Sonntag, 28. Februar 2010

Stürmische Zeiten

Heute vormittag habe ich noch in Erwartung freundlicherer Tage meine Hausrebe zurückgeschnitten und auch gleich ein Bild von den ersten Blüten des Jahres gemacht. Heute nachmittag war es entschieden ungemütlicher draußen; vom Nachbarhaus regneten ein paar Dachziegel auf die Gasse. Da bleibt man besser in Deckung ...


Eigentlich wollte ich ja etwas über Blüten schreiben, aber ich bin dann beim Teetrinken, während der Sturm ums Haus blies, auf eine Blüte ganz anderer Art gestoßen:


"Wenn von auserwählten Gruppen die Rede ist, pflegt gewohnheitsmäßige Heuchelei den Sinn dieses Wortes zu verdrehen, indem sie tut, als sei ihr unbekannt, daß nicht der Anmaßende, der sich den anderen überlegen glaubt, der auserwählte Mensch ist, sondern jener, der mehr von sich fordert als die anderen, auch wenn er in seiner Person diese höheren Forderungen nicht zu erfüllen vermag. Man kann die Menschheit einteilen — und diese Unterscheidung trifft etwas sehr Wesentliches — in solche, die viel von sich fordern und sich selbst mit Schwierigkeiten und Pflichten beladen, und andere, die nichts Besonderes von sich fordern, die sich begnügen, von einem Augenblick zum anderen zu bleiben, was sie schon sind, ohne Drang über sich hinaus — Bojen, die im Winde treiben.


Das erinnert mich daran, daß der orthodoxe Buddhismus zwei verschiedene Religionen kennt; eine strenger und tiefer; bequemer und platter die andere: den Mahayana — großer Wagen oder große Bahn — und den Hinayana — kleiner Wagen, unterer Weg. Das Entscheidende ist, ob wir unser Leben auf den einen oder anderen Wagen stellen, auf möglichst viele oder möglichst wenig Ansprüche."

Sprach José Ortega y Gasset, 1930 in 'Der Aufstand der Massen' (La rebelión de las masas'). Ich füge mal hier ein Porträt Ortegas von seinem Freund, dem spanischen Impressionisten Ignacio Zuloaga bei, das 1931 entstand, also kurz nach dem Erscheinen des 'Aufstands der Massen'.


Es existiert ein deutlich bekannteres Porträt Zuloagas von Ortega, in Öl - aber das kommt mir dann doch etwas zu prätentios daher; die klassische Darstellung eines aristokratischen homme de lettres. Da ist hinter der Pose nicht mehr viel von dem Mann zu entdecken. Dann schon lieber - wenn es noch ein weiteres Porträt sein darf - das eines Karikaturisten. Hier von dem bei uns kaum bekannten Lluis Bagaria, dem die deutschsprachige Wikipedia bislang folgerichtig auch noch keinen Eintrag gewidmet hat. Noch zeitnäher - aus dem Jahr 1930.

Nun versteht Ortega offensichtlich nicht allzuviel von Buddhismus, aber die zitierte Aussage hat durchaus Einiges für sich. Sie wirft ein Schlaglicht darauf, was Mahayana, das 'Große Fahrzeug', eigentlich ist und wodurch es sich vom 'kleinen Fahrzeug', dem Hinayana unterscheidet. Und da nun möchte ich keine Links auf Wikipedia-Einträge oder ähnliche Erläuterungen für 'Mahayana' und 'Hinayana' setzen.

In dem oben angedeuteten Sinn sind 'Mahayana' und 'Hinayana' selbstverständlich keine "zwei verschiedenen Religionen" und es sind auch nicht zwei Ausformungen des Buddhadharma, die sich nach Zeit der Entstehung und / oder lokaler Verbreitung unterscheiden. Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Einstellungen zur buddhistischen Praxis, um unterschiedliche Motivationen.

'Mahayana' und 'Hinayana' in diesem Sinne hat es schon immer gegeben, seit Shakyamuni Buddha das Rad der Lehre in Gang gesetzt hat. 'Mahayana' und 'Hinayana' ist keine Angelegenheit von 'Schulen', 'Sekten' usw. usf. - es ist immer eine sehr persönliche Sache, mit welchem Fahrzeug man auf dem Weg ist. Leute, die das Fahrzeug des Mahayana lenken, gibt es natürlich auch im Theravada, so wie es im Zen Leute gibt, die mit einem kleinen Fahrzeug ganz zufrieden sind. Es ist ohnehin kein Fehler, bevor man einen Omnibus steuert, sich erst einmal ein wenig im Führen eines Kleinwagens zu üben ... Trotzdem - um nun irgendwie noch die Kurve zur Überschrift zu kriegen - ist man jedenfalls in stürmischen Zeiten doch besser mit einem großen Pott bedient als mit einer kleinen Nußschale.

Sonntag, 21. Februar 2010

Unfreier Wille und freier Unwille

Ich habe mich heute eine Weile mit einer Anfrage beschäftigt, in der es um die Frage des freien Willens im Buddhismus geht und die Ergebnisse meiner Überlegungen möchte ich in meinem heutigen Eintrag für ein Weilchen festhalten. Aber zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen, auf einen Radiobeitrag in der Reihe 'Camino' des Hessischen Rundfunks hinzuweisen - und mich tief vor meinem verehrten Dharmabruder SeiShun zu verneigen, dessen Arbeit da vorgestellt wird. Sie ist ein schönes Beispiel für das worum es in diesem Eintrag heute geht - viriya. SeiShun ist übrigens der Herr vorne rechts auf dem Foto.

