Donnerstag, 7. Januar 2010

Die Quelle des Herzsutra

Dieser Tage war ich wieder einmal damit beschäftigt, diese kleine Passage im Mahaprajnaparamita-Sutra zu suchen - es ist die Passage, die Edward Conze als 'Kern' des Herzsutras identifiziert hat. Der Korpus der Prajnaparamita-Sutren entstand als Ausarbeitung des Astasahasrika-Sutra (oder eines verloren gegangenen Vorläufers) als vermutlich ältestem Text der Gruppe (möglicherweise ist auch dessen Versform, das Prajnaparamita Ratnagunasamcayagatha, der ältere Text). Einer Phase von 'Aufblähung' der Prajnaparamita-Lehre vom Astasahasrika in 8.000 slokas (Versen) bis hin zum Satasahasrika-Sutra in 100.000 slokas folgte eine Phase, in der 'kondensierte' Texte entstanden, deren bekannteste das Diamantsutra (in 300 slokas) und das Herzsutra (in 25 slokas) sind.

Um mir zukünftig die Sucherei zu sparen (ich werde wohl n
och öfters darauf zurückgreifen), habe ich mir den hier vorliegenden Textabschnitt herauskopiert und die Gelegenheit genutzt, für diesen Blog eine deutsche Übersetzung zu erstellen. Ich habe mir mit Conzes Text nur wenig Freiheiten erlaubt - habe ihn jedoch zur Verdeutlichung mit Anmerkungen in eckigen Klammern versehen. Meine Vorliebe für die originalen Sanskritbegriffe mag man gerne als eitle Wichtigtuerei ansehen - ich finde, sie helfen, Missverständnisse durch unscharfe Übersetzungen zu vermeiden. Conzes Anmerkungen fehlen hier; bei tieferem Studium ist es ohnehin unerlässlich, seinen Text beizuziehen.

Nur noch zwei Hinweise: was genau mit den "sieben Leerheiten"
gemeint ist, ist nicht zweifelsfrei zu klären. Conze verweist darauf, dass hier Differenzen zwischen dem Text des Satasahasrika und der Parallelstelle des älteren Pancavimsati-sahasrika Prajnaparamita Sutra (in 25.000 slokas) bestehen - der ältere (aber auch weniger ausführliche) Sanskrit-Text des Pancavimsatisahasrika spricht von "allen Leerheiten", der zentralasiatische (unrevidierte) Gilgit-Text hingegen von "zehn Leerheiten". Die philologischen Probleme, die die unterschied- lichen Versionen aufwerfen, sind äußerst kompliziert und fast nur noch von Spezialisten zu überschauen.

Zweitens: die von mir mit "Weil die Leerheit der Form nicht [über die indriya deren Objekte] formt" wiedergegebene Stelle enthä
lt ein eigentlich unübersetzbares Wortspiel mit skrt 'rupam' und 'rupayati'. Conze gibt 'rupayati' mit 'molests' wieder, das ich für zu sehr sinnentstellend halte. Ich habe mich für eine Deutung in Richtung 'formen' durch 'phassa', Kontakt, entschieden. Die tibetische Übersetzung gibt thogs-par byed-pa - 'auftreffen, auf Widerstand stoßen, hemmen', was meines Erachtens dazu passt. Conze tendiert zu einer Deutung in Richtung "Weil die Leerheit der Form keine Gestalt hat" ("form has no figure"). Ich habe mich dagegen entschieden, weil bei den anderen skandhas eindeutig auf deren Funktion Bezug genommen wird und Gestalt eben keine Funktion des rupaskandha ist, sondern das 'Gestalt geben' durch 'berühren' / 'abtasten' (im übertragenen Sinn) der Sinnesobjekte durch die Sinnesfähigkeiten.

Tibetische Teilübersetzung des Satasahasrika Prajnaparamit Sutra
(British Library, Fundort Dunhuang)

