Ich hatte in Diskussionen über die Lage der Menschenrechte in Tibet wiederholt Gelegenheit festzustellen, dass sich zwar Viele berufen fühlen, engagiert Position zu beziehen, dass jedoch die historischen Hintergründe den Wenigsten bekannt sind. Aus diesem Grund habe ich einmal die wichtigsten Fakten zusammengefasst. Eine anscheinend immer wieder notwendige Bemerkung vorweg: mein Anliegen ist es nicht, die chinesische Okkupation Tibets zu verteidigen oder zu rechtfertigen, aber auch nicht, sie zu verurteilen. Es geht mir um die Aufhellung der historischen Hintergründe.
Die Darstellung ist in erster Linie für diejenigen gedacht, die mit der wissenschaftlichen Standardliteratur zu diesem Thema nichts anfangen können, da die entsprechenden Arbeiten fast ausschließlich auf Englisch verfasst sind. Die beiden wichtigsten Arbeiten seien hier trotzdem genannt:
A. Tom GrunfeldThe Making of Modern Tibet (Paperback)East Gate Book; Revised edition, July 1996ISBN 1563247143Melvyn C. GoldsteinA History of Modern Tibet, 1913-1951.The Demise of the Lamaist StateUniversity of California Press, June 1991ISBN 0520075900
Die Ursachen für die Besetzung Tibets liegen in der Geschichte dieser Region. Wie immer ist sinnvoll, sich ein wenig mit den geschichtlichen Hintergründen zu beschäftigen, wenn man aktuelle Konflikte zu verstehen sucht. Die Geschichte des neuzeitlichen Tibet beginnt 1642, als es dem 5. Dalai Lama mit Hilfe mongolischer Truppen gelang, das seit Jahrhunderten durch innere Konflikte (nicht zuletzt zwischen verschiedenen buddhistischen Schulen und deren Klöstern) zerrissene Tibet zu einen. Das Verhältnis zu den Mongolen unter Ghusri Khan war eine Art Patronatsverhältnis - nominell war der Dalai Lama religiöses Oberhaupt, während der mongolische Khan weltlicher Machthaber war. Dieses Patronatsverhältnis hatte damals bereits Tradition; ein solches - allerdings ein persönliches, nicht ein staatsrechtliches - bestand bereits zwischen dem 3. Dalai Lama und dem Mongolenfürsten Altan Khan (der Titel 'Dalai Lama' wurde ihm von Altan Khan verliehen - und postum gleich noch seinen beiden Vorgängern). Die Exekutive lag offiziell in den Händen des Regenten (Sde-srid), eines Tibeters, der im Einverständnis mit dem Khan bestellt wurde. Faktisch jedoch lag die Macht in den Händen des 5. Dalai Lama und der Regent war politisch bedeutungslos.
Zur gleichen Zeit hatte die mandschurische Qing-Dynastie durch Bündnisse und Heiratsallianzen eine Vorherrschaft über die mongolischen Stämme gewonnen. Spätestens nach der Eroberung Beijings (1644) betrachteten die Qing die mongolischen Territorien und damit auch Tibet als zum chinesischen Staat gehörig. Mit dieser rein nominellen Oberhoheit begnügten sie sich vorerst. Es herrschte ein Agreement, mit dem alle beteiligten Seiten zufrieden waren - Tibet hatte innere Autonomie, die Mongolen behielten ihren direkten Einfluss auf Tibet und die Qing-Dynastie hatte den Rücken frei, um sich mit den Ming-Loyalisten im Süden Chinas und den Dzungaren, ihren Rivalen in Zentralasien, auseinanderzusetzen.
Dieses Gleichgewicht änderte sich 1682 nach dem Tod des 5. Dalai Lama. Dem Regenten gelang es, den Tod 14 Jahre lang geheim zu halten und im Namen des Dalai Lama zu regieren. Um seine Stellung langfristig abzusichern nahm er insgeheim Kontakte zu den Dzungaren auf - offensichtlich mit dem Ziel, sich mit deren Hilfe von der direkten mongolischen und indirekten chinesisch-mandschurischen Oberhoheit zu lösen. Nachdem der Qing-Kaiser 1696 die Dzungaren besiegt hatte, erfuhr er durch Kriegsgefangene von dem Komplott. Der Regent setzte nun unverzüglich einen Dalai Lama ein (den 6.) und versuchte so den alten status quo wiederherzustellen - nur, dass jetzt der Dalai Lama faktisch seine Marionette war. Er konnte sich so noch bis 1706 halten, dann fanden die Mongolen Gelegenheit, ihn zu beseitigen und seine Marionette, den 6. Dalai Lama, abzusetzen - dieser starb auf dem Weg in die Verbannung. Das ganze mit dem Einverständnis des Kaiserhofes in Beijing. In der Folge installierte Beijing einen ständigen Residenten in Lhasa, der die tibetischen Vorgänge im Auge behalten sollte, die politische Lage in Tibet war jedoch nachhaltig destabilisiert.