Kommen wir zur erwähnten Anfrage. Ausgangspunkt der Irritation war wieder einmal die buddhistische Anatman-Lehre:

Buddha sagte:"Handlungen geschehen, aber es gibt keinen Handelnden." So gesehen gibt es keinen freien Willen, sondern nur einen Ablauf von Handlungen wie in einem Film. Doch unter http://www.kum-nye.de/texte/annata.pdf habe ich von der Willenskraft im Buddhismus Viriya gelesen. Widerspricht sich das nicht? Gibt es somit nicht doch einen freien Willen im Buddhismus?


Offensichtlich wird hier davon ausgegangen, dass Wille (insbesondere ein freier Wille) zwangsläufig an einen Träger gebunden ist, an ein Subjekt des Willens. Das ist auch durchaus richtig (wobei wir den Punkt der Willensfreiheit zunächst einmal auf sich beruhen lassen). Die Frage dabei ist jedoch die, ob dieses Subjekt des Willens für sich, also unabhängig von den Objekten des Willens existiert.

Buddha sagte:"Handlungen geschehen, aber es gibt keinen Handelnden."

Auch wenn das in Anführungszeichen gesetzt ist - es dürfte schwerfallen, dieses 'Zitat' in den Sutren (Lehrreden Buddhas) nachzuweisen. Grundsätzlich ist das allerdings schon eine zutreffende Interpretation. Ähnliche Aussagen finden sich in Buddhaghosas Visuddhimagga (um 500 u.Z. entstanden) - einem vor allem in Theravadabuddhismus hochgeschätzten Kompendium der buddhistischen Lehre:

"Im höchsten Sinne hat man alle vier Wahrheiten als leer zu betrachten, und zwar weil es da: keinen Fühlenden, keinen Täter, keinen Erlösten und keinen auf dem Pfade Wandelnden gibt. Darum heißt es: Bloß Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da. Bloß Taten gibt es, doch kein Täter findet sich. Erlösung gibt es, doch nicht den erlösten Mann. Den Pfad gibt es, doch keinen Wand'rer sieht man da." (Visuddhimagga XVI.8.4, Übers. Nyanatiloka)

oder:

"Keinen Täter sieht er außerhalb der Tat, keinen die Karmawirkung Erfahrenden außerhalb der Karmawirkung. Daß aber die Weisen sich nur einer bloßen konventionellen Bezeichnung (samaññā) bedienen, wenn sie hinsichtlich des Stattfindens einer Tat von einem 'Täter' oder hinsichtlich des Eintrittes der Karmawirkung von einem 'die Wirkung Erfahrenden' sprechen: das hat er in rechter Weisheit klar erkannt. Darum sagen eben die Alten Meister: "Nicht findet man der Taten Täter, Kein Wesen, das die Wirkung trifft, Nur leere Dinge zieh'n vorüber: Wer so erkennt, hat rechten Blick. " (Visuddhimagga XIX.7.4, Übers. Nyanatiloka)

So gesehen gibt es keinen freien Willen, sondern nur einen Ablauf von Handlungen wie in einem Film.

Inwiefern soll das daraus folgen? Gäbe es nach buddhistischer Auffassung tatsächlich einen strengen Determinismus, dann gäbe es entweder keine Befreiung (moksha) aus samsara oder aber man müsste zu dieser Befreiung nichts tun, sie erfolgte automatisch. Beides entspricht offensichtlich nicht der buddhistischen Lehre.

Im Buddhismus wird die empirische Person (der 'Handelnde' oder 'Täter', wenn man so will) als ein zeitweiliges Zusammenwirken verschiedener psycho-physischer Prozesse (skandhas) aufgefasst. Die empirische Person ist in diesem Sinne 'zusammengesetzt' (samskrta) und existiert aus den Ursachen und Bedingungen (hetupratyaya) dieser Prozesse heraus, verändert sich stetig und erlischt auch wieder entsprechend diesen selbst in ständigem Wandel begriffenen Ursachen und Bedingungen. Die Existenz einer unabhängig davon existierenden personalen Essenz, eines 'Wesenskerns' (etwa eines atman, jiva, einer Seele und was dergleichen mehr Konzepte sind), also eines 'Trägers' der empirischen Person, wird verneint. Ähnliche Auffassungen findet man übrigens auch in der europäischen Philosophie, beispielsweise schon bei David Hume (1711 - 1776).

Eines der oben erwähnten skandhas ist nun samskara, die aktive, (karmisch) gestaltende Komponente der empirischen Person. Die wirkende Energie dieses samskaraskandhas nun ist cetana. Der Begriff cetana ist nicht ohne weiteres deckungsgleich mit 'Wille' - er leitet sich von ceto/citta ('Geist') ab und bezeichnet die Aktivität dieses Geistes (bitte nicht mit dem abendländischen philosophischen Geistesbegriff verwechseln). Diese Aktivität - also cetana - ist absichtsvolles, zweckbedingtes, aktives Denken.

