Im Jahr 2005 hatte
ich schon einmal im zenForum mit freundlicher Genehmigung des Theseus-Verlages die Übersetzung des Shodoka
von Nyogen Senzaki eingestellt. Sie erschien vor zwanzig Jahren in dem leider vergriffenen Buch
Nyogen Senzaki / Ruth Strout McCandlessKeine Spuren im WasserEine Einführung in Zenmit einem Vorwort von Robert Aitken,übertragen aus dem Englischen von Günter ColognaTheseus Verlag, 1992
Das englische
Original (Buddhism and Zen) erschien erstmals 1953 bei Wisdom Publications. Seit
Umbau der zenForum-Webseite ist der Text nur noch über den statischen Abzug der
alten Webseite aufrufbar – schwer auffindbar und überdies in kaum lesbarer
Form. Um diesen meiner Meinung nach sehr aufschlussreichen Text der
Öffentlichkeit erneut zugänglich zu machen, stelle ich ihn nun hier nochmals
zur Verfügung.
Vorbemerkung:
Das Shodoka (chin.
Cheng Tao Ko, "Lied der Befreiung") ist die wichtigste
Hinterlassenschaft des Meisters Yung-chia Hsuan-Chueh (jap. Yôka Genkaku, gen.
Yôka Daishi, 665-713) der hier in konzentrierter Form die wichtigsten Aspekte der
Zen-Lehre darlegt. Nyogen Senzaki
traf daher eine folgerichtige Wahl, als er seine kommentierte Übersetzung
dieses Liedes zum Kernstück seiner "Einführung in Zen" machte. Eine weitere
(allerdings unkommentierte) Shodoka-Übersetzung sowie Informationen zu Yung-chia sind z.B. hier zu finden.
Der Meister Nyogen Senzaki
(18?? – 1958) war einer der
wichtigsten Pioniere des Zen im Westen, dessen Verdienst kaum zu überschätzen
ist. Wer mehr über ihn wissen möchte, sei auf das ebenfalls im Theseus-Verlag
erschienene Buch "Verrückte Wolken" von Perle Bessermann und Manfred
Steger verwiesen, das ihm ein ganzes Kapitel widmet und ihn in eine Reihe mit
Meistern wie Linji (jap. Rinzai) und Hakuin stellt.
SHODOKA
Das Lied der Erleuchtung
Siehst
du jenen Zen-Schüler dort? Er hat vergessen, was er gelernt hat, trotzdem übt
er völlig natürlich und frei, was er gelernt hat, und auch, was er noch lernen
soll.
Er
lebt in Gelassenheit, ruhig und zufrieden. Er ist frei von allen Sorgen, trotzdem
handelt er spontan und vernünftig.
Weder
bemüht er sich, die Illusionen zu meiden noch die Wahrheit zu suchen. Er weiß,
daß Illusionen unwirklich sind und daß er selbst die Wahrheit ist.
Für
ihn ist das wahre Wesen der Unwissenheit Buddha-Natur und das wahre Wesen des
vergänglichen Körpers Dharmakaya[1],
der ewige Körper des Buddha.
Yokâ Daishi bewundert und
lobt diesen Zen-Schüler. Er erkennt in ihm einen Menschen, der über die
Relativität von Gut und Böse hinausgegangen ist und weder Spuren seines Lernens
noch Schatten seiner Taten hinterläßt. Er ist ein Weiser, der nicht wie ein
Weiser aussieht, und ein Philosoph ohne den Geruch der Philosophie.
Wenn du dich beim
Meditieren bemühst, müßige Gedanken oder Illusionen zu unterdrücken, kannst du
den Zustand des Samadhi nie erreichen. Wer die Wahrheit anstrebt, wird hinter
der Wahrheit zurückbleiben. Was für dich müßige Gedanken oder Illusionen sind,
sind nichts als Wellen auf dem weiten Ozean der Buddha-Natur. So wie es
unabhängig vom Wasser keine Wellen geben kann, gibt es keine Täuschung, keinen
müßigen Gedanken, keine Unwissenheit getrennt von der Buddha-Natur.
Da unser Körper vergänglich
ist, ist er auch leer und wesenlos. In Wirklichkeit gehört er uns nicht einmal.
Dein Körper gehört nicht dir, und mein Körper gehört nicht mir.
Wenn
jemand eins wird mit dem Dharmakâya, gibt es nichts mehr außerhalb von ihm.
Er
selbst ist die Quelle aller Dinge, und sein wahres Wesen ist eine andere
Bezeichnung für den ewigen Buddha.
Materielle
Dinge und geistige Erscheinungen kommen und gehen wie Wolken am blauen Himmel.
Gier,
Zorn und Unwissenheit, diese drei Schäume, entstehen und vergehen wie eine
Luftspiegelung auf dem Ozean.
Solange jemand den
Dharma-Körper noch als solchen wahrnimmt - ganz gleich, wie schön er ihn
definiert oder beschreibt - steckt er noch immer im Dualismus. Aber sobald er
eins geworden ist mit dem Dharma-Körper, existiert nichts anderes mehr. Er
selbst ist der Dharma-Körper, nicht mehr und nicht weniger. Er ist die Quelle
aller Dinge des Universums. Sein wahres Wesen ist der ewige Buddha, der nie
geboren wurde und nie sterben wird.
Gier, Zorn und Unwissenheit
sind die drei Gifte, die dem guten Charakter eines Menschen schaden.
Ein tibetischer Buddhist
schrieb einmal: »Gier, Zorn und Unwissenheit sind die drei Hindernisse auf dem
Weg zur Befreiung. Sie behindern uns in der Entwicklung der Einsicht, wie die
Wurzeln der Quecke das Wachstum nützlicher Pflanzen behindern. Ob es auch in
Ländern außerhalb Tibets Menschen gibt, welche die Wahrheit erfahren haben,
weiß ich nicht. Ich weiß aber, daß es inmitten der gewaltigen Berge meiner
Heimat Männer und Frauen gibt, die bezeugen können, in diesem Leben das höchste
Ziel erreicht und die endgültige Befreiung erfahren zu haben. Man kann nicht
verlangen, daß diese Erleuchteten mit den weltlichen Menschen leben, deren
ernsthafteste Handlungen wie Kinderspiele erscheinen.«
Mit Zen hat eine solche
Einstellung nichts zu tun! Zen-Schüler scheuen sich nicht vor den drei Giften,
sondern sehen sie lediglich als eine vorübergehende Erscheinung. In Amerika hat
es in der Vergangenheit Zen-Schüler gegeben, es gibt gegenwärtig welche und in
Zukunft wird es noch viel mehr geben. Sie mischen sich ohne weiteres unter die
sogenannten weltlichen Menschen, spielen mit Kindern, respektieren Könige und
Bettler und gehen mit Gold und Silber um wie mit Kieselsteinen.
Wer
die Wahrheit begreift, täuscht sich nicht hinsichtlich seiner persönlichen
Wünsche noch seiner selbstbegrenzten Vorstellungen.
Er
weiß, daß es das Ego als solches in ihm nicht gibt, und durchschaut ganz klar
die Leere aller Formen, die nichts als Schatten sind in Bezug auf die
objektiven und subjektiven Elemente.
Wenn
du so im Zen lebst, kannst du die Hölle in deinen Träumen von gestern lassen
und dir dein Paradies einrichten, wo immer du bist.
Diejenigen
ohne Erkenntnis, die mit ihrem falschen Wissen die Menschen betrügen, werden
sich im eigenen Leben eine Hölle schaffen.
Zen beabsichtigt nichts als
Erkenntnis oder Erleuchtung. Philosophen mögen Theorien über die Wirklichkeit
entwickeln und sich dabei bis ans Ende der Logik durchdenken, aber keiner von
ihnen wird je dorthin gelangen. Sich an die Logik zu halten und zu meinen, daß
etwas existieren muß, ist eines, aber es zu erfahren ist etwas anderes. Wenn Zen
verlangt, daß man den Ton der einen Hand hört, zählt die eigentliche Erfahrung
und sonst nichts. Ein Schüler mag behaupten, irgend etwas sei die Wahrheit oder
das Absolute. Aber solche Antworten sind Abstraktionen, die jeder Grundlage
entbehren, leere Schatten grundloser Täuschungen. Warum sich nicht ganz in die
Meditation vertiefen, bis man die Geistessenz erfährt? Mit dieser ehrlichen,
harten Arbeit gelangt man zur Wahrheit.
Hat einer die Wirklichkeit
begriffen, erkennt er die Wahrheit aller Lebewesen. Der Beweis steckt in seiner
Einstellung gegenüber dem Ich und den ichbezogenen Vorstellungen. Er weiß
dann, daß es kein Ego gibt, daß alle Formen der Objektivität leer sind und nur
auf einer relativen Ebene existieren. Ein Mensch kann, ethisch gesehen, frei
sein von Egoismus und sich für selbstlos halten bezüglich seiner materiellen
Ansprüche, wenn er aber nicht auf die Meinung anderer hören kann und darauf
besteht, seine Ansichten der ganzen Welt aufzuzwingen, ist er noch immer ein
egoistisches Ungeheuer.
Die Zen-Erleuchtung muß
sich zweifach zeigen: in der Ablehnung eines selbständigen Ichs und in der
Einsicht, daß alle Formen der Objektivität leer sind. In einem Kôan sagt ein
Mönch: »Die Fahne bewegt sich.« Ein anderer erwidert: »Der Wind bewegt sich.«
Der erste haftet an der Wesenheit der Fahne. Der zweite sieht die Sache weniger
eng, hat aber auch kein Verständnis der wahren Leere. Der Sechste Patriarch
antwortet ihnen: »Die Fahne bewegt sich nicht. Der Wind bewegt sich nicht. Der
Geist bewegt sich.« Wenn du meinst, der Patriarch verstehe unter »Geist« ein
psychologisches Phänomen, dann bist du in deinen begrenzten Vorstellungen
gefangen.
Als Yôka Daishi sagte,
»Wenn du so im Zen lebst, kannst du die Hölle in deinen Träumen von gestern
lassen und dir dein Paradies einrichten, wo immer du bist«, meinte er damit
nicht, daß das Gesetz von Ursache und Wirkung auf erleuchtete Menschen nicht
mehr zutrifft. Jeder schafft sich seine eigene Hölle, in der er leidet, und
niemand kann ihn herausholen außer er selbst.
Es gibt Vertreter der
verschiedensten Religionen, die den Leuten die Vorstellung verkaufen wollen,
daß ihre Sünden von anderen ausgelöscht werden können. Das geschah in Yôka
Daishis Tagen genauso wie heute. Daher warnt er solche »Hausierer«, sich vor den
eigenen Märchen in acht zu nehmen. Diejenigen, die Unwahrheiten verkünden,
schaffen eine Hölle hier und jetzt.
Im
selben Augenblick, in dem du Buddhas Zen erlangst,
Sind
die sechs Vollkommenheiten und zehntausend gute Taten bereits in dir
verwirklicht.
In
deinen Träumen gibt es sechs Pfade,
Sobald
du aber erwachst, lösen sie sich auf in nichts.
Die erste Ubertragung von
Buddhas Zen erfolgte direkt, von Herz zu Herz, an Mahâkâshyapa[2]. In den Sutras gibt es keine Erwähnung dieser inneren
Lehre, aber jemand, der in seiner Meditation gereift ist, nimmt an derselben
Wahrheit teil. Aus diesem Grund bleibt Zen in der menschlichen Erfahrung
lebendig und ist nicht an irgendwelche Schriften oder an die Lehren einer
bestimmten Schule gebunden. Yôka Daishi nennt Zen in diesem Lehrgedicht Tathâgata-Dhyâna.
