Sonntag, 21. November 2010

Religiöser Pluralismus vs. religiöser Relativismus

Bei dem heutigen Eintrag geht es wieder um ein längeres Zitat. Anders als andere Werke des gleichen Autors ist es leider nur noch antiquarisch erhältlich - wohl weil es einer frühen Schaffensphase des Autors entstammt, als er sich noch nicht unter der Führung von Lama Ngawang Kalsang, genannt Domo Geshe Rinpoche, dem tibetischen Buddhismus zugewandt hatte. Regelmäßigen Lesern dieses Blogs kommt der Name des Lehrers möglicherweise bekannt vor, von diversen Reinkarnations-Prätendenten war hier im März die Rede.

Anagarika Govinda (vorne links) mit seinem Lehrer 
Nyanatiloka Thera (vorne Mitte) 1929 in Burma

Bei dem Autor des Zitats handelt es sich um Ernst Lothar Hoffmann (1898 - 1985), besser bekannt unter seinem Ordensnamen Lama Anagarika Govinda. Es sind die einleitenden Sätze seines Buchs 'Die psychologische Haltung der frühbuddhistischen Philosophie', 1962 im Rascher-Verlag veröffentlicht. Der dort veröffentlichte Text beruht jedoch auf älterem Material, nämlich auf Vorlesungen, die Anagarika Govinda 1936 und 1937 als Lektor an der Universität von Patna hielt.

Warum gerade dieses Zitat? Weil es in sehr deutlicher Sprache und kluger Formulierung aufzeigt, dass die Achtung vor anderen Religionen sich im Respektieren, ja in der Wertschätzung ihres Anders-Seins zeigt.

EIGENGESETZLICHKEIT DES RELIGIÖSEN LEBENS

Religionen werden nicht «gemacht». Sie sind der formale Ausdruck überindividueller, durch lange Zeiträume sich kristallisierender innerer Erfahrung. Sie tragen den Charakter einer höheren Gemeinsamkeit, einer Anteilnahme an einem weiteren Bewußtsein. Sie finden ihre entscheidende Ausdrucksform und Verwirklichung in den am höchsten entwickelten und sensitivsten Geistern, welche die Fähigkeit besitzen, am überindividuellen Leben ihrer Mitmenschen (wenn nicht gar der Menschheit) teilzunehmen. Religion ist daher mehr als ein bloßes «kollektives Denken», welch letzteres ein Kennzeichen intellektuell geschaffener und organisierter Massenbewegungen ist und somit nicht einem überindividuellen Bewußtsein angehört, sondern im Gegenteil, der unterindividuellen Stufe der Herdenmentalität.

Religionen aber können nicht intellektuell geschaffen oder gemacht werden, sie wachsen (so wie eine Pflanze wächst) nach gewissen, ihrer Natur entsprechenden Gesetzen: sie sind sozusagen Naturereignisse des Geistes, an denen das Individuum teilnimmt. Die Universalität ihrer Gesetzmäßigkeit bedeutet jedoch nicht die Gleichartigkeit ihrer Auswirkungen, denn dasselbe Gesetz wirkt verschieden unter verschiedenartigen Bedingungen. Wir können daher zwar von einem Parallelismus religiöser Wachstumsvorgänge, und vielleicht sogar von einem Parallelismus religiöser Ideen reden, aber nirgends von einer Identität. Ja, gerade da, wo gleiche Worte oder Symbole verwandt werden, ist der ihnen zugrundeliegende Sinn oft gänzlich verschieden, da die Gleichheit der Form nicht eine Gleichheit des Inhalts garantiert, denn der Sinn jeder Form hängt von den mit ihr verbundenen Assoziationen ab.

Es ist daher ebenso sinnlos, alle Religionen auf den gleichen Nenner bringen zu wollen, wie alle Baume eines Gartens gleichmachen zu wollen oder ihre Verschiedenheiten als Unvollkommenheiten zu erklären. So wie die Schönheit eines Gartens gerade in der Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit seiner Bäume und Blumen besteht, von denen jede ihren eigenen Vollkommenheitsstandard besitzt, so erhält auch der Garten des Geistes seine Schönheit und seinen lebendigen Sinn durch die Vielfältigkeiten und Verschiedenheiten seiner Erlebnis- und Ausdrucksformen. Aber wie alle Bäume eines Gartens aus dem gleichen Boden wachsen, die gleiche Luft atmen und sich der gleichen Sonne entgegenstrecken, so wachsen alle Religionen aus dem gleichen Boden innerer Wirklichkeit und nähren sich von denselben kosmischen Kräften. Hierin liegt ihre Gemeinsamkeit. Ihr Charakter und ihre eigentümliche Schönheit (worin der ihnen innewohnende Wert* besteht), beruht auf jenen Zügen, in denen sie sich voneinander unterscheiden und auf Grund welcher eine jede Art ihre eigene Vollkommenheit besitzt.