Nun ist auch dieser cetana (der Einfachheit halber nennen wir ihn 'Wille') bedingt - und insofern unfrei, als er von den Bedingungen abhängig ist. Bedingt ist er durch seine Motive - Wille ist immer Wille zu etwas und von diesem 'zu', also seinem Objekt, nicht abzutrennen; er existiert nicht unabhängig davon. Die Motive werden unter zwei Kategorien subsumiert: lobha (wörtl. Gier) und dosa (wörtl. Hass). Das ist sehr ähnlich dem Lust-/Unlustprinzip in der klassischen Psychoanalyse. Auch diese beiden Grundantriebe lobha und dosa sind wiederum bedingt, und zwar durch avidya - Nichtwissen. Avidya ist vor allem ein Nichtwissen um die tatsächliche Natur der Dinge, insbesondere des Ich. Allerdings kein intellektuelles Nichtwissen, sondern ein existentielles - avidya könnte man als kognitive Fehlhaltung bezeichnen.

Das Auflösen dieses Nichtwissens, das lobha und dosa und damit auch den karma-erzeugenden Willen cetana versiegen lässt, ist bodhi, die sog. 'Erleuchtung' (besser: 'Erwachen'). Um dieses avidya zu überwinden, gibt es eine Methode - ariyamarga, den sog. edlen achtfachen Pfad. Da es nicht, wie schon erwähnt, um ein Überwinden von Nichtwissen durch intellektuelle Einsicht geht, sondern vielmehr um die Korrektur einer kognitiven Fehlhaltung, genügt es nicht, die Sutren zu studieren, sondern man braucht eine Übungsmethode, einen Yoga - oder anders gesagt: eine Therapie. Eben dies ist der achtfache Pfad - eine ganzheitliche Therapie für Geist und Körper.

Sich diesem Pfad zuzuwenden, bedarf es natürlich zunächst einmal ebenfalls eines Motives und eines auf dieses Motiv gerichteten Willens sowie zusätzlich einer initialisierenden Erkenntnis - und in eben dieser Erkenntnis steckt wiederum das Moment der Freiheit.

Das Motiv ist natürlich zunächst die Überwindung persönlicher Leiderfahrung, fällt also in die Kategorie dosa (Ablehnung von Unliebsamem). Die initialisierende Erkenntnis ist die, dass Leid (duhkha) nicht durch einen auf Lust (lobha) oder Vermeidung von Unlust (dosa) gerichteten Willen (cetana) überwunden werden kann, sondern durch Erkenntnis, die durch eine bestimmte Art praktischer Lebensführung gewonnen werden kann. Diese initialisierende Erkenntnis (sie fällt unter den Aspekt samma ditthi, 'Rechte Sicht', des achtfachen Pfades) wird poetisch als 'Vernehmen des Löwenrufes' bezeichnet, was sich auf Buddha bezieht, der den Beinamen sakyasimha (Löwe [aus dem Klan] der Sakya) führte.

Mit diesem Bild - dem Vernehmen eines Rufes - wird auch deutlich, dass die initialisierende 'Rechte Sicht' nicht aus einer selbst karmisch erzeugten Ursache (hetu) resultiert, sondern dass man auf sie in Form einer begleitenden Bedingung (pratyaya) trifft. Hinzu kommt, dass nach buddhistischer Auffassung bodhi (das Erwachen / die Erleuchtung) emergent ist, also selbst in seiner höchsten Form (wenn auch höchst selten) spontan auftreten kann. So stimmen alle buddhistischen Schulen darin überein, dass Nirvana nicht 'samskrta' ist - d.h. nicht bedingt und also von kausalen oder karmischen Bedingungen unabhängig. Es ist allerdings rein statistisch ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, sich auf die Emergenz der Erleuchtung zu verlassen - also schafft man durch eine entsprechende religiöse Praxis, nämlich die des achtfachen Pfades, begünstigende Ursachen und Bedingungen. Speziell im Soto-Zen wird sogar die Auffassung vertreten, dass die religiöse Praxis des Buddhadharma nicht das Setzen von begünstigenden Ursachen und Bedingungen für das Erwachen ist, sondern selbst unmittelbar die Emergenz des Erwachens.

Die Praxis des edlen achtfachen Pfades wiederum erfordert eine spezielle 'Willensenergie', die nun als viriya bezeichnet wird. Etymologisch betrachtet ist viriya der 'Zustand eines [starken] Mannes'; der Begriff ist z.B. eng mit dem lateinischen 'virtus' (männliche Tugend i.S.v. Tapferkeit, Tüchtigkeit) verwandt. Anders als cetana, das sich (bei allen genannten Vorbehalten) am besten mit 'Wille' wiedergeben lässt, ist viriya treffender mit 'Energie' im Sinne von Tatkraft, 'Anstrengung', 'Anspannung' übersetzt.

Vor allem aber ist viriya im buddhistischen Kontext anders als cetana nicht auf Befriedigung von lobha und dosa gerichtet, sondern auf Überwindung von avidya. Als Konnotation schwingt da immer die Ausrichtung auf bodhi, das Erwachen, mit. Wie weiter oben schon angesprochen, gibt es keinen 'Willen' an sich, es gibt immer nur ein ganz konkretes Ausrichten des Geistes, eine konkrete Aktivität von Geist und Körper. Wenn man also cetana mit 'Wille' übersetzt, dann wäre viriya eine Ausrichtung des Geistes ganz anderer Art - ein 'Gegenwille' oder 'Unwille'.