Spätere chinesische Meister nannten Zen das »Dhyâna der Patriarchen«. Ein Name
ist aber nichts als ein Zeichen, welches nie die Sache selbst sein kann, für
welche es steht. Es kann sein, daß man hier in Zukunft einen anderen Namen für
die Erleuchtungserfahrung wählen wird. Was ich über Zen sage, ist meine eigene
Aussage, du kannst dich darüber erst aussprechen, wenn du selbst die Erfahrung
gemacht hast.
Welches sind die sechs
Vollkommenheiten (Pâramitâs)? Darunter versteht man Dâna (die Freigebigkeit),
Shila (die Sittlichkeit), Kshânti (die Geduld), Virya (die Entschlossenheit),
Dhyâna (die Meditation) und Prajñâ (die Weisheit).
Welches sind die sechs
Pfade? Diese sind die Pfade der Naraka (Höllenwesen), der Preta (hungrigen
Geister), der
Tiryagyoni (Tiere), der
Asuras (Dämonen), der Manushya (Menschen) und der Devas (göttlichen Wesen).
Viele Menschen halten diese
Existenzebenen für wirklich, für den Zen-Schüler sind sie aber nichts als
Schatten dualistischen Denkens, die sich im Licht der Erleuchtung auflösen.
Keine
Sünde, kein Glück, kein Gewinn, kein Verlust.
Diese
Dinge suchst du umsonst in der Geistessenz.
Du
hast schon lange nicht mehr deinen Spiegel vom Staub befreit,
Der
Augenblick ist gekommen, seinen Glanz klar zu erkennen.
Kein ernsthafter Geist kann
in der althergebrachten Weise über Sünde und Seligkeit sprechen. Die
Verwirklichung löscht diese Vorstellung völlig aus. Das sind für einen Zen-Schüler
nur müßige Vorstellungen.
In seinem Zazen Wasan, dem
»Lobgesang des Zazen«, sagt Hakuin:
»Ihr seid von allem Anfang
an Buddha. So wie es kein Eis gibt ohne Wasser, gibt es keinen Menschen ohne
Buddha. Obwohl sie die Wahrheit immer in sich tragen, bemerken die Menschen sie
nicht und suchen sie in weiter Ferne. Sie leiden an Durst und sehen den Brunnen
in ihrer Nähe nicht. Sie leben in Armut und vergessen, daß sie Erben eines unermeßlichen
Schatzes sind. Ihr sagt, daß ihr leidet. Ihr leidet nur, weil ihr so unwissend
seid. Erwacht aus eurem unwissenden Traum! Die Fehler der Vergangenheit werden
euch nicht länger quälen. Wo ist die Hölle? Ihr habt sie im Traum von gestern
gelassen. Wo ist das Paradies? Ihr seid schon mittendrin.«
Deine Geistessenz ist von
allem Anfang an leuchtend hell. Der Tag ist gekommen, sie klar zu sehen. Dies
ist der Augenblick, mit deiner Arbeit zu beginnen.
Wer
denkt Nicht-Denken und wer erkennt die Nicht-Existenz?
Wenn
es wirklich die Nicht-Existenz ist, kannst du nicht daran denken.
Frag
einen Roboter, ob er glücklich sei oder nicht. Solange du danach strebst, ein
Buddha zu werden, Ganz gleich, wie sehr du dich auch darum bemühst,
wirst
du nie einer werden.
Wenn dir diese Zeilen
schwierig vorkommen, dann erinnere dich daran, daß Zen zwar erfahren, aber
nicht erklärt werden kann. Vielleicht hast du in deiner Meditation bereits
Nicht-Denken erlebt. In einem solchen Augenblick wird der Spiegel deines
Geistes so gründlich gesäubert, daß nicht einmal die Spur eines Glanzes
zurückbleibt. Aber nehmen wir an, du hörst einen Hund bellen. Du stellst dir
einen rennenden Hund vor - du denkst an deinen eigenen Hund. Schon zieht ein
Gedanke nach dem anderen an deiner Nase vorbei. Du kannst den Hund nicht für
sein Bellen verantwortlich machen und ebensowenig deine Ohren, daß sie es
gehört haben. Aber was denkst du lange darüber nach? Wenn du jedoch denkst, du
trittst in Samâdhi ein, dann hast du es bereits verlassen. Wenn du deinen Atem
zählst, zähle nur den Atem. Wenn du mit einem Kôan meditierst, gehe ganz darin
auf. In der Meditation übt man, sich dem jeweiligen Gegenstand der Meditation
voll zu widmen. So mache auch im täglichen Leben ausschließlich eine Sache,
ohne dich lange in Gedanken darüber zu verlieren.
Yôka Daishi sagt: »Frag
einen Roboter, ob er glücklich sei oder nicht.« Ich höre dich schon fragen:
»Werde ich im Zen gezwungen, zu einem Roboter zu werden?« Willst du leiden,
indem du deinen Geist mit Illusionen anfüllst? Weißt du nichts von der Freude,
den Gedanken genügend Raum zu geben, so daß sie sich entfalten und wachsen können?
Ein Zen-Schüler hat mehr Zeit, das Leben zu genießen, weil er sich erlaubt,
ausschließlich eine Sache zu denken oder zu tun, und er den Fluß der inneren
Weisheit nicht mit dem Müll der Täuschungen blockiert.
»Solange du danach strebst,
ein Buddha zu werden, ganz gleich, wie sehr du dich auch darum bemühst, wirst
du nie einer werden.« Wenn du ihn nicht dort finden kannst, wo du gerade
stehst, wo willst du dann hin, um ihn zu finden?
Hafte
nicht an den vier Elementen.
Iß
und trink, wie es deiner wahren Natur entspricht.
Die
Dinge sind vergänglich; deshalb sind sie leer. Das ist Buddhas
Erleuchtungserfahrung.
Der Buddhismus sieht Körper
und Geist nicht als zwei verschiedene Dinge. Wenn von den vier Elementen die
Rede ist - Erde, Wasser, Feuer und Luft -, dann versteht man darunter nicht nur
die Elemente der gegenständlichen Welt, sondern auch vier verschiedene
Geisteszustände. Auf Pali heißen diese vier Elemente Pathavi (das Feste), Apo
(das Flüssige), Tejo (das Erhitzende) und Vayu (das Bewegende). Zen hält nicht
an diesen Elementen fest, sondern lebt in der Geistessenz und läßt Geist und
Körper hinter sich. Ein Zen-Schüler »ißt und trinkt«, in anderen Worten: er
lebt sein tägliches Leben, wie es seinem wahren Wesen entspricht.
Um die dritte und vierte Zeile
des Lehrgedichts zu veranschaulichen, untersuchen wir doch Tosotsus Kôan aus
dem Mumonkan, dem Torlosen Tor: »Erstens, das Ziel des Zen-Studiums besteht
darin, die eigene wahre Natur zu erblicken. Wo ist eure wahre Natur in diesem
Augenblick? Zweitens, hat einer einmal seine wahre Natur erkannt, wird er frei
von Geburt und Tod. Wenn ihr aber die Augen verschließt und zu einer Leiche
werdet, wie könnt ihr euch dann befreien? Drittens, wenn ihr euch von Geburt
und Tod befreit habt, sollt ihr wissen, wo ihr seid. Wo seid ihr also, wenn
sich euer Körper in die vier Elemente auflöst?«
Denke mit deinem Geist und
deinem Körper nicht an Gut oder Böse. Vergiß, daß du einen Geist und einen
Körper hast. Laß den gegenwärtigen Augenblick dein einziges wirkliches Leben
sein. Stört dich irgendein Gedanke, denk an die Vergänglichkeit alles
Irdischen. Sobald sich die Illusion eines eigenständigen Ichs auflöst, wird
sich das Tor der echten Meditation öffnen. Mit leeren Händen und einem leeren
Geist kannst du deinem wahren Selbst begegnen. Wer hat behauptet, daß es etwas
wie Buddhas Erleuchtung gibt? Laß dir weder von Yôka Daishi noch sonst jemandem
etwas vormachen! Geh der Sache selbst nach.
Ein wahrer Schüler des Buddha spricht die höchste
Wahrheit.
Wenn du mit dem, was ich sage, nicht einverstanden
bist, können wir ruhig darüber diskutieren.
Erinnere dich aber daran, daß sich der Buddhismus mit
der Wurzel der Wahrheit beschäftigt,
Und nicht mit den Asten und Blättern.
Was ist die höchste Wahrheit?
Yôka Daishi behauptet, daß alle Dinge vergänglich und letztendlich leer sind;
sobald man dies in seinem Innersten begreift, ist man erleuchtet. Theravâda-Buddhisten
drücken die höchste Wahrheit mit den drei Pali-Begriffen Anicca, Dukkha und
Anatta aus. Anicca bedeutet Vergänglichkeit — deines Geistes, deines Körpers
und der Welt, in der du lebst. Man ist sich dessen nicht bewußt, und so
klammert man sich an das, was einem gefällt. Dies können wir aber nicht
festhalten, und so leiden wir; das nennt sich Dukkha. Das Leben ist ein ewiger
Fluß. Wenn du nicht einmal deinen Geist und deinen Körper festhalten kannst,
wie glaubst du dann, dich an andere Dinge klammern und sie festhalten zu
können? Anatta bedeutet Nicht-Ich. Wenn du diese drei Merkmale verstehst, dann
gelangst du zum wirklichen Ich, zu deinem wahren Selbst.
Im Mahâyâna-Buddhismus
werden diese Grundcharakteristiken dadurch ausgedrückt, daß man von der
Vergänglichkeit aller Dinge spricht, die Existenz einer persönlichen Seele
negiert und die höchste Wirklichkeit (Nirvana[3]) anstrebt.
Mit dem Ausspruch: »Wenn du
mit dem, was ich sage, nicht einverstanden bist, können wir ruhig darüber
diskutieren«, wollte Yôka Daishi nicht unbedingt den Anlaß für eine Diskussion
schaffen. Man kann andere nicht durch Argumentation vom Zen überzeugen. Ganz
gleich, wie logisch geschickt du es auch einfädelst, du wirst deinen Gegner
nicht zur Erleuchtung führen, es sei denn, er öffne seine eigenen Augen und
begreife. Vielleicht lassen sich seine Zweifel durch Argumente beseitigen, an
die Wurzel muß er aber selbst gelangen.
Die
meisten Menschen erkennen das Mani-Juwel, den Edelstein der Weisheit, nicht.
Er
ist im geheimen Reich des Tathâgata verborgen, wo er darauf wartet, entdeckt zu
werden.
Die
sechs Sinne und die sechs Welten sind miteinander verwoben und machen das
Leben zu dem, was es ist.
Als
Ganzes gesehen ist es eine Illusion, doch gibt es nichts, was Illusion genannt
werden könnte.
Der
vollkommene Glanz des Mani-Juwels, des Edelsteins der Weisheit, scheint auf die
Menschheit.
Es
hat weder Farbe noch Form, noch hat es Nicht-Farbe oder Nicht-Form.
Das Mani-Juwel galt im
alten Indien als der legendäre Edelstein, der seinem Besitzer alle Wünsche
erfüllt. Buddhisten streben nach Wunschlosigkeit, schätzen Gelassenheit und
Zufriedenheit; sie bemühen sich um höchste Weisheit und moralische
Vervollkommnung. Yôka Daishi verwendet den Ausdruck »Mani-.Juwel« sinnbildlich,
wenn er sagt, man könne es »im geheimen Reich des Tathâgata« entdecken. Tathâgata
hat aber nichts mit Zeit oder Raum zu tun.
Deine Augen schaffen die
Welt der Farbe und Form, deine Ohren die Welt der Töne, deine Nase die Welt des
Geruchs, deine Zunge die Welt des Geschmacks und dein Verstand die Welt der
Gedanken. Die sechsfache Funktion zeigt sich in den zahllosen Spiegelungen des
Mondes auf der Oberfläche eines Teichs, eines Sees oder des Meeres oder in den
vielen Wellen, die auf dem einen großen Ozean steigen und fallen.
