(Hosekei Hisamatsu Shin'ichi, 1889–1980)
Der Begriff 'karma' kommt nun ins Spiel, wenn das Setzen einer einzelnen Ursache oder Bedingung auf einen Willensimpuls zurückgeht, somit eine karmische Frucht (phala) erzeugt wird. Anders gesagt - es handelt sich um das Ins-Sein-Treten von samskara ('Willensprojektionen'), dem 2. nidana/Faktor von pratityasamutpada ('wechselseitig bedingtem Entstehen') durch Handlungen mit Körper, Sprache und Geist. Häufig wird nun (auch in buddhistischen Schriften) nicht unterschieden zwischen karma, dem 'motivierten Handeln', und der daraus entstehenden Veränderung (durch Setzen einer neuen Ursache oder Bedingung) der Situation, also der Frucht (phala) des Handelns.
Dies macht in gewisser Hinsicht durchaus Sinn - weil Ursache und Wirkung eigentlich nicht voneinander getrennt sind. Wir nehmen Kausalität 'gerichtet' wahr, also wie ein Vektor in eine Richtung verlaufend. Diesen 'Richtungsvektor' nennen wir Zeit - Zeit ist aber (wie auch der Raum) nichts als ein Konstrukt. Zeit und Raum sind die Struktur der Realität, sie sind die Form der Leere - 'Leere' hier in buddhistischen Sinne als 'leer von inhärentem Sein' zu verstehen. Raum und Zeit als Form (rupa) gibt Empfindungen, Wahrnehmungen, dem analytischen und synthetischen Denken sowie den karmisch wirksamen Willensimpulsen Kohärenz - das Zusammenspiel dieser Faktoren (skandhas) ist es, das Realität als empirische Erfahrung erschafft.
Wir spechen von 'Leere' (sunyata), weil dieser Realität wie auch ihren einzelnen, scheinbar durch Raum und Zeit voneinander geschiedenen Momenten (dharmas) kein inhärentes Sein zukommt. Inhärenz ist ein ontologischer Kernbegriff - in der abendländischen Philosophie steht 'Inhärenz' für das Verhältnis der Eigenschaften (Akzidenzien) zu einem postulierten Träger dieser Eigenschaften, der Substanz. Insbesondere ist es das Sein der Eigenschaften, das als 'inhärent', als 'ererbt' von einer Substanz bezeichnet wird. Kant z.B. bezeichnet die Eigenschaften oder Akzidenzien als 'das Reale in der Substanz', insofern als allein die Akzidenzien empirisch erfahrbar sind. Wird diesem 'Realen in der Substanz' nun ein besonderes Dasein beigelegt, so bezeichnet man dies nach Kant als Inhärenz; das Dasein der Substanz wiederum wird als Subsistenz ('Zu-Grunde-liegendes-Sein') bezeichnet.
Wird nun das sinnlich-empirisch Erfahrbare als leer von inhärentem Sein aufgefasst, so bedeutet dies, dass das Erfahrene keinem 'Ding an sich' zuzuordnen ist, auf keine Substanz verweist, die diese erfahrenen Eigenschaften 'hat' bzw. ihr eigenes Sein den Eigenschaften vererbt. Es wird damit nicht der Realität bzw. dem Sein der Erfahrung widersprochen (was offensichtlich unsinnig wäre), doch dieses Sein wird eben nicht als inhärent - als auf etwas jenseits der Erfahrung Stehendes, ein 'Ding an sich' bezogen - aufgefasst. Das Einzige, worauf die Erfahrung bezogen ist, ist der Erfahrende. Die in der Erfahrung wahrgenommenen 'Eigenschaften' sind also nicht Eigenschaften von etwas; sie sind nichts außerhalb ihrer selbst 'zu eigen'.
Die mahayanisch-buddhistische Position, die das Seinsmerkmal (laksana) 'anatman' als 'leer von einem inhärenten Sein' definierte, entstand vermutlich als Gegenposition zur hinduistischen Vaisesika-Philosophie, die sechs Kategorien (padartha) des Seins definierte: dravya (Substanz, Materie), guna (Akzidens, Eigenschaft), karma (Handeln), samanya (Allgemeinheit), visesa (Unterschiedenheit) und samavaya. Dieses 'samavaya' ist es, das gewöhnlich mit 'Inhärenz' wiedergegeben wird. Es steht (etwas allgemeiner als in der abendländischen Philosophie) für Relationen zwischen einem Über- und einem Untergeordneten - also z.B. für die Relation zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, zwischen Substanz und Akzidens, zwischen Generellem und Speziellem. Der Buddhismus wiederum verwirft solche hierarchischen Relationen, Bezüge auf etwas Transzendentes, jenseits der Erfahrung Liegendes. Das 'Ganze', die 'Substanz', das 'Generelle' - das sind alles nur abstrakte Gedankenkonstruktionen, denen keinerlei konkrete Realität zukommt. Das ist eine Konsequenz der anatman-Lehre.