O Sariputra, ein Bodhisattva, ein großes Wesen, das mit der Leere der Form vereint ist, nennt man "vereint". Und ebenso, wenn es vereint ist mit der Leerheit von Empfindung usw. [den anderen skandhas]; von Auge bis Geist [den sechs Sinnesfähigkeiten, indriya]; von Seh-Objekt bis Geistesobjekt [den den indriya zugeordneten Objekten sinnlicher Wahrnehmung, visaya]; von Augen-Element, Seh-Objekt-Element, Augen-Bewusstseins-Element bis Geistes-Bewusstseins-Element [die 18 'Sinnessphären', dhatu, bestehend aus indriya und visaya - die 12 'Felder' sinnlicher Wahrnehmung, ayatana - sowie die 6 zugehörigen Bewusstseinsformen, vijnana-dhatu]; von Leiden, Entstehung [des Leidens], Anhalten [Überwindung des Leidens], Weg [zur Überwindung - die vier edlen Wahrheiten, aryasatya]; von Unwissenheit usw. bis zu Verfall und Tod [die 12 Glieder, nidana, von wechselseitig bedingtem Entstehen, pratityasamutpada]. Vereint mit der Leere aller dharmas [Seinselemente] wird es "vereint" genannt. Von welchen bedingten und nicht-bedingten dharmas auch immer es einen Begriff gefasst haben mag - vereint mit der Leere all dieser dharmas nennt man es "vereint".

Darüber hinaus, Sariputra, ein Bodhisattva, ein großes Wesen, das in vollkommener Weisheit [prajnaparamita] wandelt, sollte "vereint" genannt werden, wenn es mit der Leere der essenziellen, ursprünglichen Natur vereint ist. Deswegen, Sariputra, ist der Bodhisattva, das große Wesen, das in vollkommener Weisheit wandelt, wenn er mit diesen sieben Leerheiten [? - möglicherweise lt. E. Conze 1. skandha 2. indriya 3. visaya 4. vijnana-dhatu 5. aryasatya 6. nidana 7. dharmas] vereint ist, "vereint" zu nennen. Deswegen, Sariputra, sollte derjenige, der mittels dieser sieben Leerheiten in vollkommener Weisheit wandelt, aus diesem Grund [eigentlich] nicht einmal "vereint" oder "nicht vereint" genannt werden. Und warum? Weil er da nicht Form usw. als "vereint" oder "nicht vereint" wertet.

Er wertet Form usw. [die skandhas] nicht als dem Entstehen unterworfen oder als dem Vergehen unterworfen. Er wertet Form usw. [die skandhas] nicht als [durch Gier, Hass und Verblendung entstehenden] Trübungen [klesha] unterworfen oder Klärungen unterworfen. Er wertet nicht Form als sich verbindend mit Empfindung; Empfindung als sich verbindend mit Form; Empfindung als sich verbindend mit Wahrnehmung; Wahrnehmung als sich verbindend mit Empfindung; Wahnehmung als sich verbindend mit Willensimpulsen; Willensimpulse als sich verbindend mit Wahrnehmung; Willensimpulse als sich verbindend mit Bewusstsein; Bewusstsein als sich verbindend mit Willensimpulsen. Und warum? Weil kein dharma sich mit irgendeinem anderen dharma verbindet noch sich von ihm löst; es ist weder vereint noch nicht vereint - auf Grund der Leerheit ihrer essenziellen, ursprünglichen Natur. Das, was Leerheit ist, ist nicht Form usw. Weil die Leerheit der Form nicht [über die indriya deren Objekte] formt, die Leerheit der Empfindung nicht empfindet, die Leerheit der Wahrnehmung nicht wahrnimmt, die Leerheit der Willensimpulse nicht [die subjektive, emotional besetzte Erfahrungswelt] zusammensetzt, die Leerheit des Bewusstseins nicht bewusst ist. Und warum? Form ist nicht das eine Ding, und Leerheit ein anderes, Leerheit ist nicht das eine Ding und Form ein anderes. Die eigentliche Form ist Leerheit, die eigentliche Leerheit ist Form. Und ebenso bei Empfindung usw. [den andern skandhas].

Und diese Leerheit, die weder erzeugt noch angehalten wird, sie ist weder getrübt noch geklärt, nimmt nicht ab oder zu; und das, was weder erzeugt noch angehalten wird, weder getrübt noch geklärt, das ist nicht vergangen, zukünftig oder gegenwärtig. In ihr ist keine Form, keine Empfindung usw. [keine fünf skandhas]; kein Auge usw. bis: kein Geist [manas, also keine sechs indriya]; keine [visuell wahrnehmbare] Form usw. bis: keine Geistesobjekte [keine sechs visaya]; kein Augen[Bewusstseins]-Element usw. bis: kein Geistes-Bewusst- seinselement [keine sechs vijnana-dhatu]; kein Nichtwissen [avidya], kein Enden von Nichtwissen usw. bis: kein Verfall und Tod, kein Enden von Verfall und Tod [keine zwölf nidana von pratityasamutpada und keine Aufhebung der nidana]; kein Leiden [duhkha] und kein Verstehen von Leiden; kein Entstehen [Entstehen von duhkha, samudaya] und kein Aufgeben des Entstehens; kein Anhalten und keine Verwirklichung des Anhaltens [von duhkha]; keinen [edlen achtfachen] Pfad und kein Entfalten des Pfades; kein Erlangen und keine Wiedervereinung; keinen Stromeingetretenen [srotapanna] und keine Frucht [phala] des Stromeingetretenen usw. [skridagamin, anagamin und arhat, mit dem srotapanna die vier Stadien der Befreiung und ihre jeweiligen Früchte] bis: kein Bodhisattva und kein Wissen um die Arten des Pfades [die 'Fahrzeuge' der gerade genannten 'sravakas' und der Bodhisattvas]; kein Buddha und kein Erwachen. In diesem Sinne, Sariputra, ist es, dass ein Bodhisattva, ein großes Wesen das in vollkommener Weisheit wandelt, "vereint" genannt wird.