Alles entsteht im Kontakt
zwischen subjektiven und objektiven Elementen, und wir erkennen und benennen es
vom Standpunkt der Relativität aus. Auf diese Weise wirkt das Mani-Juwel, das
du subjektiv dein wahres Selbst und objektiv Buddha-Natur nennst.
Entfalte die fünf Sichtweisen und eigne dir die fünf
Kräfte an.
Das kannst du aber nur durch die Zen-Meditation, die
über jegliche Theorie hinausgeht.
Es ist nicht schwer, in einem Spiegel Bilder zu sehen.
Unmöglich aber ist es, die Spiegelung des Mondes auf
dem Wasser einzufangen.
Die fünf Sichtweisen sind
die Sicht mit dem physischen Auge, dem kosmischen Auge, mit dem Prajñâ-, dem
Dharma- und dem Buddha-Auge. Die fünf Kräfte sind: Vertrauen, Energie,
Gedächtnis, Meditation und Weisheit. Diese fünf Sichtweisen und Kräfte
entfaltet man, indem man eins wird mit der Geistessenz. Dann erkennt man, daß
sie Facetten desselben Edelsteins der Weisheit sind.
Jeder weiß, daß das
physische Auge nur sieht, wenn Licht vorhanden ist, und auch dann noch vielen
Einschränkungen unterliegt.
Die moderne Technik hat
durch Teleskop und Mikroskop das kosmische Auge entwickelt und den Sehbereich
in Dimensionen erweitert, die sonst unsichtbar blieben.
Das Prajñâ- oder
Weisheitsauge schaut ohne Begierde auf die Welt, und derjenige, der es besitzt,
kann dualistische und verfängliche Gedanken vermeiden.
Das Dharma-Auge ist das
Auge der höheren Weisheit in der Welt der Unterscheidungen. Ein Zen-Schüler,
der ein fundiertes Wissen über die moderne Wissenschaft und Philosophie hat,
der sich in den Religionen und Kulturen anderer Länder gut auskennt, so daß er
Verständnis und Toleranz für die Lebensweise anderer Menschen aufbringt, sieht
die Welt mit dem Dharma-Auge.
Das Buddha-Auge ist das
vollkommene Auge. Wenn ein Schüler die Erleuchtung erlangt, sieht er die Welt
voll und ganz in ihrer Wirklichkeit. Das Buddha-Auge ist das Auge des vollkommenen
Mitgefühls und frei von jeder Täuschung.
Die fünf Kräfte erklären
sich von selbst. Das Vertrauen ermöglicht es einem, fest auf dem Boden der
Wahrheit zu stehen. Energie benötigt man, um den Weg nach oben weiterzugehen.
Das Gedächtnis erweitert und vertieft unser Wissen. Durch die Meditation erlangen
wir die Ruhe, welche die Quelle der fünften Kraft ist: Prajñâ, die Weisheit der
Befreiung.
Yôka Daishi spricht oft vom
Spiegel. Jeder von uns besitzt einen solchen Spiegel, und wir können jederzeit
darauf zurückgreifen. Es ist leicht, die Bilder zu erkennen, die darin
erscheinen, sobald wir aber glauben, sie zu besitzen, lösen sie sich auf. Wer
kann die Spiegelung des Mondes auf dem Wasser einfangen?
Die fünf Sichtweisen
gehören zur Erleuchtungserfahrung im Zen, und die fünf Kräfte zeigen sich, wenn
du Zen im täglichen Leben praktizierst. Das Geheimnis ist, jede Minute im Zen
zu leben. Nimm auf, was du im Spiegel erblickst, wende es an und vergiß es
wieder; es ist nur eine Erscheinung, die in Wirklichkeit substanzlos ist.
Ein
Schüler des Zen sollte stets alleine gehen.
Diejenigen,
die die Erleuchtung erlangt haben, gehen alle auf demselben Weg des Nirvana.
Jeder
von ihnen hat eine ganz natürliche Art und ist rein und zufrieden im Herzen.
Da
sich keiner von ihnen in besonderer Weise um Aufmerksamkeit bemüht, schenkt ihm
niemand besondere Beachtung.
Im zehnten Psalm des Alten
Testaments klagt König David: »Warum stehst du so ferne, oh Gott? Warum
verbirgst du dich in Zeiten der Not?« Aber ganz gleich, wie sehr sich Gott
König David auch näherte, sie wären noch immer zwei und nicht eins. Ein
Zen-Schüler betet zu keinem Gott, befolgt keine orthodoxen Riten, lebt nicht in
Erwartung eines zukünftigen Paradieses und hat auch keine Seele, um die sich
jemand anders kümmern müßte. Er geht, unbelastet von dogmatischen und
theologischen Annahmen, frei und ungezwungen seinen Weg. Er weiß: wenn er eine
Situation meistert, dann steht er, wo immer dies sein mag, auf dem Boden der
Wahrheit. Sein Studium des Zen und seine Meditation haben keinen anderen Zweck,
als ihn in jeder Hinsicht zu befreien.
In der Geistessenz
schreitet er allein voran. Wer nennt dies den Weg des Nirvana? Er hat keinen
solchen Weg vor sich. Er geht, natürlich und gemessen, Schritt für Schritt
weiter. Sein Herz ist rein, und er ist immer zufrieden. Er arbeitet hart, und
das macht ihn stark. Er macht sich keine Sorgen um sein Äußeres, und so zieht
er keine Aufmerksamkeit auf sich. So lebt er ruhig und unbeschwert unter den
Menschen.
Die Anhänger Buddhas sind für ihre Armut bekannt.
Die Einfachheit ihrer Lebensart kann ärmlich genannt
werden, nicht aber ihr Zen.
Die alte und vielfach geflickte Robe des Mönchs zeigt
der Welt seine Armut;
Sein Zen, verborgen für andere, ist ein Schatz von
unermeßlichem Wert.
Ein chinesischer
Zen-Meister wurde einmal aufgefordert, den kostbarsten Schatz der Erde zu
nennen. Er sagte, es sei der Kopf einer toten Katze. Als man ihn nach dem Grund
für seine Antwort fragte, erwiderte er: »Weil niemand sagen kann, was er wert
ist.« Wie würde es dir gefallen, der Kopf einer toten Katze zu sein?
Zen-Schüler, Philosophen, Anhänger des Okkultismus, Metaphysiker, Theologen und
Atheisten — das sind alles »laute, lebendige Katzen«, die ihren Preis klar und
ersichtlich im Gesicht geschrieben tragen. Wer es mit seiner Wahrheitssuche
ernst nimmt, kann seinen Wert nicht vorzeigen.
Ganz
gleich, wie oft man das Juwel der Weisheit auch anwendet, es verliert dadurch
nichts von seinem kostbaren Wert.
Man
kann alle, die seiner bedürfen, daran teilhaben lassen.
Die
drei Körper des Buddha und die vier Arten der Weisheit sind vollkommen in ihm
enthalten;
Die
acht Befreiungen und sechs wundersamen Kräfte sind tief in ihm eingeprägt.
Takuan, ein japanischer
Zen-Meister, schrieb das folgende Gedicht, bestehend aus acht Schriftzeichen:
Nicht zweimal diesen Tag
Zoll Zeit Fuß Juwel
Frei übersetzt bedeuten
diese Worte:
Dieser Tag wird nicht
wiederkommen.
Jede Minute ist so kostbar
wie ein Juwel.
Unter den drei Körpern des
Buddha versteht man den Dharma-Körper, den Körper der Freude und den Körper der
Verwandlung. Jeder von uns hat den Dharma-Körper. Durch die Erleuchtung
erlangen wir den Körper der Freude, der im täglichen Umgang mit anderen zum
Verwandlungskörper wird.
Die vier Arten der Weisheit
sind die spiegelgleiche Weisheit, die Weisheit der Identität oder
Wesensgleichheit, die Weisheit des klaren Erkennens von Beziehungen und die
alle Werke vollendende Weisheit.
Die acht Befreiungen
hingegen sind die Befreiung durch den Materialismus, durch den Idealismus,
durch den Ästhetizismus, durch die Relativität, durch den Spiritualismus,
durch die Hinayâna-Lehre, durch die Unterscheidung zwischen Hinayâna- und Mahâyâna-Lehre
und schließlich durch Prajñâ Pâramitâ, dem Verständnis der Leere in Mahâyâna.
Die sechs wundersamen
Kräfte sind das Bewegen von Gegenständen auf Entfernung, das Wahrnehmen von
menschlichen und göttlichen Stimmen, das Erkennen des Kreislaufs von Leben und
Tod aller Wesen, die Erinnerung an frühere Existenzen, das Wahrnehmen der Gedanken
anderer Wesen und das Erkennen des Erlöschens der eigenen Befleckungen und
Täuschungen.
Es ist aber nicht
notwendig, diese Listen auswendig zu lernen. Es ist alles in deiner
Erleuchtungserfahrung enthalten. Wenn du sie erlangst, bist du wie ein Mensch,
der ein Siegel besitzt. Du kannst es, so oft du willst, und auf jede beliebige
Unterlage aufdrücken und dabei Lacke der verschiedensten Farben und
Schattierungen benutzen, es wird immer dasselbe Siegel der Weisheit sein.
Der unermeßliche Schatz
gehört jedem. Wir alle sind Teil des Dharmakâya, aber wie können wir dies
erkennen, wenn wir nicht meditieren und die Früchte unserer Bemühungen
erlangen? Dies ist der Körper der Erlangung, damit ist aber nicht eine
statische Vollendung gemeint. Die reine Kraft, die wir im Dienst der Menschheit
einsetzen, nennt man den Verwandlungskörper. Wenn du den Ton der einen Hand
hörst, hast du die spiegelgleiche Weisheit verwirklicht. Wenn du ein Licht auf
Tausende von Kilometern Entfernung auslöschen kannst, kommt deine Weisheit der
Identität oder Wesensgleichheit zum Ausdruck. Sobald du mir sagen kannst, ob
der Mann, der dir begegnet, dein jüngerer oder dein älterer Bruder sei, hast du
die Weisheit des klaren Erkennens von Beziehungen verwirklicht. Wenn du mir
vormachst, wie du in einen Gegenstand eintrittst, etwa in ein Räucherstäbchen,
um allen Buddhas deine Verehrung zu bezeugen, beweist du deine Fähigkeit, Zen
in die Tat umzusetzen. Was die Befreiung anbelangt, ist es sinnlos, sie in
acht Arten zu unterteilen. Der blaue Himmel ist unbegrenzt! Wir können
höchstens sagen, die Wolken ziehen hier oder dort vorüber.
An deine Fähigkeit,
Gegenstände auf Entfernung zu bewegen, glaube ich, wenn du mir eine Handvoll
Schnee vom Mt. Whitney bringen kannst; daß du imstande bist, göttliche Stimmen
zu vernehmen, glaube ich dir, wenn du die Engel im dreiunddreißigsten Himmel
singen hörst; daß du dich an frühere Existenzen erinnern kannst, glaube ich
dann, wenn du mir sagen kannst, wo du warst, als Gautama Buddha geboren wurde;
an deine Fähigkeit, den Kreislauf von Leben und Tod aller Wesen zu erkennen,
glaube ich, wenn du mir sagen kannst, wessen Diener der gegenwärtige, alle
vergangenen und die zukünftigen Buddhas sind; daß du keinen Täuschungen mehr
unterliegst, glaube ich dir, wenn du alle bösen Gedanken und Taten vermeidest,
um gute Gedanken und Taten zu entwickeln, nicht nur für dich selbst, sondern
zugunsten aller, mit denen du in Verbindung stehst. Wunder? Was für ein Unsinn!