Somit sind auch Zeit und Raum nicht nur die Form dieser Leere, ihre Struktur, die im Zusammenwirken mit den anderen skandhas deren empirische Gestalt erstehen lässt. Sie sind selbst 'leer' von einem Für-sich-Sein; nur im Zusammenwirken der Faktoren der empirischen Erfahrungswelt, durch die sich das empirische Ich setzt (skandhas) und im Konditionalnexus der Faktoren wechselseitig bedingten Ins-Sein-Tretens (pratityasamutpada) treten sie gemeinsam mit ihren Ko-Faktoren und in Abhängigkeit von ihnen ins Sein. Der 'Ort', wo sie scheinbar selbstständig und unabhängig ins Sein treten, ist einer dieser Ko-Faktoren im Modell der skandhas wie auch im Modell pratityasamutpada - das unterscheidende Denken (vijnana).
Daher sind Ursache und Wirkung, sind karma (die dem Willensimpuls folgende Tat) und phala (dessen Frucht) nur im unterscheidenden Denken getrennt. Tatsächlich existieren weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern lediglich der sich stetig wandelnde Moment, der mit einem Begriff wie 'Dauer' nicht zu fassen ist. Dogen nennt dies 'Uji', 'Sein-Zeit'. Die 'Zeit' in dieser 'Sein-Zeit' deutet nicht auf einen bestimmten Ort, einen bestimmten Moment in der Zeit, in der ein Seinsmoment erscheint - diese 'Zeit' ist nicht von 'Sein' als Ganzem zu trennen. 'Sein-Zeit' verweist nicht auf ein 'vorher' oder 'nachher', 'Sein-Zeit' verweist ausschließlich auf das dynamische Jetzt. Dieser dynamische Charakter ist neben dem schon genannten 'anatman' das zweite 'Seinsmerkmal' der buddhistischen Ontologie - anitya. Das letzte und dritte der Seinsmerkmale ist schließlich 'duhkha' - ein Begriff für die spezifische Qualität der Seinserfahrung, die sich aus einer kognitiven Fehlhaltung ('falscher Sicht') speist - namentlich der Nicht-Erkenntnis von anitya und vor allem anatman. Diese 'falsche Sicht', das Ausgehen von falschen Voraussetzungen, setzt dem Wollen Ziele, deren Verfolgung zwangsläufig zur Erfahrung permanenter Frustration führt - duhkha.
Wenn Vergangenheit (die Richtung, aus der der 'Vektor' Zeit kommt) und Zukunft (die Richtung, in die der Vektor zeigt) nur durch die Dynamik des ewigen Jetzt (Meister Eckart nennt es die 'ewige Geburt') bedingte Projektionen sind, reine Gedankenkonstrukte unterscheidenden Denkens, dann gilt dies auch für eine (in der Vergangenheit liegende) Ursache und eine (in der Zukunft) darauf folgende Wirkung. Ursache und Wirkung, karma und phala, sind insofern 'gleichzeitig'. Daher ist auch pratityasamutpada nicht eine sich zyklisch wiederholende 'Abfolge' von 12 Gliedern (nidana), sondern vielmehr ein vernetztes Gefüge, ein morphologisches Modell des Seins. Dieses Sein enthält einen Impuls (den wir als 'Vektor' wahrnehmen) und dieser Impuls wiederum ist der aus 'Trübungen' (kleshas) von Soheit (tathata) entstehende Wille. Cetanaham bhikkave kammam vadami - 'den Willen, ihr Mönche, nenne ich karma', lehrte Shakyamuni.
Die Gleichsetzung von karma und phala sollte keinesfalls dazu verführen, karma als Fatum, als verhängtes Schicksal zu verstehen. Es ist karma - individuelles Wollen - das die Erfahrungswelt als Frucht, phala, dieses Wollens, in einem ganz entscheidenden Punkt verursacht und bedingt. Dieser Punkt ist die oben angesprochene Qualität der individuellen Seinserfahrung. WAS es erfährt, darauf hat das Individuum nur einen sehr begrenzten Einfluss - da ist es bis auf einen winzigen Rest Produkt von Ursachen und Bedingungen, die außerhalb seiner Kontrolle liegen. Was allerdings der Kontrolle unterliegt, das ist das WIE individueller Seinserfahrung. Anders gesagt - ihr karmisch bedingter Aspekt.
Wenn dieses WIE, die Qualität, karmisch bedingt ist, stellt sich zunächst die Frage, wie weit unsere Motive, unser Handeln und die daraus entstehenden Folgen determiniert sind. Mit anderen Worten - ist der Wille, der ja primär aus Unwissenheit (ich hatte dies mit 'Trübungen' und 'falsche Sicht' bereits angesprochen) und sekundär aus Gier und Hass (ein Freudianer würde hier eher von 'Lust' und 'Unlust' als grundlegenden Antrieben sprechen) heraus entsteht, ein freier Wille? Die Beantwortung dieser Frage hat weitreichende Konsequenzen - nicht nur für die Verantwortlichkeit des Handelns in ethischer Hinsicht, sondern auch für die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen Befreiung (moksha) von duhkha möglich ist, eine andere Erfahrung des Seins. Letzlich: ob wir überhaupt etwas zur Befreiung tun müssen oder können. Hier haben die buddhistischen Traditionen durchaus unterschiedliche Antworten gefunden - wie auch die Christen in der ähnlich gelagerten Frage der Prädestination.