Dienstag, 16. Februar 2010

Reformiertes Zen

Vor kurzem habe ich im Internet lesen können, dass die "Sanbo-Kyodan" in Japan das Zen "reformiert" hätte ...
Wie darf man so eine Aussage denn verstehen ?

Diese Frage tauchte kürzlich im Forum der DBU auf - in der Tat eine interessante Frage (weswegen ich sie zum Gegenstand dieses Blogeintrags mache), obwohl es eine kurze und unmissverständliche Antwort darauf gibt, wie so etwas zu verstehen ist: als bullshit. Was wiederum mit bullshit gemeint ist, dazu hier eine kurze (nun ja, achteinhalb-minütige ...) Einführung von Harry G. Frankfurt:




Doch zurück zu unserem eigentlichen Thema - und zu einer etwas ausführlicheren Antwort.

Zen kann man genauso wenig "reformieren" wie man den Buddhadharma reformieren kann. Reformieren kann man allenfalls die Bedingungen, unter denen eine Gemeinschaft Zen praktiziert und diese Praxis tradiert. Das haben z.B. Manzan Dohaku in der japanischen Sotoshu getan oder Hakuin Ekaku und seine Schüler in der japanischen Rinzaishu. Solche Reformen - auch wenn sie in aller Regel mit 'großen' Namen verbunden werden - beruhen in den seltensten Fällen auf den Ideen einzelner Menschen. Es sind Antworten auf anitya - auf gewandelte historische Bedingungen - und kein einzelner Mensch kann eine große Gemeinschaft alleine einem solchen Wandel anpassen. Die Notwendigkeit des Wandels muss von einer nicht zu kleinen Gruppe, einer Fraktion innerhalb der zu reformierenden Gemeinschaft, verstanden und dann der Wandel umgesetzt werden. Das ist fast immer ein längerer Prozess, der erst aus der historischen Rückschau als radikaler Paradigmenwechsel erscheint und erst hier verengt sich meistens dann auch die Perspektive auf bestimmte Personen als Repräsentanten einer solchen Reformation. Repräsentanten dieser Art waren im 20. Jahrhundert in der japanischen Sotoshu z.B. Sawaki Kodo und - weniger bekannt - Harada Sogaku.

Beider Reformansätze wurden und werden in der japanischen Sotoshu von verschiedenen Linien weitergetragen und verbreitet; bei Sawaki ist am bekanntesten die Linie Uchiyamas, für die vor allem das Kloster Antai-ji steht. Harada Sogakus Ansatz, der vor allem in einer Integration einer (freilich abgewandelten) Koan-Schulung nach Rinzai-Modell in die Sotoshu bestand, wurde vor allem von seinen Schülern Tetsugyu Ban, Harada Tangen, Nishiwaki Etsudo und Watanabe Genshu fortgesetzt. Das sind Reformansätze, die in (und nicht außerhalb) der Sotoshu (und nicht "im Zen") weiterwirken.

Nun hatte Harada Sogaku noch einen Schüler Yasutani Ryoko, der gerade nicht den Weg einer mehr oder weniger radikalen Reform der Sotoshu (der er angehörte und von der er sich offiziell trennte) gehen, sondern eine eigene, unabhängige Gemeinschaft gründen wollte. Er nannte sie Sanbo Kyodan und sie wurde am 08.01.1954 als religiöse Körperschaft des öffentlichen Rechts (shûkyô-hôjin) anerkannt. Gerade in dieser Zeit entstanden in Japan viele solcher neuer Religionsgemeinschaften (der Prozess setzte freilich schon im 19. Jahrhundert ein), die sich mehr oder weniger deutlich von den etablierten abgrenzten. Sie werden unter dem Begriff 'shin shûkyô', 'Neue Religionen' zusammengefasst und etwa ein Drittel der Japaner gehört heute einer dieser Gemeinschaften an. Die staatliche Anerkennung (dafür gibt es Steuervorteile) ist in Japan (anders als hier in Deutschland) nichts Besonderes - nach einer Erhebung aus dem Jahr 2006 gibt es 182.468(!) als Körperschaft anerkannte Gemeinschaften; dazu kommen noch mal ca. 50.000 nicht anerkannte Gemeinschaften. In Japan selbst ist Sanbo Kyodan weitgehend unbekannt, sie hat nur wenige tausend Mitglieder. Ganz anders als z.B. Soka Gakkai (in Japan ca. 10 Millionen Anhänger), Tenrikyo (in Japan ca. 1,5 Millionen Anhänger) oder Konkokyo (450.000 Anhänger) - typische 'shin shûkyô'. Selbst die recht kleine Ōmu Shinrikyō (bekannt durch den Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn 1995) war damals mit ca. 10.000 Mitgliedern in Japan (in Russland übrigens ca. 30.000) deutlich größer als Sanbo Kyodan.

Das soll nun die Sanbo Kyodan nicht kleinreden - nur ihre Rolle im japanischen Zen (vom koreanischen oder chinesischen wollen wir hier gar nicht erst reden) etwas verdeutlichen und die Perspektive zurechtrücken. Die oben zu lesende Internet-Auskunft ist ja ganz offensichtlich einer völlig verschobenen Perspektive geschuldet ...

