Mittwoch, 23. Dezember 2009

Buddha-Natur, Geist und Atman - Teil II

Buddhismus und Hinduismus sind aus dem Brahmanismus entstanden. Der Buddhismus ausdrücklich als Gegenbewegung zum bestehenden Brahmanismus und zum gleichzeitig entstehenden Hinduismus, wie er sich in den frühen Upanischaden abzeichnete und zwar insbesondere in scharfem Gegensatz zur atman/brahman – Lehre. Eine treffende Beschreibung für den Dharma ist 'anatmavada', weil die anatman-Doktrin eben DAS Merkmal ist, worin sich der Dharma von allen anderen aus dem Brahmanismus entstandenen Systemen unterscheidet.

Shakyamuni bezog in diesem entscheidenden Punkt eine explizite Gegenposition zum 'Mainstream' indischen Denkens. Wenn wir uns nun also fragen, welches die Position ist, gegen die er sich wandte, was also für Shakyamuni der 'atman' war, den er ablehnte, so müssen wir uns bei seinen Zeitgenossen umsehen.

Mit einiger Wahrscheinlichkeit kannte Shakyamuni die Veden, die Brahmanas und die älteren Upanischaden. Bei den mittleren Upanischaden oder der Bhagavad-Gita ist dies zumindest zweifelhaft, jedoch zeichnet sich schon in den älteren Texten ausreichend deutlich eine Entwicklung ab. Der 'atman' wird als Essenz der Person, des Individuums aufgefasst - eine unzerstörbare und unvergängliche Essenz. Gleichzeitig ist dieser 'atman' identisch mit dem 'brahman', einem absoluten Seinsgrund. 'Atman' ist gewissermaßen die Individuation des 'brahman'. 'Atman' wäre also zunächst mit (wahres) Selbst zu übersetzen. Die Übersetzung 'Seele' macht sicher auch Sinn (wenn man gleichzeitig 'brahman' mit 'Weltseele' übersetzt), allerdings sollte man sich dabei bewusst sein, dass der Begriff 'Seele' aus einem ganz anderen geistesgeschichtlichen Kontext stammt. Wenn man Begriffe zu leichtfertig gleichsetzt, führt dies notwendig zu Unschärfen. Trotzdem lässt sich Buddhas Position zu 'atman' und 'brahman' grundsätzlich durchaus auch auf die Konzepte 'Seele' und 'Gott' anwenden - in beiden Fällen handelt es sich per definitionem um Substanzen/Essenzen mit einem nicht-bedingten 'Eigensein' (svabhava).

Ein weiteres Problem ist, dass zu Shakyamunis Zeiten die oben angedeutete Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen war - vor allem die verwendeten Begriffe sind nicht einheitlich. Die Bedeutungen von 'atman', 'brahman' und verwandten Begriffen (etwa 'purusa', 'prana') schwanken je nach herangezogenem Text und sind auch in den Texten selbst nicht immer eindeutig und fest (konsistent). Nach all diesen Einschränkungen nun noch ein paar wenige Textproben, die Shakyamuni vermutlich kannte und auf die (u.a.) er sich bei der Formulierung der anatman-Doktrin wohl implizit bezog (Übers. Alfred Hillebrandt).

"Die Welt war anfangs Brahman. Er schuf die Götter und nach ihrer Schöpfung setzte er sie einzeln in die Welten ein ... Der Brahman aber selbst ging nach der entgegengesetzten Seite. Nach der entgegengesetzten Seite gegangen, überlegte es: 'wie möchte ich in diese Welten wieder hinabgehen?' Es ging mittels zweier Dinge, nämlich mittels Name und Gestalt [namarupa] in sie wieder hinab. Was immer einen Namen trägt, das ist eben Name; was aber keinen Namen trägt und, indem man sich sagt, 'diese Gestalt ist das', an seiner Gestalt erkennbar ist, das ist Gestalt. So weit reicht diese Welt, wie Name und Gestalt."
(Shathapatha-Brahmana XI)