1717 kam es zu einer Invasion der Dzungaren, die sich militärisch von ihrer Niederlage 1696 erholt hatten. In Westtibet organisierte der Aristokrat P'o-lha-nas den tibetischen Widerstand, während von Osten eine chinesische Armee anrückte. Die Chinesen befreiten 1720 Lhasa von den Dzungaren und führten den vertriebenen 7. Dalai Lama (damals gerade 12 Jahre alt) zurück. Die Chinesen setzten nun eine Neuordnung der tibetischen Verhältnisse durch. Im Süden und Osten wurden Gebiete an China abgetreten, innenpolitisch sollte die Regierung durch einen (aus tibetischen Aristokraten bestehenden) Ministerrat (Kashaq, zunächst 3, dann 5 Mitglieder) geführt werden. Letzteres bewährte sich jedoch nicht, es kam ständig zu blutigen innertibetischen Machtkämpfen. Als 1727 der Vorsitzende des Ministerrates von Konkurrenten um die Macht ermordet wurde, schickte Kaiser Yongzheng erneut chinesische Truppen. 1728 wurde daher wieder eine Neuregelung getroffen. Die Herrschaft wurde geteilt - im südwestlichen Tibet wurde nun der Panchen Lama als Herrscher eingesetzt. Der 7. Dalai Lama, der an den Wirren wohl nicht ganz unschuldig war, wurde hingegen ins Exil geschickt und den Rest Tibets regierte nun P'o-lha-nas, der alte Verbündete der Regierung in Beijing. In Lhasa wurden an Stelle der bisherigen Residenten (Repräsentanten ohne eigene Machtbefugnis) zwei Ambane eingesetzt - kaiserliche Statthalter, die auch Oberbefehlshaber der tibetischen Truppen waren. Damit war der größte Teil Tibets chinesisches Protektorat geworden, die Autonomie stark eingeschränkt.
P'o-lha-nas starb 1747, worauf sein Sohn und Nachfolger gegen die chinesische Oberhoheit rebellierte. Die Ambane in Lhasa ließen ihn hinrichten, wurden dann jedoch selbst durch dessen Anhänger getötet. Die kaiserliche Armee griff daraufhin erneut ein. Nun erst wurde die politische Rolle des Dalai Lama (mittlerweile war es der 8.) reaktiviert - sie beschränkte sich jedoch fast vollständig auf repräsentative Funktionen. Die Ambane erhielten stärkere innenpolitische Befugnisse (Statut von 1751) und die Dalai Lamas wurden zukünftig unter Aufsicht der kaiserlichen Ambane aus einer Vorauswahl von Kandidaten durch Los bestimmt. Die Exekutive lag in den Händen eines vierköpfigen Ministerrates, der unter Aufsicht der Ambane stand und eines Regenten, der von den Ambanen ernannt wurde. 1788 und 1791 kam es zu nepalesischen Invasionen Tibets, die durch kaiserliche (chinesische) Truppen zurückgeschlagen wurden. Die Befugnisse der Ambane wurden in der Folge erneut erweitet (Statut von 1793); aus dem Amban war damit faktisch eine Art Kolonialgouverneur geworden.
Im 19. Jahrhundert ging der chinesische Einfluss in Tibet jedoch deutlich und stetig zurück. Das Jahrhundert war gekennzeichnet durch den Machtverfall der Qing-Dynastie (u.a. Opium-Krieg 1840-42, Taiping-Aufstand 1851-64) sowie durch das sog. "Great Game" - also die Rivalität zwischen Großbritannien und Russland um Einfluss in Asien. Dieses "Great Game" wurde hauptsächlich auf Kosten des schwachen China gespielt, dem Kraft und Mittel fehlten, seine Autorität in Tibet geltend zu machen. Die Dalai Lamas (der 9. bis 12.) waren politisch völlig bedeutungslos und starben schon in früher Jugend (Morde werden vermutet, sind aber nicht beweisbar); innertibetische Machtkämpfe waren dafür wieder einmal an der Tagesordnung. Die Protagonisten dieser Machtkämpfe waren weniger die tibetische Aristokratie, als wieder die tibetischen Klöster, die eigene Mönchstruppen unterhielten und diese durchaus auch gegeneinander einsetzten. Tibet geriet währenddessen zunehmend stärker in die Interessensphäre der Briten, die ihren Einflussbereich von Indien aus nach Norden ausdehnten - Bündnisverträge mit Nepal 1816 und Bhutan 1835, Oberhoheit über Kaschmir 1846, über Sikkim 1861. Auf letzteres erhob auch China Ansprüche, was noch 1962 zum chinesisch-indischen Grenzkrieg führte.