Nutze doch einfach jeden Augenblick im Ablauf des Gesetzes von Ursache und
Wirkung.
Ein
hervorragender Schüler des Zen strebt gleich die höchste Wahrheit an.
Ein
mittelmäßiger oder guter Schüler lernt gerne von anderen, doch fehlt ihm das
starke Vertrauen.
Wenn
du dich der zerschlissenen Hüllen deiner vorgefaßten Meinungen entledigst,
wirst du dein wahres Selbst erkennen.
Was
hat es dann noch für einen Sinn, sich um Äußerlichkeiten zu bemühen?
Musô Kokushi, ein
japanischer Zen-Meister, sprach einst von den drei Arten von Schülern. Es gab
diejenigen, die alle Verstrickungen von sich warfen und sich mit Leib und Seele
dem Zen-Studium widmeten. Dann gab es andere, die weniger zielstrebig waren und
die Lösung in Büchern oder in verschiedenen anderen Tätigkeiten suchten. Die
dritte und niedrigste Gruppe bestand aus Schülern, welche die Worte Buddhas und
der Patriarchen wiederholten, statt in sich selbst nach dem Schatz zu graben.
Wenn Zen keine Lehre ist,
die das Problem ein für allemal lösen kann, dann hat ein Laienschüler kaum eine
Chance, ein erstklassiger Schüler zu werden. Zen gehört zur »plötzlichen«
Schule des Buddhismus. Vielleicht mußt du eine ganze Weile nach deinem inneren
Schatz graben, hast du ihn aber einmal gefunden, wirst du seinen Glanz sofort
erkennen. Wer die Ansicht vertritt, daß man jeweils nur Bruchstücke findet,
gehört zu denen, die erst die Dunkelheit aus einem Raum tragen wollen, bevor
sie das Licht einschalten.
Vergiß den Verdruß der
Vergangenheit und die Sorgen um die Zukunft und leb friedlich in der Gegenwart.
Jeder Augenblick birgt die Chance, daß du ein hervorragender Zen-Schüler
wirst.
Es gibt vielleicht Menschen, die den Zen verleumden
oder Einwände dagegen erheben.
Sie spielen mit dem Feuer; sie versuchen vergeblich,
den Himmel in Brand zu setzen.
Für den wahren Zen-Schüler sind ihre Worte süßer
Nektar.
Aber selbst diesen vergißt er, wenn er den Bereich des
Nicht-Denkens betritt.
Ein Schüler des Zen wird
wenige Menschen treffen, die seine Vorstellungen teilen oder seine mühelosen
Bemühungen verstehen. In anderen Schulen des Buddhismus heißt es, daß ein
Schüler viele Stadien durchschreiten muß, bevor er hoffen darf, in einem
künftigen Leben die Erleuchtung zu erlangen.
Andere Religionen hingegen
werden viele Unterschiede feststellen und darin einen Anlaß für
Auseinandersetzungen finden. Diskussionen haben noch nie jemanden überzeugen
oder gar zur Erleuchtung führen können. Ein Zen-Schüler vermeidet folglich jede
unfruchtbare Polemik und hilft anderen, sooft er kann, ohne zu erwarten, daß
andere ihm helfen. Er kennt seinen Reichtum und weiß ihn zu benutzen.
Ein Blinder war einmal bei
einem Freund zu Besuch. Als er nach Hause wollte, war es schon dunkel, so bot
ihm der Freund eine Laterne an. »Ich brauche keine Laterne«, meinte er. »Für
mich sind Hell und Dunkel doch einerlei.« »Ich weiß, daß du keine Laterne
brauchst, um den Weg nach Hause zu finden« erwiderte sein Freund, »andere aber
könnten dich im Dunkeln übersehen. Nimm sie doch!« Der Blinde nahm also die
Laterne, er war aber noch gar nicht weit gekommen, daß ihn jemand anrempelte.
»Schauen Sie doch, wo Sie hingehen!« rief der Blinde. »Können Sie die Laterne
nicht sehen?« Der Fremde antwortete: »Die Kerze in Ihrer Laterne ist abgebrannt.
«
Versichere dich deshalb,
daß deine Kerze immer brennt - für deine eigene Sicherheit und die der anderen.
Schimpfworte betrachte
ich als tugendhaft und den, der sie äußert, als Lehrmeister.
Ich werde den Verleumder aber weder begünstigen
noch anfeinden.
Warum
soll ich also die beiden Kräfte der Beharrlichkeit - das Wissen um das
Ungeborene und die Liebe zu allen Lebewesen - zum Ausdruck bringen?
In der vorangegangenen
Strophe lehrte uns Yôka Daishi, daß wir uns nicht mit Verleumdern abgeben
sollen, in dieser hingegen fordert er uns auf, sie als Lehrmeister zu
betrachten. Es gibt Menschen, die Gott ihre Sünden beichten, es aber nicht
mögen, wenn andere ihre kleineren Unzulänglichkeiten kritisieren. Wie
berechtigt sie die Kritik auch finden mögen, ist sie ihnen doch sehr
unangenehm. Ein Schüler des Zen hört nicht nur darauf, sondern nimmt die Kritik
mit Dankbarkeit entgegen.
Mit der Frage: »Warum soll
ich also die beiden Kräfte der Beharrlichkeit zum Ausdruck bringen?«, meint er,
wir sollen uns nicht lange den Kopf zerbrechen über die Gründe, über das Wie
und das Warum. Wenn wir nicht zwischen »Ich« und »Er« unterscheiden, gibt es
keine Relativität von Ich und Nicht-Ich. Das ist das Wissen um das Ungeborene.
Jeder Bodhisattva oder Schüler des Zen liebt alle Lebewesen, unabhängig von
ihrem Aussehen oder ihrem Zustand. Er geht nicht in die Falle des Dualismus,
indem er zum Beispiel sagt: »Dieser Mensch hat mich verleumdet. Also werde ich
besonders nett zu ihm sein. «
Sein Wissen und seine Liebe
kommen in allem, was er denkt und tut, ganz natürlich zum Ausdruck, genauso wie
die Sonne auf die Erde scheint oder eine weiße Wolke über den blauen Himmel
zieht.
Wer
Zen erlangt, muß es auch ausdrücken können.
Meditation
und Weisheit müssen in ihrem vollen Glanz erstrahlen, ohne von irgendeiner
Vorstellung von Leere verschleiert zu werden.
Diese
Errungenschaft ist nicht nur wenigen vorbehalten.
Das
bezeugen die Buddhas, die so zahlreich sind wie die Sandkörner am Ganges.
Es gibt vier Arten, Zen
auszudrücken. Die Beredsamkeit des Dhamma ermöglicht es uns, die höchste
Weisheit zu äußern, wenn wir die Erleuchtung erlangt haben. In dem Augenblick
kann eine einzige Geste genügen, um unsere Interpretation der inneren Weisheit
in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen. Die zweite Art ist die Beredsamkeit
der Vernunft. Der Buddhismus ist eine Religion der Vernunft. Wenn du klar
siehst, solltest du ohne Schwierigkeiten berichten können, was du erblickst.
Die dritte Art ist die Beredsamkeit der Außerung. Zen-Schüler sollten sparsam
mit Worten umgehen. Menschen gehen verschwenderisch mit Worten um, weil sie so
zerstreut sind. Wenn Schweigen Gold ist, dann kann man nur feststellen, daß zur
Zeit viel zu viele Silberstücke in Umlauf sind. Die vierte Art der Beredsamkeit
ist die des Mitgefühls. Wenn du gelernt hast, ein reines, selbstloses Leben zu
führen, dann werden deine Worte kraftvoll und herzlich sein.
Anfänger in der Meditation
klammern sich oft an eine einseitige und falsche Vorstellung der Leere,
verhalten sich den Dingen des Lebens gegenüber kühl und distanziert und weigern
sich, auch selbst einmal die Initiative zu ergreifen. Sobald sie aber die
wirkliche Leere erfahren haben, wird ihre Liebe größer sein als diejenige der
freundlichsten unerleuchteten Personen.
Diese Errungenschaft ist
nicht nur wenigen vorbehalten, wie die große Anzahl der Buddhas (erleuchteter
Menschen) bezeugt.
Die Zen-Lehre der Furchtlosigkeit gleicht dem
mächtigen Brüllen des Löwen,
Das andere Tiere in Angst und Schrecken versetzt.
Selbst der König der Elefanten vergißt seinen Stolz
und läuft davon.
Mutige Schüler aber lauschen dem Brüllen mit
Gelassenheit, genau wie der Drache.
Wenn ein Schüler zum Sanzen[4]
kommt, läutet er zweimal die Glocke, ohne die geringste Furcht. In jenem
Augenblick geht er über Geburt und Tod hinaus. Er transzendiert Zeit und Raum.
Was er nun spricht, entstammt direkt seiner Buddhanatur und wird »das Brüllen
des Löwen« genannt. Das soll aber nicht heißen, daß er brüllt. Er ist kein
leeres Radiogerät, dessen Lautstärke voll aufgedreht wurde. Was er sagt ist das
Ergebnis harter Arbeit, und auch wenn ich seine Antwort zurückweisen sollte,
bleibt er in seiner Ruhe ungestört. Manchmal bringt ein Schüler einen ganzen
Sack voll Antworten, die er eine nach der anderen ausprobiert, um die passende
zu finden. Er ist wie ein Hausierer, der bemüht ist, einen Kunden zufriedenzustellen.
Anstatt in den Palast der Weisheit einzutreten, wird er in seine Sackgasse der
vorgefaßten Meinungen zurückkehren.
In Asien heißt es: »Um Zen
zu studieren, braucht es den Mut eines Helden.« Zen wird nie die breite Masse
ansprechen. Schon immer war es so, daß Zen-Schüler klug, mitfühlend und mutig
waren. Erlangen sie die Erleuchtung, helfen sie jedem Mitmenschen, wie er es
gerade nötig hat. Sie sind keine Scharlatane, die allen das gleiche
Allheilmittel verschreiben, sondern weise Arzte, die jedem seinem Leiden
entsprechend helfen. Sie haben das Ziel ihrer Meditation verwirklicht, jetzt
wollen sie nichts als allen Lebewesen helfen, das ihre zu erreichen.
Zen-Schüler
reisen zu Lande und zu Wasser, überqueren Flüsse und Berge,
Besuchen
Klöster und holen sich Unterweisung bei Lehrmeistern.
Auch
ich bin jenem Weg gefolgt, und so kam ich nach Sokei, wo ich meinen Meister
traf und das Dhamma erhielt.
Ich
weiß jetzt, daß mein wahres Wesen mit Geburt und Tod nichts zu tun hat.
Yôka Daishi hat Jahre gebraucht,
bis er nach Sokei gelangte. Erst mußte er den Fluß der Vermutungen und das Meer
der Intellektualität überqueren, in dem viele zeitgenössische Gelehrte von
ihrem Kurs abkamen und nie die Küste des Nirvana erreichten, und dann mußte er
noch die Gipfel der Meditation erklimmen, bevor er zur Erleuchtung gelangte.
Der Sechste Patriarch hat Yôka das Dhamma nicht verliehen, er hat nur seine
Erfahrung bestätigt.
Obwohl in den Kôans und
Zen-Geschichten immer wieder von herumfahrenden oder in Abgeschiedenheit
lebenden Mönchen die Rede ist, erreichen wir gar nichts, wenn wir diese
äußerlichen Umstände einfach nachahmen und uns zu eigen machen. Ein Schüler des
Zen ist weder ein Menschenfeind noch ein Frauenfeind, es besteht also nicht die
geringste Notwendigkeit, sich in eine Waldhütte zurückzuziehen oder den Umgang
mit dem anderen Geschlecht zu meiden. Er meistert seine Situation, wo er auch
steht.