"Am Anfang war hier nur das Selbst; es war wie ein Mensch. Es blickte um sich und sah nichts anderes als sich selbst. 'Das bin Ich' war sein erstes Wort.
[...]
Die Welt war damals noch nicht (nach Name und Gestalt) geschieden. Sie schied sich nach Name und Gestalt. ... Das (Selbst) ist (in alles) bis in die Nagelspitzen eingegangen. Wie das Messer in der Scheide verborgen liegt, wie das Feuer im Reibholz, so nimmt man es nicht wahr. Denn es ist zerteilt.
Wenn es atmet, ist 'Atem' sein Name; wenn es spricht, ist 'Rede' sein Name; wenn es sieht, ist 'Auge' sein Name; wenn es hört, ist 'Ohr' sein Name; wenn es denkt, ist 'Verstand' sein Name. All das sind nur Namen für seine Tätigkeiten. Der weiß das nicht, der nur die Einzelerscheinungen verehrt. Denn es ist zerteilt und tritt nur als Einzelerscheinung auf. Er soll nur den Atman verehren; denn in ihm werden all diese Einzelerscheinungen (Atem, Rede, Auge) zur Einheit. Darum ist der Atman ein Weg zu allem.
[...]
Nur den Atman soll er als die Welt verehren. Das Werk dessen, der nur den Atman als die Welt verehrt, wird nicht zunichte. Denn aus diesem Atman schafft er sich alles, was immer er nur begehrt."
(Brihad-Âranyaka-Upanishad I)

"In der Brahmaburg (des Leibes) ist eine kleine Lotosblüte als Behausung. Darin ist ein kleiner Innenraum. Was in diesem sich befindet, muß man erforschen, das muß man zu erkennen suchen. Wenn sie zu ihm sagen sollten: 'In der Brahmaburg ist eine kleine Lotosblüte als Behausung. Darin ist ein kleiner Innenraum. Was befindet sich darin, das man erforschen, das man zu erkennen suchen muß?', so möge er sagen: 'So groß wie hier dieser Raum, so groß ist der Raum im Innern des Herzens. Himmel und Erde sind beide darin enthalten, Agni und Vâyu beide, Sonne und Mond beide, Blitz und Gestirne; was hier (des Menschen) ist und was nicht, das alles ist darin enthalten.'
Wenn sie zu ihm sagen sollten: 'Wenn hier in der Brahmaburg alles enthalten ist, alle Wesen sowohl als alle Wünsche, was bleibt davon übrig, wenn das Alter sie befällt oder sie zugrunde geht?', so möge er sagen: 'Nicht wird sie durch sein (des Menschen) Alter morsch, noch durch seine Tötung vernichtet. Dies ist die wahre Brahmastadt (welche bestehen bleibt und nicht mit dem Körper gleichbedeutend ist). In ihr sind alle Wünsche enthalten. Dies ist das Selbst. Es hat alle Übel abgeworfen, ist frei von Alter, Tod, Kummer, Hunger, Durst; wahrhaft in seinem Verlangen, wahrhaft in seinem Entschließen.
[...]
Welches Ziel er immer begehrt, nach welchem Wunsche er verlangt, all das erhebt sich auf seinen Willen. ... All die wahrhaften Wünsche sind mit Unwahrheit überdeckt. ... Wie man über einen verborgenen Goldschatz, dessen Stelle man nicht kennt, immer wieder hinwegläuft, ohne ihn zu finden, so finden alle diese Geschöpfe die Brahmawelt, obwohl sie Tag um Tag (schlafend) in sie eingehen, nicht. Denn sie sind durch Unwahrheit gebannt. Dies Selbst ist im Herzen. ... Wer so weiß, geht Tag um Tag in die Himmelswelt ein.'
'Die selige Ruhe, die aus diesem Körper aufsteigt, in den höchsten Glanz eingeht und in ihrer eigenen Gestalt zur Vollendeung kommt, die ist der Atman', so sprach er. 'Das ist das aller Gefahr entrückte Unsterbliche, das ist das Brahman. Dieses Brahman führt den Namen satya.' sattiya: das sind drei Silben: sat, das ist das Unsterbliche; ti ist das Sterbliche; mit yam hält er beides fest. Weil er damit beides festhält, darum heisst es yam. Wer so weiß, geht Tag für Tag in die Himmelswelt ein.
Das Selbst ist die Brücke, die die Welten trennt, damit sie nicht zusammenstürzen. Tag und Nacht, Alter, Tod, Kummer, gute und schlechte Tat überschreiten diese Brücke nicht."
(Chândogya-Upanishad VIII)