1895 trat der damals 19-jährige 13. Dalai Lama sein Amt an, der sich in der Folge als sehr geschickter Machtpolitiker erwies. Die Briten drängten auf stärkeren Einfluss in Tibet, auf Handelsrechte, Steuerbefreiung, exterritoriale Rechte usw. während der 13. Dalai Lama dem Druck auszuweichen versuchte, indem er zwischen Russland (das schon die Mongolei seiner Einflusssphäre einverleibt hatte) und Großbritannien lavierte. Großbritannien, das befürchtete, Tibet an Russland zu verlieren, ging schließlich zu militärischem Druck über, zunächst 1903 mittels der "Tibetischen Grenzkommission". Diese "Kommission" war immerhin 8000 Mann stark und die "Verhandlungen" über den Grenzverlauf kosteten schon beim ersten Zusammentreffen 700 Tibetern das Leben. Ein Jahr später, 1904, folgte die sog. Younghusband-Expedition, die bis Lhasa vorstieß und den Dalai Lama ins mongolische Exil trieb. Politisch war die Younghusband-Expedition jedoch damit gescheitert - als Verhandlungspartner hatten die Briten in Lhasa nun nur noch den faktisch machtlosen kaiserlichen Amban, der sich überdies weigerte, irgendein Abkommen mit den Briten zu unterzeichnen. Die Russen hingegen hatten den Dalai Lama.
Die internationale Lage entspannte sich, da Russland und Großbritannien nun auf einen vertraglichen Interessenausgleich hinarbeiteten. 1906 erkannte London durch Vertrag die chinesische Oberhoheit über Tibet an und 1907 wurde mit Russland die Asien-Konvention geschlossen. 1908 konnte dann der 13. Dalai Lama über Beijing, wo er die chinesische Oberhoheit anerkennen musste (Kniefall vor der Kaiserinwitwe und Regentin Cixi), nach Lhasa zurückkehren. Zurück in Lhasa betrieb er jedoch weiter seine eigene Politik, worauf er 1909 vor chinesischen Truppen erneut ins Exil fliehen musste - dieses mal ins britische Darjeeling. Von der kaiserlichen Regierung wurde er als abgesetzt erklärt.
Eine völlig neue Lage ergab sich dann, als 1911 die Qing-Dynastie gestürzt und China zur Republik wurde. Die Ambane in Lhasa wurden vertrieben und es kam auch in Tibet zu Kämpfen zwischen Loyalisten und Republikanern. 1912 rehabilitierte General Yuan Shikai, der (provisorische) Präsident der Republik, den 13. Dalai Lama und forderte die tibetische Regierung zur Teilnahme an der Nationalversammlung auf. Der Dalai Lama zog es jedoch vor, nach seiner Rückkehr nach Lhasa die Situation zu nutzen und einseitig die Unabhängigkeit Tibets zu proklamieren. Er leitete in der Folge mit britischer Unterstützung innenpolitische Reformen ein.
Großbritannien war ebenfalls daran interessiert, von der Lage zu profitieren und seinen Einfluss in Tibet abzusichern und verhandelte mit Tibet und China, was 1914 zur Simla-Konvention führte. Danach sollte Zentral- und Westtibet vom Dalai Lama regiert werden, jedoch unter chinesischer Suzeränität stehen. London blieb also bei der Anerkennung der chinesischen Oberhoheit; die vom 13. Dalai Lama proklamierte Unabhängigkeit wurde von Großbritannien nicht anerkannt - und auch von keinem anderen Staat. Tibet unterschrieb die Simla-Konvention - jedoch China nicht. Die Simla-Konvention forderte nämlich auch exterritoriale Rechte für Großbritannien in Tibet und vor allem eine Verschiebung der indisch-tibetischen (bzw. indisch-chinesischen) Grenze (Mac-Mahon-Linie). Großbritannien wollte sich diese Zugeständnisse mit Anerkennung der chinesischen Oberhoheit erkaufen - man war an vorteilhaften (man kann ruhig sagen: unfairen) Handelsabkommen interessiert, nicht aber daran, sich ggf. militärisch gegen China in Tibet zu engagieren und damit einen Konflikt mit Russland zu riskieren.