Die letzte Zeile dieser
Strophe ermöglicht es uns, den Autor dieses Gedichtes näher kennenzulernen:
»Ich weiß jetzt, daß mein wahres Wesen mit Geburt und Tod nichts zu tun hat.«
Das ist dein Kôan. Wie kannst du dich von Geburt und Tod befreien? Was ist dein
wahres Wesen? Denk nicht lange darüber nach! Konzentriere dich darauf.
Ein
Zen-Schüler geht und sitzt im Zen.
Ob im Reden oder im Tun, im Schweigen oder im
Nichtstun, sein Körper verweilt in der Ruhe.
Er lächelt selbst beim Anblick des Schwertes, das sein
Leben beenden wird.
Sogar im Augenblick des Todes bleibt er gelassen. Auch
Drogen bringen ihn nicht aus der Ruhe.
Meditation übt man auf
vierfache Weise. Erstens: Körper und Geist verweilen in einem Zustand der Ruhe;
das ist die Grundlage allen Handelns im Zen. Zweitens: Der Körper bleibt ruhig,
der Geist aber bewegt sich, wie beim Lesen oder Anhören eines Vortrages.
Drittens: Der Geist bleibt ruhig, aber der Körper bewegt sich, wie etwa beim
Gehen. Viertens: Sowohl der Geist als auch der Körper bewegen sich, wie dies im
täglichen Leben geschieht. Ein Schüler des Zen kann also jeden Augenblick in
Gelassenheit seine Geistessenz erfahren.
Unser
großer Lehrmeister Shâkyamuni begegnete vor Millionen von Jahren dem Dipankara
Buddha[5] und
nahm sein Dhamma an.
Seither
ist er ein Meister des Kshânti, der
Geduld, von einem Leben zum anderen.
Es gibt Menschen, die sich für ihre
früheren Leben interessieren, Zen-Schüler aber sehen das Leben als ewige Gegenwart.
Geschichten von »Wiedergeburten« verleiten zur Annahme, daß es eine
individuelle Persönlichkeit gibt, was jemanden, der ernsthaft nach der
Wahrheit sucht, nur ablenken kann. Wenn du die Zeit ausdehnst und den Raum
zusammenziehst, wirst du sehen, wie Buddha Shâkyamuni vor Millionen von Jahren
das Dhamma von Dipankara Buddha erhielt, wenn du aber den Raum erweiterst und
die Zeit zusammenziehst, wirst du erkennen, wie Kshânti, die Geduld, die Angelegenheiten der Menschen
beherrscht. Was zählt ist der gegenwärtige Augenblick. Solange die Anhänger
des Okkultismus dies nicht begreifen und nicht zur Vernunft kommen, werden die
spirituellen Geschäftemacher hier und überall äußerst erfolgreich sein.
Der
Mensch wird unzählige Male geboren und stirbt folglich auch unzählige Male.
Leben
und Tod gehen endlos weiter.
Wenn
jemand die wahre Bedeutung von »Geburtlosigkeit« erfaßt,
Geht
er über Trauer und Freude hinaus.
Im
Gebirge zwischen alten Kiefern
Lebt
er allein in einer Hütte.
In
der Ruhe dieses Ortes
Meditiert
und lebt er zufrieden.
Diejenigen,
die das Dhamma verstehen, handeln immer natürlich.
Die
meisten Menschen auf dieser Erde leben in Samskrita[6],
Zen-Schüler aber leben in Asamskrita[7].
Jene,
die anderen etwas geben, um dafür etwas zu bekommen, schießen Pfeile
himmelwärts.
Der
Pfeil, der zum Himmel geschossen wird, kehrt zur Erde zurück.
Wenn
sich Einsatz und Ergebnis die Waage halten, bleibt nichts übrig.
Ganz
etwas anderes ist es, sich ohne Hoffnung auf Belohnung zu bemühen.
Dann öffnet sich das Tor der Wahrheit, und wir
betreten den Garten des Tathâgata.
Ein wahrer Schüler des Zen beachtet nicht die Blätter
und Aste, sondern zielt auf die Wurzel.
Es ist wie die Spiegelung des Mondes im Wasser einer
Schale aus Jade.
Jetzt kenne ich die wirkliche Schönheit des Mani-Juwels, des Edelsteins der
Befreiung,
Der anderen und mir unendlichen Segen bringen wird.
Wir widmen uns der Meditation, um zur
Wurzel der Lehre zu gelangen. Stelle mir keine dummen Fragen! Zuerst finde heraus,
wer du wirklich bist. Die Spiegelung des Mondes auf dem Wasser ist wunderschön,
aber der Mond selbst ist darin nicht vorhanden, ebensowenig wie seine
Schönheit am Himmel schwebt.
Der Mond steigt über dem Flusse auf, der Wind spielt
leise in den Kiefern am Ufer
Die ganze Nacht lang. Was bedeutet diese Ruhe?
Erkenne, daß die Gesetze der Buddha-Natur klar im
Herzensgrund eingeprägt sind.
Tau, Nebel, Wolke und Dunstschleier reichen, um den
ursprünglichen Menschen zu kleiden.
Diese Strophe ist ein Kôan. Du mußt hart
arbeiten, um einen Schimmer davon zu erhaschen. Wenn du glaubst, ich verberge
etwas vor dir, bist du der Schuldige. Ich verstecke nichts vor dir.
Eine Bettelschale besiegte einst Drachen, und ein Stab
besänftigte streitende Tiger.
Der Stab hatte sechs kleine Ringe an der Spitze, deren
Rasseln die Leute aus ihren Träumen erweckte.
Die Eßschale und der Stab sind nicht nur Symbole der
Lehre,
Sondern verrichten noch immer Tathâgatas Werk hier auf Erden.
Der Legende nach besiegte Buddha Shâkyamuni
einst Drachen, indem er sie so klein werden ließ, daß sie in seiner Eßschale
Platz hatten. Mit seinem Stab besänftigte ein Zen-Meister einst zwei kämpfende
Tiger und bewahrte sie somit davor, daß sie sich gegenseitig zerfleischten.
Diese Geschichten sind weder Gleichnisse, noch erzählen sie von Wundern. Wenn
du das Mani-Juwel gefunden hast, wirst auch du solche Taten vollbringen können.
Wo sind die Lasten des Egoismus, die du so
lange schon mit dir herumträgst? Wo sind die dualistischen Gedanken, die
ständig in deinem Kopf ihr Gefecht austragen? Schau! Der Mond erhebt sich über
dem Fluß von Samsâra[8]. Der Wind spielt das Lied
des Buddha-Dhamma in den Kiefern am Ufer. Was bedeutet diese Ruhe? Du fühlst jetzt
weder die Last des Egoismus, noch die Widersprüchlichkeit dualistischen Denkens.
Ist das ein Wunder? Jeder kann diese Erfahrung machen, wenn er den Mut hat,
seine Täuschungen abzuwerfen, und so ist, wie er immer schon war - jenseits
von Zeit und Raum.
Ein idealer Zen-Schüler sucht weder das Wahre noch
meidet er das Unwahre.
Er weiß, daß dies nichts als dualistische Gedanken
sind, ohne Form.
Nicht-Form ist weder leer noch nicht-leer.
Sie ist die wahre Form der Weisheit des Buddha.
Um dir das Verständnis der
eben erwähnten Strophe zu erleichtern, möchte ich mit eigenen Worten einen Ausschnitt
aus Shin-jin-mei wiedergeben,
einem Gedicht des Dritten Patriarchen in China. »Die Wahrheit ist wie der
unendliche Raum ohne Eingang und Ausgang. Es gibt nichts mehr und nichts
weniger. Dumme Menschen schränken sich selbst ein und verschließen die Augen,
die Wahrheit aber ist nie verborgen. Einige gehen zu Vorträgen und hoffen, in
den Worten anderer die Wahrheit zu entdecken. Andere sammeln Bücher und hoffen,
darin die Wahrheit zu finden. Sie sind alle auf dem Holzweg. Unter den Klügeren
lernen vielleicht einige zu meditieren, um dadurch eine innere Leere zu
erreichen. Sie ziehen diese Leere äußeren Verstrickungen vor, aber es ist noch
immer dieselbe alte dualistische Falle. Denke einfach Nicht-Denken, wenn du es
ernst meinst mit Zen. Dann weißt du gar nichts, aber du bist mit allem
verbunden. Es gibt weder eine Wahl noch eine Vorliebe, und der Dualismus
verschwindet von selbst. Bleibst du aber stehen und versuchst, die Ruhe festzuhalten,
wirst du feststellen, daß die Ruhe sich ständig bewegt. Wenn Kinder Lärm
machen, und du sie laut beschimpfst, wird die Lage nur noch schlimmer. Kümmere
dich nicht um den Lärm, vergiß ihn, und du wirst den Frieden in deinem Innern erlangen.
Wenn du deine Vorlieben und deine Abneigungen vergißt, wirst du das Einssein
kosten. Die Ruhe dieses mittleren Weges ist etwas ganz anderes als die innere
Leere.«
Der Spiegel des Herzens erleuchtet alles ohne
Unterschied.
Seine endlosen Strahlen dringen bis in die letzten
Winkel des Weltalls.
Ohne Ausnahme wird alles darin widerspiegelt.
Das ganze Universum ist ein Juwel des Lichts, das
weder Innen noch Außen kennt.
Hier ist noch ein weiterer
Ausschnitt aus Shin-jin-mei um die vorangehende Strophe besser verstehen zu
können: »Zen geht über Zeit und Raum hinaus. Zehntausend Jahre sind schließlich
nichts als ein Gedanke. Was du gesehen hast ist das, was du in der ganzen Welt
hattest. Wenn deine Gedanken über Zeit und Raum hinausgehen, wirst du wissen,
daß der kleinste Gegenstand groß ist und der größte Gegenstand klein, daß Sein
Nicht-Sein und Nicht-Sein Sein ist. Ohne diese Erfahrung wirst du bei allem
zögern. Wenn du begreifst, daß das Eine das Viele ist und das Viele das Eine,
wird dein Zen vollkommen sein.«
»Vertrauen und Geistessenz
sind ein und dasselbe. Du wirst nur das "Nicht-Zwei" sehen. Das "Nicht-Zwei" ist das Vertrauen. Das "Nicht-Zwei" ist die
Geistessenz. Es gibt keine andere Möglichkeit als das Schweigen, um dies
richtig auszudrücken. Dieses Schweigen ist nicht die Vergangenheit. Dieses
Schweigen ist nicht die Gegenwart. Dieses Schweigen ist nicht die Zukunft.«
Wenn ein Zen-Schüler
die Leere einseitig versteht, übersieht er das Gesetz von Ursache und Wirkung.
Er wird ziellos leben,
mit bösen Gedanken und schlechten Taten.
Seine Vorstellungen
sind krankhaft, da er allem die Existenz abspricht, der Leere selbst aber eine
solche einräumt.
Um sich vor dem
Ertrinken zu retten, hat er sich ins Feuer gestürzt.
»Die Leere einseitig sehen«
heißt, einen anderen Namen für die Relativität, die Welt der Erscheinungen und
das Nichts zu verwenden. Wenn der Buddhismus allem eine Existenz aberkennt,
dann gilt das natürlich auch für die Leere. Es gibt eine Ordnung, und es gibt
das Gesetz von Ursache und Wirkung. Mit »Leere« meint man auch das, was nicht
ausgesprochen werden kann.
Wer
alle Täuschungen ablegt, um die Wahrheit zu suchen,
Wird vielleicht seine
Urteilskraft schulen,
Er wird aber nie die
Erleuchtung erlangen,
Weil er seinen Feind für
sein eigenes geliebtes Kind hält.