Anders als in Japan ist die Sanbo Kyodan jedoch durchaus von einigem Einfluss auf die Zen-Rezeption im Westen gewesen. Das hat drei Ursachen - zum ersten war Yasutani gewillt, Amerikaner und Europäer zu unterweisen, als das für die große Mehrheit der Zenmeister in der Sotoshu oder Rinzaishu noch undenkbar war. Wer als Gaijin (Nicht-Japaner) in Japan Zen-Unterweisungen erhalten wollte, hatte lange kaum eine andere Möglichkeit, als sich an die Sanbo Kyodan zu wenden, vor allem, wenn er kein Japanisch sprechen konnte. Zum zweiten war und ist Yasutanis Organisation eine reine Laienorganisation. Nicht, dass die Schulung von Laien im Zen etwas Neues oder auch nur Ungewöhnliches gewesen wäre - nur geschah dies eben in aller Regel in einem buddhistischen Kloster und durch einen buddhistischen 'Geistlichen'. Die Sanbo Kyodan mit ihren religiös diffusen Status hingegen eröffnete christlichen Klerikern die Möglichkeit, einen Dispens (eine offizielle Erlaubnis ihrer Vorgesetzten) zu erhalten, um sich in dieser Organisation schulen zu lassen - dort die Methoden und Techniken einer Zen-Unterweisung kennenzulernen. Freilich nicht auf traditionelle Art, sondern eben auf "reformierte" Sanbo Kyodan - Art.

Der dritte Punkt - der eng mit dem zweiten zusammenhängt und ebenfalls ein wesentlicher Faktor für die Anziehungskraft dieser Organisation auf Christen (und solche, die es bleiben wollen) war und ist, ist zentral in der Ideologie dieser Gemeinschaft. Hier kann man sich wirklich die Frage stellen, ob da "Zen reformiert" wurde. Oder aber, ob man da mit Fug und Recht noch von Zen sprechen kann. Genauer: von Saijojo-Zen, nicht von Gedo-Zen oder Bompu-Zen. Es geht dabei um die Ablösung der Zen-Schulung vom Buddhadharma, die Proklamation eines 'suprareligiösen' oder 'transkonfessionellen' Zen.

Den wenigsten Vertretern der Anschauung von Zen als einer suprareligiösen Angelegenheit ist bewusst, dass diese These ihre Wurzeln in äußerst trübem Wasser hat. Zen sollte dabei als genuin japanische Kulturleistung herausgestellt und für nationalistische Propaganda instrumentalisiert werden - was implizierte, dass man es als angebliches japanisches Eigengewächs von seinen buddhistischen Wurzeln in den verachteten, rückständigen Kulturen Chinas und Indiens abtrennte. Am deutlichsten hat dies Suzuki Daisetsu Teitaro 1938 in 'Zen und die Kultur Japans' formuliert (deutsche Übersetzung 1941 erschienen):

"Darum vermag es [Zen] sich mit großer Schmiegsamkeit fast jeder weltanschaulichen oder sittlichen Lehre anzupassen, solange seine intuitive Unterweisung durch sie nicht gestört wird. Es kann sich mit anarchistischen oder faschistischen, kommunistischen oder demokratischen Idealen, mit Atheismus oder Idealismus, mit jedem politischen oder wirtschaftlichen Dogma befreunden."
In diesem Zitat Suzukis lässt sich völlig problemlos "Atheismus" oder "Idealismus" durch "Christentum" ersetzen, zu "jedem politischen oder wirtschaftlichen Dogma" ließe sich auch noch "jedes religiöse Dogma" hinzufügen - wie dieses Zitat überhaupt eine bedenkliche Beliebigkeit durchblicken lässt. Es erklärt, aus welchen Quellen sich das "transkonfessionelle Zen" speist - dessen Verfechter eigenartigerweise so häufig gerade eben nicht konfessionell ungebunden sind. Ganz im Gegenteil. Die Namen der Sanbo Kyodan - Lehrer, die zumindest im deutschen Sprachraum am profiliertesten für diese Art von Zen stehen, sprechen für sich: der Jesuit und Japan-Missionar Hugo Lassalle SJ, der Benediktiner Willigis Jäger OSB, der Pallotiner Johannes Kopp SAC, der Jesuit Niklaus Brantschen SJ ...

Es waren insbesondere Harada und Yasutani (die geistigen Väter der Sanbo-Kyodan), die die angebliche "große Schmiegsamkeit" des Zen, bevor sie christliche Adepten davon profitieren ließen, japanischer faschistischer Propaganda zugute kommen ließen. Haradas Schrift "Der eine Weg von Zen und Krieg" ist ein besonders beredtes Zeugnis des "reinen, nichtkonfessionellen Zen". Sie liegt genau auf dieser Linie - es gibt da eine Kontinuität sowohl in Bezug auf die Ideologie als auch auf die Protagonisten. Mit "Schmiegsamkeit" hat das natürlich nicht das Geringste zu tun, sondern mit Verstümmelung. Zen ist ein integrativer Weg, ist die formlose Übung von Sila, Prajna und Dhyana als Einheit. Sila, Prajna und Dhyana wiederum ist nichts Anderes als der ganze edle achtfache Pfad, ist nichts Anderes als der Buddhadharma. Für ein nationalistisches oder militaristisches Zen ist es erforderlich, Sila zu amputieren - die angemessene, 'rechte' soziale Haltung, das ethisch bestimmte Handeln. Für ein Zen, das Leerheit und wechselseitig bedingtes Entstehen durch einen Gott ersetzen will, muss man Prajna, Einsicht in die Dinge-wie-sie-sind, amputieren (was zugegeben deutlich erträglicher ist). Beides ist genausowenig Zen wie ein Zen, aus dem man die Übung des Zazen herausgeschnitten hat. Dazu ließe sich höchstens sagen: Operation gelungen, Patient tot.