Möglicherweise wird aus diesen Zitaten klarer, WAS Shakyamuni mit seiner anatman-Doktrin VERWARF und der Leser wird nach einiger Prüfung für sich auch die Frage beantworten können, wieweit damit auch christlich-abendländisch geprägte Konzepte wie 'Seele' und 'Gott' verworfen wurden. Aus buddhistischer Sicht kann es hier keinen Kompromiss geben - es ist ja nach Shakyamunis Lehre gerade der Glaube an die Existenz eines atman, der die tiefste Wurzel von duhkha ist – also ist es die Essenz des Dharma, gerade an der Rodung dieser Wurzel zu arbeiten. Der Weg, der 'Yoga', der der in den obigen Zitaten skizzierten Metaphysik (brahma-vidya) entspricht, ist dagegen ganz im Gegenteil die Suche nach dem 'wahren Selbst', dem atman. Ein Weg, den der Buddha ja selbst zunächst ebenfalls ging und den er dann nach gründlicher Erprobung verwarf. Hier existiert in der Ausrichtung der Praxis ein grundsätzlicher Widerspruch, ist diese im Buddhadharma doch auf die Einsicht in die Leere der skandhas (der Komponenten, aus denen die Person zusammengesetzt ist) gerichtet.

Die skandhas sind wie die Schalen einer Zwiebel. Du kannst die Zwiebel schälen - und du wirst unter den Schalen nichts finden, keinen Kern, keine 'Essenz der Zwiebel', keinen atman und keine Seele. Gemeinsam funktionieren die Schalen als Zwiebel - aber von keiner einzelnen Zwiebelschale kann man sagen, sie sei die Zwiebel, sie enthalte ihr 'wahres Wesen'. Und wenn man sagt, alle Schalen enthielten das 'wahre Wesen' der Zwiebel - was wäre dann der Unterschied zwischen Zwiebel und Schale? Der Unterschied ist aber da und er ist erheblich - die Zwiebel lebt, die Schalen nicht ...

Buddha-Natur, Geist und Atman - Teil I


Dieser Versuch einer Klärung von Begrifflichkeiten entstand ursprünglich anläßlich einer Polemik Hans Grubers (nein, gemeint ist NICHT der Oberfiesling aus 'Stirb langsam') - hier zu lesen:
Der Diskussion im Internetforum der DBU
entzog sich Herr Gruber leider recht schnell.

Da - wie Herr Grubers Polemik zeigt - Begriffe wie 'Buddhanatur' oder 'Wahres Selbst' bei nur oberflächlicher Auseinandersetzung mit ihnen leicht zu irrigen Auffassungen führen können, habe ich das Thema etwas ausführlicher behandelt und um einen zweiten Teil, der sich mit der Genese von Buddhas anatman-Lehre beschäftigt, ergänzt.

Zum Thema Buddha-Natur (buddhatâ, chin. fóxìng, jap. busshô) ist zunächst zu sagen, dass es sich dabei um eine Lehre handelt, die nicht in allen buddhistischen Schulen anerkannt ist. Eine besondere Rolle spielt der Begriff jedoch im fernöstlichen Buddhismus (China, Japan, Korea ...). Buddha-Natur ist ein allen empfindenden Wesen angeborenes Potential, es ist potentielle bodhi (Erleuchtung / Erwachen). Dieses Potential bedarf der Kultivierung, um Frucht zu tragen. Insofern ist es gleichbedeutend mit tathagatha-garbha, dem 'Schoß der Soheit' oder Keim der Erleuchtung.

Entsprechend werden drei Arten der Buddha-Natur unterschieden: die allen Wesen inhärente Buddha-Natur (gewissermaßen das Grundpotential), die durch die Übung des achtfachen Pfades herausgebildete Buddha-Natur und die aus der vollständigen Entfaltung des ursprünglichen Potentials entwickelte Buddha-Natur des Erwachten (jishôjû busshô, inshutsu busshô und shitokura busshô). Insbesondere wird die durch Übung herausgebildete Buddha-Natur (inshutsu busshô) von Buddha-Natur als Prinzip (ri busshô) unterschieden. Dieses Prinzip, dass die Buddha-Natur allen fühlenden Wesen als Potential inhärent ist, ist shôin, die grundlegende direkte Ursache (nach dem Mahaparinirvanasutra eine von drei) der aktualisierten Buddhanatur. Die anderen beiden Ursachen sind 'aktivierend', es handelt sich um die bedingende Ursache (Dharma-Praxis) und die enthüllende Ursache (prajna).