Es gibt Christen, die einen
Engel bewundern, aber den Teufel hassen. Einige Konfuzianer sehnen sich zurück
in die Zeit des Alten Reiches und klagen über die gegenwärtige Regierung. Sie
alle versuchen, sich dem Wahren zu nähern, indem sie das Falsche von sich
weisen. Sie plagen sich endlos, erreichen aber niemals einen echten inneren
Frieden. Zen-Schüler, die der Wahrheit nacheifern, indem sie ihre Täuschungen
verschmähen, machen denselben Fehler. Wissenschaftler reduzieren die Materie
auf Atome und spalten dann das Atom, wie sie es vorher mit dem Molekül gemacht
haben. Sie stehen schließlich vor dem Dilemma, daß man Materie unendlich
verkleinern kann - was unsere Vorstellung übertrifft - oder daß es Grenzen hinsichtlich
der Teilbarkeit gibt - was ebenso unvorstellbar ist. Mit Zeit und Raum ist es
dasselbe. Die Analyse der Materie ergibt am Ende nichts als Energie, eine
Energie, die auf unsere Sinnesorgane einwirkt, oder eine, die sich unseren
Körperwerkzeugen widersetzt. Wer soll uns denn erklären, was Energie ist?
Wenden wir uns von der Physik der Psychologie zu, haben wir es mit dem Geist
und mit dem Bewußtsein zu tun. Hier stehen wir vor noch viel größeren Rätseln.
Wir dürfen nicht von der
Voraussetzung ausgehen, daß es ein Wahres außerhalb des Unwahren gibt. Wir
müssen erkennen, wie das Heilige unheilige Zustände verwandelt. Hier und jetzt
müssen wir das himmlische Reich errichten. Die Denkkategorien von Wissenschaft
und Philosophie basieren auf dualistischer Verblendung, ganz gleich, wie
entwickelt die analytischen Fähigkeiten sein mögen. Laß dich nicht von
Redeweisen wie »der Gott in uns« oder »Ich bin Das« hinreißen, sondern erfahre
selbst den Zustand des Samâdhi, wo
es keinen Gott gibt, weder Innen noch Außen, wo es weder Dies noch Das, weder
Ich noch Du gibt. Dann kannst du, wenn du willst, die christliche Redeweise
verwenden und sagen: »Ein Gott, der nicht in der Welt ist, ist ein falscher
Gott, und eine Welt, die nicht in Gott ist, ist unwirklich.« Aber bevor du nicht
so weit bist, übe dich im Schweigen und setze deine Arbeit beharrlich und
schweigend fort, um klar zu erkennen, was Geist und Herz sind.
Der Mensch läßt sich den spirituellen Schatz entgehen
und kommt um seine Verdienste,
Weil er sich an die dualistische Denkweise hält und
die Geistessenz vernachlässigt.
Um das Tor des Zen zu durchschreiten, muß er diesen
Fehler korrigieren.
Dann kann er die Weisheit erlangen, um den Palast des
Nirvana zu betreten.
Buddhisten erwähnen oft die
folgenden »sieben Schätze«:
Vertrauen, Beharrlichkeit,
Zuhören, Demut, Gebote, Selbstaufgabe, Meditation und Weisheit. (Meditation
und Weisheit werden als Einheit betrachtet — innere Schulung und äußere
Erleuchtung). Um diese sieben Schätze zu erlangen, muß einer in erster Linie
seine Geistessenz klar erkennen, genauso wie Aladin zuerst die Lampe finden
mußte, bevor er wundervolle Taten vollbringen konnte.
Obaku, ein chinesischer
Zen-Meister, sagte einmal: »Die Buddhas und die Lebewesen entstehen alle aus
dem Einen Geist, außer dem es keine Wirklichkeit gibt... Wir leben in der Welt
der Form, suchen diesen Geist jedoch außerhalb davon, wodurch er sich uns immer
mehr entzieht. Den Buddha zu benutzen, um den Buddha zu finden, oder den Geist
zu gebrauchen, um den Geist zu erfassen wird nie möglich sein. Wir sehen
nicht, daß sich Buddha vor uns offenbart, sobald unser Gedankenstrom anhält,
und jeglicher Versuch, Ideen zu bilden, vergessen ist.
Der
wahre Schüler des Zen trägt das Schwert des Prajñâ (der Weisheit der Befreiung),
Dessen
Klinge so scharf ist, daß man die Flammen um sie herum spürt.
Es
durchschneidet die Täuschungen nicht-buddhistischen Denkens ebenso wie den
überheblichen Stolz der himmlischen Teufel.
Manchmal
verkündet der Schüler die Lehre wie ein Gewitter,
Andere
Male strömt er den sanften Regen der Herzensgüte aus.
Sein
Gang gleicht dem des Elefantenkönigs, dennoch liebt er alle Lebewesen.
Er
unterweist fünf Schüler unterschiedlichster Natur und führt sie alle zur
Buddhaschaft, auch wenn sie durch die drei verschiedenen Tore zu ihm gekommen
sind.
»Himmlische Teufel« sind
diejenigen, die sich Zen-Meister nennen oder die Roben sonstiger religiöser
Schulen tragen und meinen, daß sie dadurch irgendein göttliches Recht übertragen
bekommen haben, das Leben anderer Menschen zu beeinflussen. Stolz ist eine der
subtilsten und heimtückischsten Täuschungen und hat viele Gesichter. Nur einer,
der Prajñâ vollständig erlangt
hat, ist berechtigt, andere zu führen.
Die fünf Arten von Schülern
sind diejenigen, welche die Buddhaschaft durch Verwirklichung der vier edlen
Wahrheiten (Shrâvakas), der zwölf Nidânas[9]
(Pratyeka-Buddhas) oder der sechs Pâramitâs[10]
(Bodhisattvas) erlangen; außerdem gibt es Schüler, die unsicher sind, und
schließlich die, die in keine der genannten Kategorien passen. Der wahre
Schüler des Zen unterweist jeden von ihnen seinem Verständnis entsprechend, bis
dieser die Erleuchtung erlangt hat.
Das
kostbare Gras des Himalaya ist das einzige, das du auf dieser Wiese findest.
Die
Kühe, die dort grasen, geben die beste Milch, aus der man den geschmackvollsten
Käse gewinnt.
Die
Lehren des Zen sind genauso rein. Wenn der menschliche Charakter geläutert
wird, ist er der Charakter aller Lebewesen;
Wenn
das Gesetz der Menschheit erfüllt ist, ist es das Gesetz des Universums.
Ein
Mond spiegelt sich in vielen Gewässern.
Zahllose Spiegelungen sind nichts als das Abbild des
einen Mondes.
Der Dharmakâya
aller Buddhas wird zu meinem inneren Wesen,
Das eins wird mit dem Tathâgata.
Ein Stadium der Meditation enthält alle anderen in
sich;
Die Geistessenz wird durch Farbe, Form, Gedanke oder
Tätigkeit nicht eingeschränkt.
Ein Schnippen mit den Fingern, und achttausend Tore
der Lehre öffnen sich.
Ein Augenzwinkern, und zahllose Zeitalter lösen sich
in nichts auf.
Unzählige Namen und Kategorien haben nichts mit meiner
Erleuchtung zu tun.
Ein Hauch von Natur bringt
die ganze Welt zusammen. Alle Dinge kehren zum Einen zurück, und das Eine wirkt
durch alle Dinge. Wenn du ein Kôan löst, hast du alle gelöst. Du bist selber
daran schuld, wenn du dich im nächsten verstrickst. Die Erleuchtung hat weder
Farbe noch Form, führt zu keiner inneren Regung und zu keiner Handlung, die
dualistisch wäre.
Man
kann die Erleuchtung weder loben noch tadeln.
Wie
der Himmel kennt Wahrheit keine Grenzen.
Wo
du auch stehst, bist du von ihr umgeben.
Wenn
du sie anstrebst, wirst du sie nicht erreichen.
Deine
Hand kann sie nicht festhalten, genausowenig wie dein Geist sie aussperren
kann.
Wenn
du aufhörst, danach zu suchen, ist sie mit dir. Im Schweigen verkündest du sie
laut. Wenn du
sprichst, verkörperst du ihr Schweigen.
So
öffnet weit sich das Tor des Mitgefühls zum Wohl aller lebendigen Wesen.
Am Anfang deines
Zen-Studiums strebst du die Erleuchtung an. Deine Motivation ist lobenswert,
solange man von Motivation spricht, in deiner Meditation aber solltest du
nichts anstreben. Denke vielleicht an die Erleuchtung, um dich selbst
anzuspornen, wenn du nicht meditierst; aber hüte dich vor solchen
Verstrickungen. Ansporn ist eine Sache, Meditation eine andere. Bring die beiden
nicht durcheinander. Trage deine Meditation wie die ewige Gegenwart und lasse
sie in dein tägliches Leben einfließen.
Wenn jemand mich fragt,
welchen Zweig des Buddhismus ich studiert habe,
Erzähle ich ihm über Mahâprajñâ [11],
den Kern der Lehre.
Ohne Mahâprajñâ bist du, auch wenn du
Recht und Unrecht erkennst, noch nicht bei der Wahrheit angelangt.
Mit dem Kern der Lehre aber
befindest du dich stets im Lande der Wahrheit.
Viele, viele Leben lang
habe ich mich mit Mahâprajñâ befaßt;
Und ich sage das nicht, um
dir etwas vorzumachen.
Ich erhielt den Auftrag,
die Lehre zu verbreiten;
Buddha hat ihn mir von
Generation zu Generation gegeben.
Das Licht der Weisheit
wurde erst dem Mahâkâshyapa übertragen,
Und von ihm in direkter
Linie weiter bis zum achtundzwanzigsten Patriarchen.
Bodhidharma, der »indische
Patriarch«, überquerte die Meere und kam in dieses Land.
Mein Lehrmeister in Sokei
erhielt seine Robe und wurde der Sechste Patriarch Chinas, wie du gehört hast.
Wer weiß, wie viele
Generationen die Lehre in Zukunft weitertragen werden.
Der Buddhismus ist die
Lehre der Selbsterleuchtung. Kein Gott oder göttliches Wesen wird dir helfen,
die Wahrheit zu begreifen. Die Kraft, die du in dir hast, die dies ermöglicht,
nennt man Mahâprajñâ, was
soviel wie »große Weisheit« heißt. Das ist der Kern der Lehre, der Ursprung
aller Richtungen buddhistischen Denkens. Wer lange theoretisiert, nur Schriften
liest oder an Dogmen und Weltanschauungen festhält, irrt fern vom Ziel umher.
Eine ethische Haltung und barmherzige Taten sind zwar lobenswert, von
bleibendem Wert sind sie aber nur, wenn sie aus Mahâprajñâ entspringen.
Wenn Yôka sagt, er habe
viele, viele Leben lang studiert, bezieht er sich damit nicht auf zahllose
Inkarnationen. Als er seine Erleuchtungserfahrung machte, fielen alle seine Täuschungen
von ihm ab, und er wurde eins mit dem unermeßlichen Ozean der Weisheit, dessen
Wellen von Buddhas und Patriarchen nun auch die seinen wurden. Das Strahlen von
Mahâprajñâ erhellt alle
Lebewesen; Buddhas und Patriarchen spiegeln sich diesen Glanz gegenseitig zu.
Yôka faßt kurz die
Geschichte des Zen zusammen und fragt sich, wie künftige Generationen die Lehre
weiterreichen werden. Es ist jedem einzelnen überlassen, ob er das latent immer
vorhandene Mahâprajñâ entdecken
will oder nicht.
Das
Wahre besteht nie ganz für sich — das Unwahre besteht nie ganz für
sich.
Wenn
sich die Vorstellung von Existenz und Nicht-Existenz auflöst, verschwindet die
Vorstellung von Leere und Nicht-Leere.