4 Kommentare:

  1. Hallo Sogen,

    ich finde es sehr schön, dass Du jetzt einen Blog machst. Wir sind uns schon früher mal im DBU-Forum begegnet, wo ich gerade in meinen "Anfangszeiten" sehr viel von Dir gelernt habe. Damals habe ich unter dem Alias 'Cinaed' gepostet.

    Und nun zu diesem Eintrag - erstmal vielen Dank für die Hintergrund-Infos und die Übersetzung dieser Passage. Die finde ich in der Tat sehr bemerkenswert. Die mögliche Aufzählung der '7 Leerheiten' von E. Conze (von Dir in Klammern im zweiten Absatz) scheint mir schon (fast) schlüssig zu sein, zumindest was die von Dir übersetzten Passage betrifft. Ich würde an 4. Stelle eher 'dhatu' als 'vijnana' platzieren, dann sind es genau die, die im ersten Absatz vorkommen. Und es sind auch genau die 7, die im Herz-Sutra selbst aufgeführt werden, wenn man dort die Reihenfolge von 5. 'aryasatya' und 6. 'nidanas' ändert.

    Du schreibst noch:

    "Conze tendiert zu einer Deutung in Richtung "Weil die Leerheit der Form keine Gestalt hat" ("form has no figure"). Ich habe mich dagegen entschieden, weil bei den anderen skandhas eindeutig auf deren Funktion Bezug genommen wird und Gestalt eben keine Funktion des rupaskandha ist, sondern das 'Gestalt geben' durch 'berühren' / 'abtasten' (im übertragenen Sinn) der Sinnesobjekte durch die Sinnesfähigkeiten."

    Ich lese gerade ein - aus meiner Sicht sehr empfehlenswertes - Buch von Dan Lusthaus, "Buddhist phenomenology: a philosophical investigation of Yogācāra Buddhism and the Ch'eng Wei-shi lun", das Deine obige Betonung auf die Funktion von rupa bestätigt. Hier mal ein Zitat:

    "Rupa signifies, e.g. a visible object both insofar as that object is material and insofar as that object is visible, sensorial. It is never a materiality which can be radically separated or isolated from sentiency. Such a non-empirical category would appear ludicrous to the Buddhist. Its ability to be sensed is not accidental, but rather precisely its essence. The Pali tradition manages to avoid substance-quality metaphysics, even in relation to 'matter'. Rupa is not a substratum or substance which has properties of sensibility; it functions as sensibility, perceivable physicality. 'Matter', just like everything else, is finally defined in terms of its function, what it does, not what it is. Rupa is sensed, since it is itself sensorial."

    Gassho
    Bansho

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  2. Werter Bansho,
    herzlichen Dank für Deinen Kommentar und insbesondere den Hinweis auf die "7 Leerheiten". Tatsächlich sollte da 'vijnana-dhatu' (Conze schreibt "sight-consciousness, etc.") stehen, da natürlich nicht der Bewustseinsskandha gemeint ist, sondern die sechs Sinnes-Bewusstseinselemente. Ich hab's korrigiert.

    Lusthaus' Buch habe ich in digitalisierter Form vorliegen, bin aber noch nicht dazu gekommen, mich näher damit zu beschäftigen. Aber Dein Hinweis macht Lust (pun intended) darauf.

    Gasshô,
    SoGen

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  3. Korrektur - habe das Buch doch nicht, war eine Verwechslung.

    ()

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  4. Hallo SoGen,
    danke für diesen Beitrag zum Kern des Herzsutra.
    Ich habe zwar keinen Blumentopf zu vergeben, aber eine schöne website
    http://video.muzika.fr/artistes/choix

    _()_

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