Im Aspekt shôin busshô – inhärente Buddha-Natur als Potential und direkte Ursache der aktualisierten, aktiven Buddha-Natur - wird sie mit sunyatâ (Leere) oder tathatâ (Soheit) identifiziert. Keinesfalls aber mit einem höchsten Selbst oder transzendenten Wesen; wie gesagt, ist Buddha-Natur ein Potential bzw. ein (Wirkungs-)Prinzip, nicht etwas tatsächlich Existierendes. Der Unterschied ist derselbe wie der zwischen 'Stein' und 'Schwere' – der Stein ist nach konventioneller Auffassung etwas real Existierendes, ein Ding - Schwere aber ein Prinzip, ein Potential. Das 'wahre Selbst', von dem z.B. im Zen gelegentlich gesprochen wird, ist gerade eben KEIN Selbst – im Gegenteil, es ist etwas völlig anderes. Das ist mit 'wahr' gemeint.

Buddha-Natur (buddhatâ, eigentlich eher 'Buddhaheit') wird also in ihrem Aspekt als die allen Wesen inhärente (d.h. untrennbar mit ihnen verbundene) direkte Ursache (als Potential) der aktualisierten Buddha-Natur (des verwirklichten Potentials) mit sunyatâ (Leere) oder tathatâ (Soheit) / bhûta-tathatâ (So-Sein) identifiziert. Eine andere Identifikation ist die mit dem âlaya-vijnâna (Speicherbewusstsein) – entscheidend ist dabei jeweils der Zusammenhang, in dem etwas verdeutlicht wird. So wird man etwa von bhûta-tathatâ sprechen, wenn man in einem ontologischen Zusammenhang argumentiert (das Sein als solches untersucht). Von âlaya-vijnâna wird man eher in einem psychologischen Zusammenhang sprechen, wenn man Bewusstseinsformen und ihre Relationen untersucht. Das im Abendland gelegentlich genannte 'Geisteskontinuum' könnte man als eine Übersetzung von âlaya-vijnâna auffassen. In diesem speziellen Zusammenhang (Geist - Sein) wäre allerdings der Begriff tathâgata-garbha (Schoß der Soheit) geläufiger als Buddha-Natur. Diese unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die grundsätzlich dasselbe meinen, stammen aus unterschiedlichen didaktischen Ansätzen, denen auch unterschiedliche philosophische Schulen entsprechen - insbesondere das madhyamaka und das cittamatra oder vijnanavada. Weitere mögliche Identifikationen mit dieser inhärenten Buddhanatur sind der dharmakaya (Dharma-Körper) der trikaya-Lehre oder der dharmadhatu ('Dharma-Reich'). Um dasselbe handelt es sich auch, wenn Shakyamuni im Palikanon (Udana 8.2 und Itivuttakam 43) so spricht:

"Es gibt ein Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, nicht Bedingtes. Wenn es dies hier nicht gäbe, dann wäre ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Bedingten nicht zu erkennen. Weil es nun aber ein Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, nicht Bedingtes gibt, deshalb ist hier ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Bedingten zu erkennen." (Übers. Dr. Hellmuth Hecker)

Dass so unterschiedliche oder gar widersprüchlich erscheinende Begriffe wie 'Leere' und 'Speicherbewusstsein' für ein und dasselbe benutzt werden, zeigt schon, dass es sich um etwas handelt, das sich eigentlich allen Begriffen (und dem logischen Begreifen) entzieht. Insofern ist die vielleicht am wenigsten unzutreffende Bezeichnung 'Leere', sunyatâ. Das 'Ungeborene' ist leer von jeder Form, es ist leer von jeder Eigennatur oder Eigensein (svabhava) – also ohne Charakteristika, Qualitäten, Eigenschaften. Sogar die Leere selbst ist leer, ist nur eine Konvention, nur Begriff ohne realen Gehalt. Also kann Buddha-Natur keine Eigenschaft sein – zu einer Eigenschaft gehört eine Substanz, der diese Eigenschaft zukommt. Und wenn wir eine solche Substanz annehmen würden, dann könnten wir ihr auch einen Namen geben: atman, brahman, Gott, was auch immer …