Welchen Standpunkt man hier einnimmt, ist letztlich eine Frage der persönlichen Ausgangsvoraussetzungen - und damit der daraus abzuleitenden Praxis. Dies ist jedenfalls die Position, die Grundlage des Ekayana/'einen Fahrzeugs' und der Upaya-Lehre des Lotus-Sutra ist. Der Shin-Buddhismus beispielsweise nimmt in dieser Frage gewissermaßen eine Extremposition ein - jegliche persönliche Anstrengung ist letzlich kontraproduktiv, da sie eine Anstrengung des Willens (eigene kraft, joriki) voraussetzt - und es doch gerade dieser persönliche Wille ist, der einer Befreiung im Wege steht. Trotzdem gibt es eine shin-buddhistische Praxis - die des Vertrauens in die 'fremde Kraft' (tariki), die Kraft Amida Buddhas. Zen scheint da zunächst eine ebenso extreme Gegenposition einzunehmen. Statt dies nun weiter auszuführen, möchte ich aus einem mündlichen Vortrag von Kobun Chino Rôshi zitieren:
"Es ist ein bedeutender Charakterzug von Zen. Das Gefühl 'Ich selbst muss es tun. Ich kann nicht Andere bitten, es für mich zu tun.' Wenig verschieden von selbstgerecht .... Joriki und tariki sind traditionelle Begriffe. Joriki ist eigene Kraft; tariki ist andere Kraft. Dies entstand aus dem Unterschied zwischen Zen und der Schule des Reinen Landes. Im Zen hilft dir nicht einmal Buddha, erleuchtet zu werden. In der Schule des reinen Landes kannst du selbst überhaupt nichts tun, nur Buddha kann dies. Amitabha Buddha kann dich retten. Das sieht nach einer ganz anderen Idee aus. Aber die Wurzel ist dieselbe, die Erscheinung ist ein wenig unterschiedlich. Bei joriki - wenn das Selbst ich-zentriert oder selbst-zentriert ist, ist es nicht wahres joriki. Das wäre ein Missverständnis, als würde ein Fisch sagen 'ich bin ein Hund'. Es wäre nicht das wahre Selbst. Joriki ist das joriki Buddhas, die wahre Natur von allem, jeder Person - und tariki ist dasselbe. Was sich unterscheidet, ist was du mit joriki meinst. Ist dies deine Kraft oder das joriki Buddhas? Und tariki ist die Kraft der anderen Person oder Buddhas Kraft. Die Wurzel ist dieselbe: Nicht-Selbst. Nicht-Selbst ist die Wurzel, die gleiche Wurzel."
Offensichtlich führt die Frage nach dem Determinismus in die Irre - weil wir auf der Ebene, in der wir uns als ein 'Ich' erfahren, determiniert sind, obwohl wir selbst uns bei naiver Betrachtung für aus freiem Willen Handelnde halten. Dieser Wille operiert zwar nicht blind, aber instinktiv aus der Perspektive eines unabhängig für sich existierenden Ich, das sich Ursachen und Bedingungen entspechend zwar wandelt, jedoch eine diesem Wandel unterworfene Substanz hat - einen atman, eine Seele. Das ist die tiefste Ursache der bereits angesprochenen 'kognitiven Fehlhaltung'. Dieser vermeintliche individuelle Wesenskern ist Bezugs- und Ausgangspunkt für alle Projektionen des Willens, die entsprechendes Handeln auslösen - karma. Dieser Bezugspunkt gibt das Maß für Wertungen, er liefert die Kriterien dafür, was ergriffen und was abgewehrt wird - und ist damit der Auslöser für duhkha. Denn weil nichts einen beständigen Wesenskern hat, nichts Substanz hat, kann das Ergriffene nicht auf Dauer festgehalten und das Abgewehrte nicht auf Dauer ferngehalten werden. 'Alle Lust will Ewigkeit' heisst es im 'Zarathustra' - doch dieses Wollen ist unerfüllbar. Der Wille ist determiniert durch die Zwänge, die durch eine falsche Sicht der Wirklichkeit gesetzt sind. Er stößt ins Leere, er greift nach Schatten.
Auf der Ebene des 'wahren Selbst' sind wir absolut frei - aber dieses 'wahre Selbst' (das beileibe kein 'wahres Ich' sondern vielmehr 'wahres Nicht-Ich' ist) manifestiert sich in einem determinierten Ich. Dies gibt uns einen Schlüssel für das Verständnis der Praxis des Zazen - Zazen ist keine Willensanstrengung, sondern das Verlieren dieser determinierten Form, ist einfach 'jinshin datsuraku' ('Abfallen von Körper-und-Geist'). Es ist das Aufgeben der ich-zentrierten Form des Selbst, wodurch das formlose 'wahre Selbst' frei zu handeln und frei im Handeln wird.
"He Bonze!
Wunder über Wunder!
Du machst heute Zazen?"
"Klar doch!"