Was die christlichen Adepten angeht, so möchte man ihnen ein gründliches Studium von Matthäus 9.17, Markus 2.22 und Lukas 5.37-38 ans Herz legen. Wofür da nun jeweils 'neuer Wein' und 'alte Schläuche' stehen sollen, sei dem Studierenden überlassen - es macht keinen Unterschied. Wenn ein Willigis Jäger OSB über Zen schwadroniert "Alle bestehenden großen Religionen haben es unter verschiedenen Namen auf die eine oder andere Art integriert", dann muss er sich wohl oder über übel fragen lassen, was er dann eigentlich noch in Japan zu suchen hatte, warum er seine Exerzitien als 'Zen' und sich selbst als Zenmeister und x-ten Nachfolger Shakyamuni Buddhas anbietet.

Zur Klarstellung: ich finde absolut nichts daran auszusetzen, wenn Menschen Zen üben, die sich selbst als Christen oder auch 'nur' als Nicht-Buddhisten verstehen. Im Gegenteil, ich bezweifle nicht, dass sie ihre eigene Spiritualität damit vertiefen können und das wiederum finde ich erfreulich und lobenswert. Aber allein dadurch, dass auch Nicht-Buddhisten Zen üben, entsteht kein nicht-buddhistisches oder "transkonfessionelles" Zen. Genausowenig, wie das Herzsutra zu einem Psalm wird, wenn es ein Christ liest oder zum Gegenstand einer Exegese aus christlichem Geiste macht.

Willigis Jäger OSB - der, obwohl mittlerweile Gründer und Oberhaupt einer eigenen, unabhängigen 'shin shûkyô' - als lautester und populärster 'Zenmeister' aus dem Sanbo Kyodan - Stall hier den repräsentativen Fürsprecher geben soll, rechtfertigt seine Auffassung mit der aus meiner Sicht recht bemühten Unterscheidung zwischen einer "esoterischen" und einer "exoterischen" Sicht von Zen. Genau das ist eine überaus künstliche Trennung - es gibt kein freischwebendes "esoterisches Zen", allenfalls in der Art, wie es so vieles andere Esoterische bei uns gibt. Bruch- und Versatzstücke, die sich beliebig mit anderen zu mehr oder weniger originellen Weltanschauungen zusammenmontieren lassen. Es ist in diesem Zusammenhang hilfreich, sich einmal gründlich mit Dogens Shobogenzo Bukkyo auseinanderzusetzen und zu klären, was es mit "außerhalb der Schriften" auf sich hat. Dass die Überlieferung außerhalb der Schriften in keinster Weise verschieden ist von der Überlieferung innerhalb und durch die Schriften, wenn man jene denn richtig versteht. Ein Geist.

Die Unterscheidung zwischen 'esoterischem Zen' und 'exoterischem Zen' spiegelt in meinen Augen deutlich das Fragmentarische und Unvollständige dieser Art von Zen-Rezeption wieder. Es ist 'wählerisches Auswählen', das Aussortieren desssen, was mit vorgefassten Ansichten, die man nicht loslassen will oder kann, nicht harmonieren mag. Es ist ja schlicht und einfach nicht wahr, wie Jäger denunziatorisch unterstellt, dass das Bewahren des von ihm als 'exoterisch' Klassifizierten nichts anderes als "Hang zu äußeren Formen" und damit "Anfängerkrankheit" sei. Es geht ja nicht um schwarze Kutten, um Räucherstäbchen und rasierte Köpfe - es geht nicht einmal um Form, sondern um das richtige Verständnis der Form und da haben die Sutren, die Gelübde, das O'Kesa, die überlieferten Worte der Patriarchen usw. usf. allemal noch einen anderen Stellenwert als die Frage, ob und welche Sorte Räucherstäbchen man abbrennt. Es ist nicht die 'exoterische' Form, die Jäger für überflüssig oder/weil mit der westlichen Kultur inkompatibel hält und die er deshalb über Bord werfen will, es geht vielmehr um das richtige ('buddhistische') Verständnis der Form - Prajna - das unvermeidlich mit theistischen Auffassungen / Anhaftungen kollidiert. Dieses Problem durch Verwerfen der 'Form' lösen zu wollen, das ist eine "Anfängerkrankheit". Und diese Lösung funktioniert eben auch nur mit einem amputierten 'Zen'.

Freitag, 12. Februar 2010

Drei heisse Tassen Tee

Ein wenig lässt der Vorfrühling nun wohl doch noch auf sich warten. Man muss es halt nehmen, wie's kommt und geht. Auch das Wetter ...