Zwischen 1911 und 1950 war Tibet somit zwar nicht staatsrechtlich (wie gesagt, hatte niemand die einseitige Unabhängigkeitserklärung anerkannt), aber faktisch unabhängig - vor allem, weil China in den Wirren der Bürgerkriege und des Krieges mit Japan gar keine Möglichkeit hatte, in Tibet in irgendeiner Weise Herrschaftsansprüche durchzusetzen. An politischen Vorstößen von chinesischer Seite jedoch fehlte es auch in dieser Zeit nicht, zumal auch der 1923 vor dem 13. Dalai Lama ins chinesische Exil geflüchtete Panchen Lama (die Reformen, insbesondere die Steuerpolitik, hatten zu offenen Aufständen einzelner Klöster geführt) die chinesische Nationalregierung zum Handeln drängte. Es gab z.B. die Gesandtschaft Jiang Kaisheks 1930, nach dem Tod des 13. Dalai Lama die 'Kondolenzmission' Huang Musongs 1934, die Mission Wu Zhongxins 1940 bei Inthronisierung des 14. Dalai Lama. All dies brachte jedoch keine Annäherung der Positionen.
Nach dem Tod des 13. Dalai Lama 1933 folgte zunächst ein 7-jähriges Interregnum, aber auch die Inthronisation des 14. Dalai Lama änderte nichts an den chaotischen Zuständen. Die innenpolitischen Reformen waren nach 1933 praktisch zum Erliegen gekommen, es rivalisierten wieder - wie so häufig in Tibets Geschichte - verschiedene Cliquen, die sich gegenseitig blutig bekämpften. Nachdem die chinesischen Kommunisten als Sieger aus dem Bürgerkrieg mit Jiang Kaishek hervorgegangen waren, setzten sie den seit 1644 nie aufgegebenen Anspruch Chinas auf Zugehörigkeit Tibets zum chinesischen Staatsgebiet mit Gewalt durch. Die Zeit der faktischen, selbstproklamierten Unabhängigkeit Tibets hatte 38 Jahre gedauert.
Man kann nun natürlich fragen, ob die Tibeter denn angesichts der desaströsen politischen Verhältnisse in China nach Sturz der Qing-Dynastie überhaupt eine andere Wahl hatten, als sich unabhängig zu erklären. Die Tibeter selbst waren da jedenfalls durchaus unterschiedlicher Ansicht, selbst die Gelugpa, denen der Dalai Lama ja selbst angehört. Der Panchen Lama beispielsweise floh – wie schon erwähnt - nach China ins Exil, wobei erst der zweite Fluchtversuch gelang. Ganz konkret ging es bei den Differenzen zwischen Dalai Lama und Panchen Lama um Steuern, die der Finanzierung der Aufrüstung dienen sollten. Das Kloster Tashilunpo (Sitz des Panchen Lama) sollte ein Viertel der Kosten tragen. Die Aufrüstung wiederum war 'notwendig', um sich auf den unausweichlichen und absehbaren militärischen Konflikt mit China vorzubereiten. Die Frage war nur, wie viel Zeit man dafür hatte und ob sich Großbritannien für ein unabhängiges Tibet engagieren würde - so wie es später die Russen im Fall der (äußeren) Mongolei taten. Man sollte die Opposition des Panchen Lama jedoch nicht als pazifistisch missverstehen. Um Melvyn Goldstein zu zitieren:
"Die Mönche glaubten, das politische und ökonomische System existiere, um ihre Anliegen zu befördern und dass sie – nicht die Regierung – am besten beurteilen könnten, was auf kurze und lange Sicht den Interessen der Religion diene. Sie konnten nicht akzeptieren, dass Entscheidungen, die ihre Klöster beeinträchtigten, Tibets einzigartigem religiösen System nutzen könnten und sie hielten es für die religiöse Pflicht und das Recht des Klosters, einzuschreiten wann immer sie das Gefühl hatten, dass die Regierung gegen die Interessen der Religion handle. Beispielsweise entstand in den 1920er Jahren ein erbitterter Disput über den Plan des 13. Dalai Lama, die Armee zu vergrößern. Der Dalai Lama sah dies als notwendig an, um Tibets Integrität gegenüber China zu bewahren, während die Mönche es als Bedrohung ihrer Überlegenheit sowohl in Hinsicht auf die Ausübung von Zwang als auch die Institutionalisierung ausländischer britischer Werte ansahen."
(übersetzt aus: Melvyn C. Goldstein, Religious Conflict in the Traditional Tibetan State - dieses sehr lesenswerte Papier wird von der Case Western Reserve University im Internet zur Verfügung gestellt: http://www.case.edu/affil/tibet/booksAndPapers/conflict.html?nw_view=1413373346& Dort wird u.a. der 'Fall' des Panchen Lama ausführlich dargestellt.)