Keine reale Substanz – keine realen Eigenschaften. Das Wahrnehmen und Unterscheiden von Qualitäten und Eigenschaften ist also nichts Reales; es ist klesa, Trübung des Geistes. Hier – im Zusammenhang mit Wahrnehmen und Unterscheiden – sprechen wir von Geist, von âlaya-vijnâna oder Geisteskontinuum. Nicht, dass wir mit diesen Begriffen etwas fassen, etwas identifizieren könnten – wir fassen lediglich einen Aspekt dieses 'etwas'. Genauer gesagt: eine Funktion.

Somit wäre Buddha-Natur keine Eigenschaft dessen, was Shakyamuni im Palikanon "Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, nicht Bedingtes" nennt, sondern seine Funktion. Und da die 'Essenz', der 'dharmakaya', das 'Geistkontinuum' oder wie immer man es benennen will, sich ausschließlich über seine Funktion aktualisiert - ins Sein tritt - ist sie als Seiendes mit dieser Funktion identisch. 'Hinter' der Funktion steht keine Essenz, auch wenn wir Begriffe für eine solche Essenz benötigen und verwenden, um die Funktion beschreiben zu können – so funktioniert eben unser dualistischer Verstand. Die Funktion ist 'leer' und mit der 'Essenz' identisch.

Dies ist das mahayanische Verständnis von anatman – anatman und Leere sagen dasselbe aus; anatman heisst leer von einer Essenz, einem Eigen-sein (und damit auch von Eigenschaften) zu sein. Die Namen, die wir jeweils benutzen, um die Funktion zu beschreiben, können sie nicht vollständig erfassen. Auch sie beschreiben immer nur einen Ausschnitt, einen Aspekt dessen, was nicht in Worte zu fassen ist. So nennen wir diese Funktion tathâgatha-garbha, buddhatâ, bodhicitta. Oder aber wir nennen sie avidya, duhkha ... Oder wir nennen sie einfach Funktion - und treffen damit genauso weit daneben wie mit 'Essenz'.

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Beim Klang der Glocke

Im Eiheiji, der von Dogen gegründeten Übungsstätte in den Tannenwäldern der Provinz Echizen, hängt unterhalb des Sammon, des Haupttores des Klosters, die Große Glocke, O-bonsho oder Kyosho.



Morgens gegen halb vier wird in der Wohnhalle Sodo zum Wecken die Zeit geschlagen; die Stunde mit einer Trommel, die Minuten mit einem Gong, dem Koten. Nach etwa einer halben Stunde Zeit für das Waschen gehen zwei Mönche mit Handglocken, Shinrei genannt, durch sämtliche Gebäude. Danach schlägt die Kyosho zum Beginn des Tages. Die Mönche und Novizen sitzen in der Sodo an ihrem Schlafplatz in Zazen, bis ein weiterer Schlag der Kyosho etwa 40 Minuten später das Ende des Zazen anzeigt. Dann werden ein großer Gong, der Dai Kaijo, und ein kleines Holzbrett in schnellem Wechsel miteinander geschlagen und schließlich die Glocke der Sodo, die Naitansho. Dies nennt man Chukaisho, das 'Lösen der gekreuzten Beine'. Danach wird das Takkesa Ge rezitiert und das Kesa angelegt, bevor alle zur Haupthalle Hatto zur Choka gehen, der Morgenzeremonie. Den Tag über werden in der Hatto und der Zendo kleinere Glocken, Densho genannt, benutzt. Auch das Ende des Tages wird nicht durch die Kyosho angezeigt, sondern durch die Abendglocke Konsho, die am Schrein Dogens, dem Joyoden, steht.