Also noch keine Zeit für Frühlingsgedichte. Das lässt sich verschmerzen - gibt es doch Wintergedichte reichlich. Sie sind nicht so selten wie unser Beispiel vom letzten Sonntag, das sich dem Schwebezustand zwischen Nicht-mehr-Winter und Noch-nicht-Frühling widmete. Dazu vielleicht ein ander Mal mehr, wenn die Zeit gekommen ist. Heute soll es Liu Zongyuan sein, ein Zeitgenosse des letzten Sonntag zitierten Bo Juyi und wie dieser ein in der Politik Gescheiterter.

schneefluss

tausend hügel, kein vogel am himmel
zehntausend pfade, keines menschen spur
einsames boot, alter mann mit strohhut
alleine fischend im kalten schneefluss

Nun, ein Fischer war gestern auf der Nahe nicht unterwegs. Schon gar keiner mit Strohhut. Dafür kann man auf obigem Bild bei genauem Hinsehen meinen Wandergefährten Charly entdecken. Den einsamen Angler möchte ich stattdessen hier mit einem Bild des alten 'Eine-Ecke-Ma' nachliefern:


Seinen Spitznamen erhielt Ma Yuan wegen der Marotte, sich damit zu begnügen, lediglich eine Ecke seiner Bilder zu bearbeiten und den Rest der Vorstellungskraft des Betrachters anheim zu stellen. Eine Absicht, die hier freilich durch Beschneiden und mein exzessives Geschreibsel zunichte gemacht wird. Dafür lässt sich auf dem Bild hier aber auch noch etwas erkennen, was bei einer Darstellung des kompletten Formats deutlich schwieriger sein dürfte ....

Um auf Liu Zongyuans Gedicht zurück zu kommen - das kann einen schon frösteln lassen. In der Tat, verglichen mit Bo Juyi vermisst man hier die Heiterkeit und Wärme, die man bei seinem berühmteren Kollegen selbst in einem Wintergedicht finden kann, etwa in diesem hier:

Späte Heimkehr auf der Straße von Pingquan an einem Wintertag

Wie beschwerlich, auf dem Bergpfad zu reisen.
Schon steht die Sonne tief.
Im vernebelten Dorf ein eisiger Baum
Dient einer Krähe zum Sitz.
Vor Einbruch der Nacht komm ich nicht an,
Doch kümmert mich dies nicht .
Drei heisse Tassen Tee getrunken

Und ich bin zu Haus.

So habe auch ich es heute gehalten und ohne Bedauern die letzten Krümel eines Dai Hong Pao ihrer Bestimmung zugeführt. Dai Hong Pao ('Große Rote Robe') ist einer der berühmten Wuyi-Tees aus Fujian. Dieser 'Klippen-' oder 'Felsen-Tee' (Yan Cha) wächst in den stark zerklüfteten Wuyi–Bergen des Chong’an–Distrikts an der nordwestlichen Grenze Fujians zur Provinz Jiangxi. Zur Ernte an den steilen Hängen und Felswänden sollen früher z. T. dressierte Affen eingesetzt worden sein. Er war bereits zu Zeiten der Song-Dynastie (960-1279), gegen deren Ende der oben vorgestellte 'Eine-Ecke-Ma' wirkte, berühmt als kaiserlicher Tribut-Tee.

Yan Cha ist eine Sammelbezeichnung für die Oolongs aus diesem Gebiet, die alle in recht geringen Mengen von einer speziellen Varietät des Teestrauchs, dem Ming Cong, produziert werden. Der vielleicht berühmteste unter ihnen ist der Dai Hong Pao, die ‚Große Rote Robe’ aus dem Tian-Xing - Garten. Von vergleichbarem Ruf sind der Ching Yuan (Goldmünze) vom Fu Guo und der Pai Ji Kuan (Weißer Hahnenkamm) aus dem Hui Yuan - Garten.

Diesen Tee hatte ich vor fast einem Jahr auf der Rheinland-Pfalz-Ausstellung in Mainz erstanden, wo die Wuyi Star Tea Company aus Fujian (Rheinland-Pfalz pflegt mit dieser Provinz eine besondere Partnerschaft) einen üppig ausgestatteten Stand unterhielt, an dem ansehnliche junge Damen Kostproben ausschenkten. Ich hatte mich dort vor allem mit einer größeren Menge eines sehr leckeren Shui-Xian-Ooolongs eingedeckt - und eben mit Dai Hong Pao, der trotz der bescheidenen 15g Packungsinhalt geradezu obszön teuer war. Allerdings ist bei diesem Tee noch der 7. Aufguss ein Genuss. Also werde ich bei der diesjährigen Ausstellung Ende März für Nachschub sorgen - vorausgesetzt, die freundlichen Damen und Herren aus Fujian sind dann auch wieder da. Bis dahin werde ich mich zum Aufwärmen wohl oder übel anderer Mittel bedienen müssen.

Sonntag, 7. Februar 2010

Bessere Herren im Vorfrühling

Der Februar scheint für poetische Gefühle eine denkbar ungeeignete Zeit zu sein - jedenfalls ist dies bislang dieses Jahr so. Zwar nun endlich "vom Eise befreit sind Strom und Bäche", um mit dem Herrn Geheimrath zu reden, doch auf "des Frühlings holden, belebenden Blick" gilt es noch ein wenig zu warten - bis zum Osterspaziergang ist noch eine Weile hin ...