Auch das Staatskloster Drepung und das bedeutende Kloster Tengyeling standen in Opposition zur Politik des Dalai Lama - eine Opposition, die beim sog. "Tshaja Incident" vom Dalai Lama mit militärischer Gewalt in Schach gehalten werden musste. Um mir eine weitere Übersetzung aus dem Englischen zu ersparen, zitiere ich hier eine zusammenfassende Darstellung aus Wikipedia:
"In den Jahren von 1911 bis 1913, als der Dalai Lama versuchte, alle Han-Chinesen aus Tibet zu vertreiben, stellten sich die Mönche von Drepung, vor allem die der Loseling-Fakultät, gemeinsam mit dem Kloster Tengyeling in Lhasa auf die Seite der chinesischen Regierung und gegen den Dalai Lama. Tausende Mönche von Drepung wurden von der Regierung in Lhasa bestraft, doch Drepung entging dem Schicksal von Tengyeling, dessen Mönche vertrieben und dessen Besitz beschlagnahmt wurde und das dem Erdboden gleichgemacht wurde.Von 1913 bis 1919 war der Dalai Lama mit dem Konflikt im Osten (Kham/Xikang) und der Shimla-Konferenz beschäftigt, doch 1920 spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen Drepung und der Regierung des Dalai Lama wieder zu. Im Mai 1921 nutzte die Regierung einen Konflikt zwischen dem Kloster und einem seiner ehemaligen Verwalter um ein Grundstück, lockte die drei höchsten Verwalter der Loseling-Fakultät nach Zhol, ließ sie verhaften, auspeitschen und aus Lhasa verbannen sowie ihr Eigentum beschlagnahmen; darauf zogen Tausende Mönche von Drepung zum Norbulingka und verlangten, zum Dalai Lama vorgelassen zu werden. Der Dalai Lama ließ die tibetische Armee bei Drepung zusammenziehen; im August lagerten rund 3000 Regierungssoldaten in Lhasa; sie standen 4000 bis 5000 Mönchen gegenüber. Drepung gab nach, rund 60 Mönche wurden verhaftet, verprügelt und an den Pranger gestellt. Der Dalai Lama entließ alle Verwalter der Klosterabteilungen und setzte neue ein."
Der Wikipedia-Autor beruft sich für diese Darstellung auf 'A History of Modern Tibet' von M. C. Goldstein; wer Englisch lesen kann und mag findet eine etwas ausführlichere Schilderung auch in dem von mir oben zitierten und verlinkten Artikel Goldsteins.
Das hier neben Drepung erwähnte Kloster Tengyeling hatte chinesische Truppen beherbergt, als diese nach der Rückkehr des Dalai Lama 1912 aus Tibet vertrieben wurden. Die Plünderung und Zerstörung 1914 (als die chinesischen Truppen längst nicht mehr anwesend waren) war eine demonstrative Bestrafung für die Kollaboration - man könnte es auch einen Racheakt nennen. Laut Charles Bell, dem britischen Berater des 13. Dalai Lama, drohte bei einem Zusammenschluss der in Opposition stehenden Klöster ein innertibetischer Bürgerkrieg (C. Bell, Portrait of the Dalai Lama, London 1946). Jedenfalls - die Politik des 13. Dalai Lama einer Loslösung von China beruhte keineswegs auf einem allgemeinen tibetischen Konsens.
Nicht nur die vom 13. Dalai Lama einseitig proklamierte Unabhängigkeit wurde von keiner Nation völkerrechtlich anerkannt, auch die tibetische Exilregierung, bis 2011 unter Leitung des 14. Dalai Lama ist weltweit von keinem Staat völkerrechtlich anerkannt. In völkerrechtlicher Hinsicht ist es also formal unrichtig, die Besetzung Tibets durch die chinesische Volksarmee als Annexion (also die nichteinvernehmliche Eingliederung eines unter fremder Gebietshoheit stehenden Territoriums) zu bezeichnen. In der Tat war der Dalai Lama von 1642 (seiner Einsetzung als tibetisches Staatsoberhaupt durch mongolische Truppen) bis 1909 (der Absetzung des Dalai Lama durch Beijing) mit Ausnahme der Jahre 1728 - 1751 tibetisches Staatsoberhaupt. Jedoch stand der tibetische Staat während dieser Zeit (genauer: 1642 - 1913) unter chinesischer Suzeränität; zunächst unter indirekter (direkter Suzerän waren mongolische Khane, die ihrerseits die mandschurische Oberhoheit anerkannten) und ab 1728 unter direkter Suzeränität des Qing-Kaisers. ‚Staatsoberhaupt’ ist - insbesondere im Falle Tibets - nicht gleichbedeutend mit ‚Souverän’. Wie weiter oben vielleicht deutlich geworden ist, war die faktische Macht des Dalai Lama als Staatsoberhaupt ohnehin die meiste Zeit stark eingeschränkt - wenn überhaupt vorhanden, was vor allem im 19. Jahrhundert praktisch nicht der Fall war. Wobei es ja auch in europäischen Monarchien nicht gerade selten vorkam, dass ein Staatsoberhaupt unbeschadet seiner staatsrechtlichen Rolle keinerlei politische Macht ausübte - in der Regel dann, wenn er sein Erbe als Minderjähriger antrat. Erst der 13. Dalai Lama nahm wieder eine politische Schlüsselstellung ein, die mit der des 5. Dalai Lama vergleichbar war. Mit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung von 1913 machte er sich zum unumschränkten Souverän Tibets. Dass die chinesische Nationalregierung als Rechtsnachfolger der Qing-Dynastie (und in deren Nachfolge wiederum die Kommunisten) diesen Schritt als Hochverrat betrachtete, sollte dabei nicht überraschen.