Das
Sutra erwähnt zwanzig verschiedene Bezeichnungen für die Leere, die alle für
denselben Körper der Buddha-Natur stehen.
Der
Geist regt sich und kommt mit der Außenwelt in Kontakt. Dadurch entstehen
Täuschungen.
Subjektivität
und Objektivität sind wie Staub auf der Oberfläche eines Spiegels.
Wenn
der Spiegel staubfrei ist, erstrahlt er im Glanz.
Wenn
der Geist sich nicht regt, gibt es keinen Kontakt und keine Täuschungen, und es
erscheint das wahre Wesen des Menschen.
Yôka warnt uns davor, Wahr
und Falsch als gegeben vorauszusetzen. Ohne Dualismus kann man die Wahrheit
schnell erreichen, man muß sie aber in der Meditation erfahren. Das Ergebnis
der Meditation übertrifft Gedanken und Worte. Die verschiedenen Bezeichnungen
für die Leere sind wie eine Liste von Medikamenten; wenn du gesund und kräftig
bist, interessierst du dich nicht dafür. Viele Lehrer versuchen, ihre Schüler
an sich zu binden oder zu verwirren, indem sie die verschiedenen Namen für Gut
und Böse anwenden, die sich im Lauf der Geschichte angesammelt haben. Wenn du
damit ein Geschäft machen willst, dann lerne die Namen auswendig, wenn du aber
die Befreiung für dich und andere willst, gib das »Drogengeschäft« auf und übe
Zazen.
Traurig ist es, in Zeiten zu leben, in denen Dhamma
nicht praktiziert wird und böse Gedanken gedeihen.
Die Menschen sind nicht imstande, die wahre Lehre
anzunehmen und Selbstdisziplin zu üben.
Sie leben weit von der Wahrheit entfernt und halten an
falschen Vorstellungen fest.
Das Böse ist stark, die Schüler sind schwach, so
verbreiten sich Angst und Haß.
Auch
wenn sie von der Lehre des Tathâgata hören,
Wollen sie nichts, als sie mit Füßen treten
Es gibt drei Vorgänge,
damit Buddhas Lehre im heutigen Geist Wurzeln schlagen kann: erstens muß die
Lehre gut verstanden worden sein; zweitens muß sie genauestens praktiziert
werden; und drittens muß sie in aller Tiefe erfahren und in die Tat umgesetzt
werden.
Die obige Strophe bezieht
sich auf eines der Sutras des Buddha, in dem er voraussagte, daß im ersten
Jahrtausend nach seinem Tode die Menschen Dhamma studieren, ausüben und seine
Früchte ernten würden; im darauffolgenden Jahrtausend Menschen noch immer die
Lehre lernen und einige unter ihnen sie auch ausüben würden, ohne aber damit
fortzufahren und die Früchte zu ernten; in den darauffolgenden zehntausend
Jahren werde es zwar noch Menschen geben, die davon hören, sie würden die Lehre
aber nicht praktizieren und dadurch natürlich auch nicht die Erleuchtung
erlangen. Jeder sucht sich seine Epoche aus - diejenige der genauen Befolgung,
die der Nachahmung oder die des Verfalls des Buddha-Dhamma. Es kann sein, daß
jemand jahrelang studiert und dabei nur Wissen anhäuft (dann ist er in seiner
Phase des Verfalls), wenn er aber ernsthaft und tapfer genug ist, sich voll und
ganz der Meditation zu widmen, beginnt für ihn vielleicht nächste Woche schon
die Zeit der genauen Befolgung oder der Nachahmung.
Verlangen erzeugt Handeln, das dann zu Leiden führt.
Es ist sinnlos, andere zu beschuldigen, wenn man
erntet, was man selbst gesät hat.
Wer nicht in der Hölle leiden will,
Sollte das Rad des Dhamma nicht verleumden.
Als der Buddha seine
Schüler das Gesetz des bedingten Entstehens lehrte, sprach er: »Handlungen
werden durch Nichtwissen bedingt; Handlungen bedingen ihrerseits Bewußtsein;
Bewußtsein bedingt Name und Form; Name und Form bedingen die Tätigkeit der
Sinne; die Sinne bedingen Berührung; Berührung bedingt Empfindung; Empfindung
bedingt Verlangen; Verlangen bedingt Ergreifen; Ergreifen bedingt Werden;
Werden bedingt die Geburt; die Geburt bedingt Alter und Tod, Sorge, Trauer,
Klage und Verzweiflung. So kommt es zu dieser Unmenge von Leiden.«
Jeder Zen-Meister wird dich
warnen, daß es keine Gleichheit ohne Unterscheidung und keine Unterscheidung
ohne Gleichheit gibt, wenige Schüler aber verstehen diesen subtilen Unterschied.
Es ist eine
selbstverständliche Tatsache, daß jede Person, unabhängig davon, ob sie
erleuchtet ist oder nicht, dem Gesetz des bedingten Entstehens unterliegt. Wenn
jemand sein eigenes Leiden beenden und auch anderen helfen möchte, dann soll er
dies im Einklang mit dem Gesetz des Universums tun und nicht danach streben, es
zu umgehen.
Im Sandelhain wächst kein Baum von minderer Sorte;
Seit
Menschengedenken wohnen nur Löwen dort, Die frei im stillen, dunklen Hain
umherstreifen.
Die anderen Tiere halten sich fern; nicht einmal Vögel
fliegen herbei.
Den älteren Löwen folgen nun ihre Jungen;
Von denen schon die dreijährigen Tiere laut brüllen.
Wie kann ein jaulender Fuchs den König des Dhamma
nachahmen?
Selbst wenn hundert Dämonen ihr Maul weit aufreißen,
ist es umsonst.
In Indien sagt man, daß in
der Nähe von Sandelhainen keine Bäume minderer Sorte wachsen, deshalb benutzen
Buddhisten sie als Symbol für die höchste Weisheit. Unter »Vögel« und »Tiere«
sind hier Ruhm und Ehre gemeint. Mönche stehen diesen in all ihren
Erscheinungsformen immer und überall gleichgültig gegenüber. Nur die jungen
Löwen können den älteren folgen, und sie haben schon früh gelernt zu brüllen.
Ein jaulender Fuchs mag mit seinen Nachahmungsversuchen zwar einige täuschen — so
wie falsche Lehrer die Worte und Rituale der wahren Lehre imitieren mögen —, wenn er aber einem echten Löwen begegnet, ist er verloren.
Die Lehre des Zen ist kein Thema für das Gefühl.
Zweifel werden nicht durch Diskussionen aus dem Wege
geräumt.
Ich bestehe auf dein Schweigen.
Um dich vor dem Fallstrick von Sein und Nicht-Sein zu
retten.
Zen gestattet es keinem
Schüler, auch nur eine Sekunde seiner Zeit zu verschwenden. Hast du ein Kôan,
konzentriere dich darauf. Hast du keins, dann zähle deinen Atem. Kümmere dich
nicht um Zweifel. Meditiere weiter! Nur dadurch lernt man, den »Mittleren Weg«
zu gehen.
Falsch
ist nicht immer falsch, und richtig nicht immer richtig.
Wenn
du an vorgefaßten Meinungen festhältst, ist der kleinste Unterschied schon eine
unüberbrückbare Entfernung.
Wenn
sie den Ursprung erreicht, tritt die kleine Schlange in die Buddhaschaft ein;
Selbst
der gelehrteste Schüler des Buddha erleidet die Qualen der Hölle, wenn er die
Essenz nicht berührt.
Das
Saddharma-Pundarika-Sutra erwähnt eine kleine Schlange, die erleuchtet wurde,
während man im Nianaparinirvâna-Sutra die Geschichte von Zensho vorfindet, einem gelehrten
Schüler, der die Qualen der Hölle erleiden mußte. Wir brauchen aber nicht erst
lange die Sutras durchzukämmen, wir können solche Beispiele doch täglich in
unserem Leben beobachten. Geschlecht, Alter und Bildung haben nichts mit
Erleuchtung zu tun.
Von
meiner frühen Jugend an habe ich Wissen über den Buddhismus angehäuft, indem
ich Sutras und Shâstras studierte.
Ich
war so beschäftigt, die vielen Begriffe der Lehre zu ordnen, daß ich nicht
einmal Zeit zum Ruhen fand.
Ich
mühte mich aber umsonst ab, wie einer, der am Strande Sandkörner zählt.
Ich
hatte das Gefühl, daß Buddha mich tadeln wollte, als ich diese Worte im Sutra
las:
»Was
hat es für einen Sinn, den Preis des Vermögens deines Nächsten zu nennen?«
Jahrelang
bewegte ich mich in die falsche Richtung, Wie ein verlorener Sohn, der fern von
zu Haus
herumirrt.
Ein Schüler des Zen muß
mehr Zeit beim Meditieren als beim Lesen verbringen — auch wenn es sich um
Bücher über Zen handelt. Ohne deine eigene Erfahrung wird dir Zen immer fremd
sein, und du bleibst ein philosophischer Amateur. Finde deinen eigenen Schatz.
Ein
Mensch, der die falschen Voraussetzungen hat, versteht die Dinge nur selten
richtig.
Es ist für ihn schwierig, die plötzliche Weisheit des Tathâgatha
zu erlangen.
Zwei
der fünf Arten von Schülern suchen die Befreiung nur für sich selbst, nicht aus
Liebe zu anderen Lebewesen.
Weltliche
Gelehrte haben ein dualistisches Wissen, aber nicht Prajñâ, die Weisheit der Befreiung.
Konfuzius sagte: »Ihrem
Wesen nach sind sich die Menschen ähnlich, sie unterscheiden sich jedoch sehr
in ihrer Art zu leben.« Wer alle Lebewesen liebt, meditiert, um sie zur
Erleuchtung zu führen, und schult dabei seinen eigenen Geist im Zen. Der Geist
eines Shrâvaka ist zwar bereit, einem erleuchteten Wesen zuzuhören, aber nur,
um sein eigenes Leiden zu überwinden. Andere studieren Zen, um gewisse
Schwächen, etwa Reizbarkeit, Feigheit oder einen Hang zu Wutanfällen zu
bezwingen. Das sind egoistische Schüler. Ebenso steht der Geist eines
Pratyeka-Buddha der Lehre offen gegenüber, aber auch seine Motivation ist nicht
selbstlos. Nicht-buddhistische Gelehrte haben dualistisches Wissen, was sie zu
Intellektuellen macht; ihnen fehlt es aber an Prajñâ, und sie sehen ein, daß ihre Bemühungen der Menschheit
kein wahres Glück bringen können.
Menschen, die kindisch und dumm sind, irren abseits
der Erleuchtung umher.
Wenn sie eine geschlossene Faust sehen, glauben sie,
daß etwas darinsteckt.
Zeigst du mit deinem Finger auf den Mond, unterhalten
sie sich über den Finger, nicht über den Mond.
Ihr Denken geht über die fünf Sinne nicht hinaus,
während sie in der materiellen Welt Versteck spielen.
Wenn Zen seine Faust öffnet,
um zu zeigen, daß nichts darin steckt, ist die spirituelle Kundschaft verwirrt.
Solche Menschen genießen den Rausch der Illusionen, und da sie nichts wissen,
rezitieren sie begeistert die Texte und nehmen an Andachten teil. Sie sind aber
Träumer, die man leicht täuschen kann. Mit diesen falschen Voraussetzungen ist
es für sie schwierig, das System der plötzlichen Befreiung zu verstehen.
Einer, der nichts anderes sieht als die Geistessenz,
ist der Tathâgata selbst.
Ihn sollte man Avalokiteshvara[12] nennen: derjenige, der die Welt mit
Weisheit und Mitgefühl klar sieht.
Wenn einer die Wahrheit begreift, weiß er, daß selbst
karmische Hindernisse keine Wesenheit haben.