Um so mehr sehnt sich der Mensch in diesen ungemütlichen Zeiten nach Geborgenheit und Sicherheit. Ein optimaler Zeitpunkt für verantwortungsbewusste Menschen, sich dieser Sorgen anzunehmen. Alle Jahre wieder ...

Blick in den Konferenzsaal. Foto: Kai Moerk


Das wiederum - wofür die Münchener Sicherheitskonferenz, vormals unter dem freilich weniger Behaglichkeit und Zuversicht vermittelnden Titel ''Wehrkundetagung' bekannt, ein Paradebeispiel ist - ist nun doch wieder ein geeignetes Sujet für Dichter von Format. Zur Verdeutlichung der überzeitlichen, zutiefst menschlichen Aspekte solcher Ereignisse möchte ich denn auch einen schon etwas älteren Dichter auswählen: Bo Juyi (772–846) .

Bo Juyi war konfuzianisch erzogen, wandte sich jedoch schon früh dem Buddhismus zu. 801 wurde er Lektor der kaiserlichen Bibliothek. Er kritisierte freimütig das Parasitentum der Eunuchen, die gnadenlose Ausbeutung der Bauern und die unmenschliche Strafjustiz - was ihm eine enorme Popularität aber begreiflicherweise auch erbitterte Feindschaften einbrachte. 814 wurde er kaltgestellt, ein Jahr später wegen einer unerbetenen Eingabe strafversetzt. 820 wurde er vom neuen Kaiser Muzong rehabilitiert und in der Folgezeit als einer der größten Dichter seiner Zeit anerkannt. In der Tat gehört er mit Du Fu und Li Bai zu den größten Dichtern der Tang-Dynastie. Und er war einer der produktivsten Dichter überhaupt: 3800 Gedichte von ihm sind überliefert.

Auf eine eigenhändige Übersetzung kann ich hier verzichten, da sich der große Günter Eich dieses Dichters angenommen hat.

Bessere Herren

Die mit den Pferden fast die Straße sperren,
Ihr Reitgeschirr seh ich im Staube blitzen.
Wer sind sie, die so stolz im Sattel sitzen?
Vom Hofe, sagt man, hochgestellte Herren.

Die im Zinnoberrock sind aus der Staatskanzlei,
Die mit den Purpurschnüren Generale,
In das Kasino reiten sie zum Mahle,
Die Kavalkade zieht wie ein Gewölk vorbei.


Aus Krug und Bütten schenkt man die Getränke,
Das Wasser wie das Land reicht Leckerbissen dar,
Vom Dung-ting-See Orangen wunderbar,
Geschnittnes Fleisch, Pasteten, Hecht und Renke.

Es ist gemütlich, wenn man satt gegessen,
Der Wein belebt die Stimmung ungemein.
Im Süden trockneten die Felder ein,
In Tjü-dschou hat man Menschenfleisch gegessen.


Bliebe noch das Menu nachzutragen, das den illustren Gästen gestern als Mittagsmahl gereicht wurde: als Vorspeise Salat von bayerischen Flusskrebsen mit Friséespitzen und Aprikosenchutney, als Hauptgang Hüfte vom Ruppiner Weide-Lamm in Senfsaat gehüllt mit Aromatenjus an provenzalischem Gemüse und gratinierten Rahmkartoffeln, als Dessert Blutorangen-Crème-Brûlée mit Gewürzkuchen und Pflaumensauce. Zur Vorspeise wurde ein Riesling oder Chardonnay empfohlen, zum Hauptgang ein leichter Rotwein, zum Beispiel ein Trollinger.

Um auf etwas Anderes zurückzukommen - Bo Juyi war nicht nur ein kritischer Geist, er gehörte auch zu jenen Dichtern, die durchaus etwas mit dieser unspektakulären Jahreszeit des Spätwinters / Vorfrühlings anfangen können, wie das folgende Beispiel aus seiner Verbannungszeit zeigt. Auch hier ist wieder Günter Eich unser Dolmetscher:

Vorfrühling am Mäander-See

1
Vom
Amt beurlaubt bin ich ungebunden,
Mein dürrer Klepper braucht mich nicht zu tragen.
Ich geh durchs Tor, wenn es beginnt zu tagen,
Am See hab ich den Frühling schon gefunden.


2
Der Wind hebt an, von Osten weich zu wehen.
Die Wolken öffnen sich. Die Berge hellen auf.
Das Eis zerschmilzt. Es brechen Quellen auf.
Der Schnee zerrinnt, lässt erste Gräser sehen.

3
Betaute Aprikosenknospe will sich röten.
Aus Nebel taucht der Weide unvollendet Grün.

Wildgänse: träge Schatten die vorüberziehn.
Verhalten fängt die Amsel an zu flöten.

4
Voll Frieden sind das Herz und das Gelände
Und wie das schöne Licht die Augen rein.
Im Rausch fühl ich der Welt mich nahe sein.
Mir half der Wein: die Krankheit ist zu Ende.

5
Zu bummeln ist der Taugenichtse Sache.
Das Einfache begehrt, wer in der Stille lebt.
Denk ich der Säle voller Bücher, lache
Ich, denen ungleich, die nach Ruhm gestrebt.