Ergänzend scheinen mir hier noch einige Anmerkungen zur Nationalitätenfrage angebracht. Die tibetische Exilregierung agitiert seit Jahren mit dem Argument eines "kulturellen Völkermordes" (allein dieser Ausdruck ist mE eine Verhöhnung der Opfer tatsächlichen Völkermordes) gegen die Präsenz von Han-Chinesen in Tibet. Statistiken mit mehr oder weniger exakten Angaben über die ethnische Zugehörigkeit der Bevölkerung lassen sich bekanntlich nur mit einigem Aufwand erheben. Die einzige Stelle, die in Tibet dazu die Mittel und Möglichkeiten hat, ist derzeit die Regierung der Volksrepublik China und nach deren Angaben (Volkszählung von 2000) beträgt der Anteil der Tibeter an der Bevölkerung der Autonomen Region Tibet 92,8%. Der Anteil der Han (die vorwiegend in Lhasa konzentriert sind) beträgt 6,1%, der Rest sind (vorwiegend muslimische) Hui, Monba und einige andere. Das ist ein geringerer „Ausländer“anteil, als wir ihn hier in Deutschland haben. Man stelle sich vor, jemand würde auf Grund des Ausländeranteils in Deutschland von einem "kulturellen Genozid" am deutschen Volk sprechen ...
Es wird seitens wohlmeinender westlicher Tibet-Unterstützer (die bei dem Ausdruck „kultureller Völkermord“ mit überschießendem Eifer schon einmal das „kultureller“ vergessen) häufig gar nicht verstanden, von welchem 'Tibet' seitens der tibetischen Exilregierung eigentlich bei den Klagen wegen einer Überfremdung die Rede ist. Nämlich nicht von der Autonomen Region Tibet, sondern von einem 'historischen Tibet', das auch erhebliche Teile der chinesischen Provinzen Qinghai, Sichuan, Yünnan und Gansu umfasst. Genauer gesagt zusätzlich zur Autonomen Region Tibet die früheren tibetischen Gebiete Amdo und das östliche Kham. Das sind Provinzen, in denen Tibeter in einzelnen (idR kulturell autonomen) Präfekturen die größte ethnische Gruppe bilden, insgesamt jedoch eine ethnische Minorität sind. Dies ist durch die Ausweitung der Proteste 2008 auch in diese Gebiete der Weltöffentlichkeit etwas bewusster geworden. Was dabei allerdings nach wie vor den Wenigsten bekannt ist - diese Gebiete waren seit 1720 auch beim besten Willen nicht irgendeinem wie auch immer gearteten tibetischen Staat mehr zuzurechnen. Damals hatte Kaiser Kangxi nach Vertreibung der dzungarischen Eroberer aus Tibet und Wiedereinsetzung des 7. Dalai Lama diese – übrigens schon damals gemischt besiedelten - Gebiete abgetrennt und sie direkt von Beijing regierten Provinzen zugeschlagen. Der tibetischen Exilregierung geht es also – so der Vorwurf Beijings - nicht nur um eine Revision der 'Annexion' von 1951, sondern um ein Tibet in den Grenzen von 1720. Dieser Vorwurf ist anhand der eigentümlichen Argumentation der tibetischen Exilregierung in der Nationalitätenfrage durchaus nachvollziehbar – und auch aufgrund der Tatsache, dass der Vorgänger des heutigen Dalai Lama nach dem Sturz der Quing-Dynastie versucht hatte, seinen Einfluss auf diese Gebiete mit militärischen Mitteln auszuweiten.