Der einzige Tag, an dem die Kyosho mehr als zweimal schlägt, ist der letzte Tag des Jahres. In der Neujahrsnacht wird die Kyosho hundertacht mal angeschlagen - hundertsieben mal vor Mitternacht; mit dem letzten Schlag beginnt das neue Jahr. Die Glockenschläge gemahnen an die hundertacht Bonno, die aus Unwissenheit, Hass und Gier geborenen Selbsttäuschungen.

Die Stadt Hiroshima hat eine Kyosho, die nicht an Neujahr geläutet wird. Sie wird jedes Jahr am Morgen des 6. August hundertacht mal angeschlagen - der letzte Schlag ist um 8.16 Uhr. Am 06.08.1945, um 8.16 Uhr Ortszeit, zündete 'Little Boy'. 45.000 Menschen starben sofort oder noch am gleichen Tag. Die, bei denen das Sterben länger dauerte, suchten in der Trümmerwüste Schutz vor schwarzem Regen – 91.000 Verletzte ohne Obdach. Weitere 13.000 Menschen starben im Laufe der nächsten drei Wochen einen schweren Tod. Nach vier Monaten waren es 64.000 Tote. Die Spätfolgen forderten noch einmal so viele Opfer - insgesamt 136.000, etwa 45 mal so viel, wie 2001 durch den Anschlag auf das World Trade Center ums Leben kamen. Drei Tage nach 'Little Boy' zündete über Nagasaki 'Fat Man' und forderte weitere 64.000 Opfer.

In den achtziger Jahren stiftete die DDR der Stadt Nagasaki eine Stele für ihren Friedenspark. Japan bedankte sich mit einer Friedensglocke, die seit dem 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs (also seit dem 01.09.1989) im Volkspark Friedrichshain in Berlin steht - auf einem Hügel, den Trümmerfrauen aus dem Schutt der zerbombten Häuser Berlins aufgetürmt hatten.

Mittlerweile gibt es weltweit 24 solcher Friedensglocken – und es gibt schätzungsweise 30.000 Atombomben. Seit der Räumung des Luftwaffenstützpunktes Ramstein im Jahr 2005 sind immer noch etwa 20 Wasserstoffbomben vom Typ B-61 in Deutschland auf dem Fliegerhorst Büchel stationiert, unweit des romantischen Moselstädtchens Cochem. Fliegerbomben mit einer Sprengkraft von 340.000 Tonnen TNT. Little Boy hatte gerade mal 13.000 Tonnen. Diese Wasserstoffbomben sollen im Ernstfall von den Tornado-Piloten des Bundeswehr-Jagdbombergeschwaders 33 abgeworfen werden. Worauf auch immer. Ein im Februar 2008 freigegebener Untersuchungsbericht der US-Luftwaffe („Blue Ribbon Review of Nuclear Weapons Policies and Procedures") bescheinigt übrigens, dass es in Deutschland und in den übrigen Stationierungsländern Europas (Niederlande Belgien, Italien) erhebliche Sicherheitsmängel gibt.

Mitglieder der 704. Munitionsversorgungsschwadron in Ghedi Torre,
Italien, üben die Wartung einer B-61-Wasserstoffbombe in einem
Munitions-Versorgungsfahrzeug.
Quelle: USAF


Jeden Morgen schlägt die große Glocke des Eiheiji und die Mönche und Novizen legen ihr Kesa an. Jeden Abend schlägt die kleine Glocke in meinem Schlafzimmer. Sie schwingt im Gleichklang mit der Kyosho des Eiheiji, mit der Glocke in der Zendo der Altbäckersmühle und den 24 Friedensglocken. Mit den Klängen der Musik Johann Sebastian Bachs und der aktuellen MTV-Hits, mit den Stimmen der Kinder, die auf der Gasse vor unserem Haus Fußball spielen, den Stimmen des Chors, der im Gemeindehaus gegenüber probt, den Stimmen der Nachrichtensprecher im Fernsehen, mit den Detonationen der Bomben, dem Seufzen der Sterbenden. Wenn ich still bin, kann ich sie alle hören. Es ist ein einziger Klang.

Meister Ummon fragt: "Die Welt ist groß und weit. Warum legst Du beim Klang der Glocke Deine Sieben-Streifen-Robe an?" Ich weiss es nicht. Ich habe keine Wahl.