma. Allgemeingültige Normen sind lediglich ein gesellschaftliches Produkt - es sind die Regeln und Gesetze, die das Zusammenleben der Gesellschaft regeln und auf deren Einhaltung die Gesellschaft einen Anspruch hat. Einen Anspruch, dem wir uns im Falle eines Gewissenskonfliktes ggf. auch verweigern dürfen. Monotheistische Religionen folgen in ihrer Ethik für gewöhnlich diesem Schema, wobei 'Gott' den Platz der Gesellschaft einnimmt. Der Dharma tut es jedoch nicht.