Nimmt man nun dieses historische 'Großtibet' - fast doppelt so groß wie die nicht gerade kleine Autonome Region Tibet - dann kommt man tatsächlich insgesamt auf einen tibetischen Bevölkerungsanteil (nach offiziellen chinesischen Zahlen) von 49,8%. Die offizielle chinesische Statistik widerspricht also grundsätzlich gar nicht den Angaben (über 50% Nicht-Tibeter) der Exilregierung - diese spricht ja, wohlgemerkt, von dem historischen 'Groß-Tibet'. Mit einer solchen Zahl zu operieren, ist freilich meines Erachtens in etwa so seriös, als wolle man eine 'Überfremdung' Deutschlands mit einer aktuellen ethnographischen Statistik belegen, die jedoch auf den Grenzen Deutschlands von 1939 beruht.
Eine mE seriöse statistische Studie zu diesen und anderen Zahlenspielchen (die den Zensus von 2000 allerdings noch nicht berücksichtigt) kann man hier finden: http://www.case.edu/affil/tibet/booksAndPapers/tibetan.population.in.china.pdf . Ich übersehe bei dieser Empfehlung nicht, dass der Autor Mitarbeiter eines chinesischen staatlichen Forschungsinstitutes ist. Die Zeitschrift, in der er die Arbeit publiziert hat, ist nichtsdestotrotz eine englische, seriöse wissenschaftliche Fachzeitschrift mit entsprechender peer review, vgl. http://www.tandf.co.uk/journals/carfax/14631369.html .
Zweifellos macht Tibet einen tiefgreifenden Wandel durch und verliert dadurch viel von seiner kulturellen Identität. Dies ist jedoch eine Erfahrung, die Tibet mit vielen konservativ/traditionell orientierten Gesellschaften teilt, ohne dass da gleich die propagandistische Keule 'Völkermord' geschwungen wird. Zweifellos ist die Volksrepublik China ein Staat, der bedenkenlos Menschenrechte mit Füßen tritt und die traditionelle Kultur (nicht nur die seiner ethnischen Minderheiten) zu touristischen Schauobjekten degradiert. Aber die Volksrepublik China ist kein Staat, der eine rassistische Politik betreibt. Die von Tibetern beklagte 'Sinisierung' ist vielmehr zwangsläufige Folge einer bedingungslos vorangetriebenen wirtschaftlichen und infrastrukturellen Entwicklung - eben ohne Rücksicht auf nationale und ethnische Eigenheiten. Das nationalistische Element wird nach meiner Wahrnehmung in diesen Konflikt vielmehr von Tibetern eingebracht - und das ist ein Aspekt des tibetischen Widerstandes, der mich spätestens seit den ethnischen Ausschreitungen gegen Han-Chinesen im Jahr 2008 in Tibet mit großer Besorgnis erfüllt und mich von blinder Solidarisierung Abstand nehmen lässt.
Hinzu kommt: die tibetische Kultur ist kein monolithischer Block. Gerade, was Tibet in Bezug auf den Buddhadharma bewahrt und entwickelt hat, ist mE eher wenig in Gefahr unterzugehen; dafür sorgt auch und gerade dessen Rezeption im Westen. Zumindest ist diese Gefahr nicht größer als in anderen traditionell buddhistischen Gesellschaften, etwa in Sri Lanka, Thailand, Korea, Japan ... Dass Wandel unvermeidlich ist, sollte gerade einem jeden Buddhisten eine Selbstverständlichkeit sein, die der Klage nicht lohnt. Und sind es nicht gerade die dunkleren (und im Westen weniger bekannten) Aspekte tibetischer Kultur, denen man eigentlich keine Träne nachzuweinen braucht, wenn sie zum Opfer eines vorgeblichen 'kulturellen Völkermordes' werden?