Wer aber nicht weiß, was wahre Leere ist, macht sich
Sorgen wegen Schulden und Guthaben.
Wenn du einmal begreifst,
daß nichts existiert, sondern alles Ausdruck der Geistessenz ist, frei von Sein
und Nicht-Sein, bist du Tathâgata, der Erleuchtete.
Der Erleuchtete muß genauso
wie alle anderen seine karmischen Schulden begleichen, er macht sich aber weder
Sorgen darüber, noch verschuldet er sich von neuem.
Der
Hungrige lehnt das königliche Mahl ab.
Wie sollen die Kranken behandelt werden, wenn sie sich
vom guten Arzt abwenden?
Stillt es deinen Hunger, wenn ein anderer
ißt? Vergeht dein Durst, wenn ein anderer trinkt? Bist du ausgeruht, wenn ein
anderer sich hinlegt? Wer muß sich bemühen, damit du erleuchtet wirst?
Hast du die Weisheit des Prajñâ, kannst du Zen auch in der
Welt der Begierden üben.
So wie die Lotosblume im
Feuer nicht verbrennt, kann nichts dein Zen zerstören.
Obwohl Yuse, ein Mönch,
einst die wichtigsten Gebote übertrat, ging er, ohne zu zögern, weiter und
erreichte Nirvana;
Das reine Land, das er
erbaute, existiert immer noch.
Das Buddha-Dhamma macht
jeden furchtlos.
Wie schade, daß dumme
Gemüter diese Tatsache nicht wahrhaben wollen!
Sie denken nur an Gewinn
und Verlust, wenn sie die Gebote befolgen,
Und vergessen, daß sie noch
immer ohne fremde Hilfe die geheime Tür des Tathâgata öffnen können.
In der Vergangenheit
brachen zwei Mönche einmal die Gebote.
Der Obermönch, Upali,
dachte mit seinem beschränkten Verständnis, daß für sie nun keine Hoffnung
mehr bestehe.
Vimalakirti aber, ein Laie,
löste die Wolken ihrer Zweifel, genau so wie warmes Sonnenlicht den Frost
schmilzt, und sie erfuhren die Wahrheit.
Ein Schüler des Zen muß
durch die Welt der Begierden hindurch. In Indien erzählt man die Geschichte von
einer Lotosblume, die mitten in einem Feuer aufblühte. Wie die Lotosblume oder
wie ein Phönix wird sich der Zen-Schüler aus der Asche seiner weltlichen
Begierden und seiner vergeblichen Reue erheben und durch nichts von seinem Weg
zur Erleuchtung abzubringen sein. Er wird seine karmische Schuld begleichen,
ohne zu fragen. Das Eis seiner Zweifel schmilzt in der Sonne der Erkenntnis,
die alle Lebewesen erleuchtet.
Die
wunderbare Kraft der Befreiung!
Sie
kommt in vielfachster Weise zum Tragen und ist unerschöpflich.
Man
sollte vier Arten von Opfergaben darbieten für diesen Schatz.
Wenn
du dafür bezahlen möchtest, würde eine Million Goldstücke nicht ausreichen.
Wenn
du alles opfern würdest, was du besitzt, wäre deine Schuld damit noch nicht
beglichen.
Doch
schon ein paar Worte aus deiner Erleuchtung tilgen jegliche Schuld, ganz
gleich, wie weit sie zurückreicht.
Es gibt eifrige Schüler,
die morgens und abends und auch sonst jede freie Minute meditieren, um zur
Befreiung zu gelangen. Du hast dich mit anderen Religionen und philosophischen
Richtungen befaßt in der Hoffnung, dich von deinen Verstrickungen loszulösen.
Einige davon haben dir einen Teil deiner wohlvertrauten Last abgenommen, dir
dafür aber ihre Dogmen und ihre Weltanschauung aufgehalst. Wirf sie sofort alle
weg!
Der Buddhismus befreit dich
von unnützer Last, ohne dir dafür etwas zu geben. Wenn du glaubst, du hättest
in diesem Zendô etwas dazugewonnen, wirf es beim Hinausgehen fort und gehe mit
leeren Händen nach Hause. Dort wirst du merken, daß du in einer ruhigen
Stimmung bist — das ist deine Kraft der Befreiung.
Unter den vier Arten von
Opfergaben versteht man Kleider, Obdach, Nahrung und Pflege. Dies bietet man
normalerweise einem Mönch an, aber jeder Mensch, der die Kraft der Befreiung
hat, verdankt sein Glück nicht nur Mönchen und Lehrmeistern, sondern der
Menschheit im allgemeinen und überhaupt allen Lebewesen.
Wie
die Erleuchtung zahlloser Tathâgatas beweist,
Ist Zen die höchste aller Lehren, der König des
Dhamma.
Jetzt
weiß ich, was das Mani-Juwel ist,
Und überreiche es hiermit jedem, der es entsprechend
empfängt.
Obwohl es im Prajñâ nichts gibt, was »groß«
oder »klein« genannt werden könnte, machen Menschen gern solche Vergleiche,
solange sie nicht erleuchtet sind. Deshalb sagt Yôka Daishi, daß die zahllosen
Tathâgatas ein Beweis dafür sind, daß Zen für diejenigen, die stark genug sind,
um ihn zu beschreiten, der schnellste Pfad zur Weisheit ist. Die meisten
Menschen werden diesen steilen, steinigen Pfad meiden, doch wer sich dafür
entscheidet, tut dies von sich aus. Er wurde von keinem Gott dazu auserkoren
und gehört auch nicht zufällig einer auserwählten Rasse, Nation oder
Glaubensrichtung an. Solche Äußerlichkeiten haben nichts mit Zen zu tun. Jeder
kann ein Bodhisattva werden.
Aus
der Sicht der Erleuchtung gibt es nichts zu sehen:
Weder
Mensch noch Buddha.
Alle
Dinge des Universums sind nichts als Blasen auf der Oberfläche des Meeres.
Alle
Weisen der Erde verschwinden mit einem Blitz.
Juden und Christen können
sich nur schwer von der Vorstellung, daß Gott außerhalb des Menschen ist,
lösen. Obwohl Buddhisten wissen, daß Gautama Buddha einst ein Mensch war wie
sie, denken viele von ihnen, daß sie erst in einem künftigen Leben selbst ein
Buddha werden. Sie alle sind im Netz des Dualismus von Weisheit und
Unwissenheit gefangen. Alles, was du siehst, hörst, riechst, schmeckst oder
denkst, ist nur eine Erscheinung deiner Subjektivität und deiner Objektivität.
Ganz gleich, wie subtil oder verfeinert diese Erscheinungen auch sein mögen:
Zen behauptet, daß du die Erleuchtung nicht erreichen kannst, solange du ein
Sklave deiner dualistischen Bindungen bist.
Selbst
im Augenblick des tödlichen Hiebes, Bewahrt der Zen-Schüler wie üblich seine
Gelassenheit.
Er
verweilt von Augenblick zu Augenblick in seiner Meditation.
Nichts
in der Welt kann sein Licht der Weisheit auslöschen.
Die Sonne mag erkalten und
der Mond sich erhitzen, Aber selbst dann kann kein Dämon
Die
höchste Wahrheit des Buddha-Dhamma vernichten.
Der Elefant zieht den
Wagen, Und es drehen sich die schweren Räder.
Kann
eine kleine Gottesanbeterin, die ihre Beine von sich streckt, ihnen den Weg
versperren?
Ein chinesischer Tyrann
ließ einst einen Mönch umbringen, weil er sich geweigert hatte, die königliche
Prinzessin zu heiraten. Im letzten Augenblick vor dem Sterben sprach der Mönch:
»Diese Gruppe von vier
Elementen hat von Anfang an nicht mir gehört. Die fünf Skandhas[13]
haben dich getäuscht und in dir die Illusion eines Körpers hervorgerufen. Wenn
die Klinge deines Schwertes mir den Schädel abschneidet, ist dies wie dieser
Frühlingswind, der die Blüten vom Baum bläst. «
Zen hat kein Wunder
anzubieten, welches dein Leben im letzten Moment retten könnte, es kann dir
aber Gleichmut in jeder Situation verleihen. Du brauchst dich nur in der Meditation
zu üben und deine Subjektivität und deine Objektivität abzuschalten. Dann
kannst du deine Subjektivität beiseite lassen und mit deiner Objektivität
verschmelzen, oder deine Objektivität fahren lassen und in deiner Subjektivität
leben. Wenn du sie beide - deine Subjektivität und deine Objektivität - öffnen
kannst und fröhlich und gewandt deine tägliche Arbeit verrichtest, dann lebst
du im Zen. Die Lehre des Buddha ist zu einfach, deshalb zögern die Menschen,
nach ihr zu leben.
Die »schweren Räder«
versinnbildlichen das Buddha-Dhamma und der Elefant die Erleuchtung. In China
symbolisiert die Gottesanbeterin einen überheblichen Menschen, der die eigenen
Kräfte zu hoch einschätzt. Wie ein Lehrer, der mit Ausdrücken aus Religion und
Philosophie jongliert und damit den Weg zum eigenständigen Denken versperrt,
steckt die Gottesanbeterin ihre Beine aus; der von Elefanten gezogene Wagen
rollt aber weiter.
Der Elefant ist nicht in Gesellschaft von Hasen zu
finden.
Die Erleuchtung geht weit über das bloße Denken
hinaus.
Schau nicht länger durch ein Schilfrohr zum Himmel
hinauf;
Er reicht viel
zu weit, als daß du ihn messen könntest.
Es bleibt also
nichts übrig, als daß du selbst die Erleuchtung verwirklichst.
Komm noch in dieser Minute persönlich zu mir!
[1] Dharmakaya
(Sanskrit): der «Körper der Großen Ordnung«. einer der drei Körper des Buddha
bezeichnet auch das wahre Wesen eines Menschen, den Ton der einen Hand, den
ewigen Buddha.
[2]
Mahâkâshyapa, einer der Schüler des Buddha und der erste, auf den das Licht des Zen
übertragen wurde. Von ihm aus gibt es eine direkte Ubertragungslinie zu
Bodhidharma und zu den weiteren Patriarchen.
[3] Nirvana (Sanskrit; Pali: Nibbana):
im Mahâyâna-Buddhismus gleichbedeutend mit Erleuchtung, ist kein negativer
Zustand, wie viele annehmen, auch kein Zustand der Nicht-Existenz außerhalb von
Samsâra, dem Kreislauf von Geburt und Tod.
[4] Sanzen (japanisch; chinesisch:
San-Ch‘an): ~Studium des Zen mit dem Meister~, besonders das persönliche
Interview mit dem Meister.
[5] Dipankara Buddha: der Legende
nach der erste der Buddhas vor dem historischen Buddha.
[6] Samskrita (Sanskrit):
Bedingtheit. die Welt von Geburt und Tod.
[7] Asamskrita (Sanskrit):
Nicht-Bedingtheit, die Welt der Geburtlosigkeit und der Nicht-Vergänglichkeit.
[8] Samsâra (Sanskrit): der
Kreislauf von Geburt und Tod.
[9] Nidâna (Sanskrit): der
Entfaltungsprozeß des Karma.
[10] Pâramitâs
(Sanskrit): die sechs Vollkommenheiten oder Tugenden; Aspekte der Buddha-Natur.
[11] Mahâprajñâ (Sanskrit):
»Große Weisheit», die Weisheit der Buddhas.
[12] Avalokiteshvara
(Sanskrit; chinesisch: Kuan-yin; japanisch: Kannon): der Bodhisattva des
Mitgefühls.
[13] Skandhas (Sanskrit):
Form (Rûpa), Empfindung oder Gefühl (Vedana), Denken (Samjñâ),
das Unterbewußte (Sarnskâra) und Bewußtsein (Vijñâna).
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