'Buddhistische' Mönche haben in Tibet jahrhundertelang blutige Fehden um die Macht ausgefochten - auch unter teils tatsächlicher, teils nomineller Führung von Dalai Lamas. Mit Hilfe von 'Mönchssoldaten' und mit Hilfe von landfremden Truppen wie den Mongolen, die den Dalai Lamas mit militärischer Gewalt erst zur weltlichen Macht in Tibet verhalfen. Unter deren Regime wurde Tibet zu einem der sozial rückständigsten Länder der Erde, in dem noch im 20. Jahrhundert außer etwa 250 aristokratischen Familien praktisch alle Laien Leibeigene waren - und das Gros der Mönche kaum besser dran war. Um dies zu wissen, muss man keiner chinesischen Propaganda, keinem Goldner oder Trimondi Glauben schenken, man lese Grunfeld oder Goldstein, seriöse 'westliche' Literatur. Zur tibetischen Gesellschaftsstruktur etwa dieses verhältnismäßig kompakte Papier Goldsteins: www.case.edu/affil/tibet/booksAndPapers/Human_Lease.pdf. Es war eine Ordnung, aufrechterhalten u.a. von bewaffneten Mönchssoldaten und Mönchspolizisten und mit Hilfe einer barbarischen Strafjustiz. "The people living at the time were happier and calmer than the people in this new generation" meint dennoch der Dalai Lama (http://www.friendsoftibet.org/main/intervw.html) lapidar dazu. Das zu glauben fällt mir zumindest in Hinsicht auf das "happier" schwer. Analphabetismus, selbst bei Mönchen die Regel. Kein Gesundheitssystem, das diesen Namen verdient hätte - Schmutz, Armut und eine Durchseuchung mit Geschlechtskankheiten und Pocken. Und nein, dies ist keine chinesische Propaganda, auch wenn seine Heiligkeit das zum Lachen findet (siehe das oben erwähnte Interview), das stammt vielmehr aus einer englischen medizinhistorischen Quelle: http://www.pubmedcentral.nih.gov/articlerender.fcgi?artid=1088216 . Auch das war tibetische Kultur ...
Hier ein (langer) Link zum Thema --- http://german.china.org.cn/china/2015-04/15/content_35329726.htm --- Zur Information: Ich bin kein ausgesprochener Freund des tibet. Buddhismus, sondern eher therav.-budd. geprägt. Ich war zweimal jeweils etwa einen Monat in China und habe da durchaus auch "nette" Erfahrungen gemacht (einmal sogar "extrem nett" seitens selbst staatl. "Organe"). Mit dem politischen System jedoch habe ich (bei allem auch Verständnis) gewisse Probleme -- Beste Grüße -- Axel
AntwortenLöschenHallo Axel,
AntwortenLöschendass das Presseamt des Staatsrates der VR China für den verlinkten Text verantwortlich zeichnet, macht deutlich, dass es da weniger um objektive Informationen, sondern vor allem um eine positive Darstellung der Tibetpolitik der chinesischen Regierung vor der deutschen Öffentlichkeit geht. Es handelt sich also selbstverständlich um Propaganda, nicht anders als bei den einschlägigen Darstellungen tibetischer Exilpolitiker und der Free-Tibet-Unterstützerszene, die ich in diesem Artikel (vor allem) mit den wissenschaftlichen Arbeiten eines Sozialanthropologen (und Tibetologen) sowie eines Historikers konterkariert habe. Propaganda bedeutet freilich nicht automatisch, dass es sich um platte Lügen handelt - Propaganda funktioniert vielmehram besten, wenn so viel Wahrheit wie möglich mit so wenig Lüge wie notwendig vermengt wird, um das gewünschte Bild zu zeichnen. Da weise Unterscheidung zu lernen, dient - neben anderen positiven Effekten - auch der Entwicklung von Medienkompetenz. Aus diesem Grund lasse ich den Link hier gerne zu.
Freundliche Grüße,
SoGen
Heute Vormittag sah ich mir i.V.m. diesem Artikel -- http://www.patheos.com/blogs/americanbuddhist/2015/04/zizek-points-us-to-the-dark-side-of-buddhism-again.html -- das Video an -- https://www.youtube.com/watch?v=WAUpMrR1VoY -- (rechts unten kann man ggfls. Untertitel ändern). Ist auch Mahāyāna, aber nicht tibetisch, sondern vom Chan bzw. Zen geprägt, worin ich als vom Theravāda beeinflusster nicht so bewandert bin. Andererseits der Film unstreitig traditionsübergreifende budd. Grundsätze aufzeigt. Ein "interessanter" Film, obwohl mir nicht alles gefällt. Sehr buddhistisch natürlich. Aus nicht-budd. Perspektive gesehen sicher etwas einseitig (monoton) von der Thematik her. Aber Buddhismus IST (letztlich) gegen den (natürlichen) Strom. 2,3 Szenen könnten (verständlicherweise) als esoterisch (esoterisch im unguten Sinne) interpretiert werden.
AntwortenLöschenFreundliche Grüße - Axel
Hier "noch" ein Film zu Tibet mit einer anderen Thematik als der Link vom 16.4. -- https://www.youtube.com/watch?v=qqkFOK7OFos -- Zur Info: Gestoßen darauf bin ich durch diesen Artikel -- http://www.indiantelevision.com/movies/hindi/buddhism-docu-by-benoy-k-behl-wins-at-madrid-international-filmfest-150725
AntwortenLöschenFreundliche Grüße - Axel