Diejenigen, welche die Differenzen der Religionen wegzuerklären versuchen, indem sie dieselben entweder bagatellisieren oder als fehlerhafte Auslegungen und Mißverständnisse bezeichnen, um auf diese Weise zu einer abstrakten Übereinstimmung zu kommen oder zu einer absoluten Einheit, die sie für die einzige Wirklichkeit halten, sind wie Kinder, die die Blütenblätter einer Blume ausrupfen, um zur «wirklichen» Blüte zu gelangen. Wenn eine Anzahl von Künstlern denselben Gegenstand oder dieselbe Landschaft malen, so wird dennoch jeder von ihnen ein anderes Bild schaffen. Wenn aber eine Anzahl von Leuten dasselbe Objekt vom gleichen Standpunkt (und zur gleichen Tageszeit) photographieren würden, so würde jeder von ihnen das gleiche Bild hervorbringen. Diese Gleichheit und Übereinstimmung (in dem wir das Kriterium der Wahrheit sehen), ist nicht ein Zeichen der Überlegenheit, sondern der Abwesenheit schöpferischer Kräfte, ja des Lebens. Die Verschiedenheiten künstlerischer Auffassungen hingegen sind gerade das, was dem Kunstwerk seinen wesentlichen Wert gibt. Einzigkeit und Ursprünglichkeit sind die Kennzeichen des Genius, der Genialität, in allen Lebenssphären. Gleichheit und Standardisierung sind die Kennzeichen der Mechanisierung, der Mittelmäßigkeit und des geistigen Stagnierens.

Wenn wir die Religionen zu den höchsten Errungenschaften der Menschheit zahlen wollen, so müssen wir ihnen die gleichen Privilegien zugestehen, die wir dem schöpferischen Werk eines Genius einzuräumen bereit sind. Auf der anderen Seite müssen wir uns darüber klar sein, daß bloße Verschiedenheiten oder sogenannte Originalität noch kein Beweis für schöpferische Leistung ist, und wir würden uns eines anderen Extrems schuldig machen, wenn wir jegliche Möglichkeit der Übereinstimmung in religiösen Erfahrungen und Formulierungen oder einer die Unterschiede umfassenden Einheit ableugnen wollten. Aber Einheit sollte nie auf Kosten produktiver Verschiedenheit und Lebendigkeit hergestellt werden, sondern durch eine Koordinierung der wesentlichen Differenzen zu einer Harmonie, die stark genug ist, um auch die größten Gegensätze zu überbrücken und zusammenzuhalten.

* den wir mit dem abstrakten Begriff der Wahrheit verwechseln, aus dem sich die ebenso lebensfremden Dogmen der Religionen entwickeln.
Es ist unverkennbar, dass Lama Anagarika Govinda nicht zuletzt auch ein Meister der Sprache war - ein Poet, für den Wahrheit und Schönheit untrennbar waren. Dies wird ganz besonders deutlich, wenn Govinda  bei der Untersuchung der Bewusstseinsklassen des Abhidhamma im Zusammenhang mit den achtzehn Bewusstseinsklassen ohne Wurzelursachen (ahetuka-cittani) insbesondere auf die 18. Klasse hinweist, das von Freude (sukha) begleitete Bewusstsein der Entstehung ästhetischen Genusses (hasituppada). Hier zitiert Govinda einen anderen der frühen 'Brückenbauer', nämlich Bhikku Silacara:
"Die vollkommene Abwesenheit des «Ich», wenn aufrechterhalten, ist Nibbana. Und der Mensch, dem es vergönnt ist, zeitweilig vom «Ich» in der Betrachtung des Schönen befreit zu sein, hat hiermit vorübergehend Nibbana in einer Weise erlebt, die ihn schließlich zum vollständigen, wahrhaften, vollkommenen Nibbana führen könnte. Deshalb behaupte ich, dass Schönheit vielen dazu verhelfen wird, Nibbana zu finden".
Das ist natürlich gut Schopenhauerisch, aber ich war Govinda sehr dankbar für den Hinweis, dass sich zumindest der Ansatz zu diesem Gedanken schon im Abhidhamma finden lässt. Für heute mag ich dies nicht weiter ausführen, da das Thema des Blogeintrags ja doch ein anderes ist - aber ich möchte nicht hier von Lama Anagarika Govinda Abschied nehmen, ohne ein Gedicht aus seinem Buch Mandala  von 1961 zu zitieren - sein vielleicht bekanntestes:

 Dreifach ist des Lebens Rhythmus -
nehmend, gebend, selbstversunken:
Einatmend nehm ich die Welt in mich auf
Ausatmend gebe der Welt ich mich hin,
Leergeworden leb ich mich selbst -
Lebe entselbstet und öffne mich neu.
Einatmend nehm ich die Welt in mir auf
Ausatmend gebe der Welt ich mich hin:
Entleert erleb ich die Fülle,
Entformt erleb ich die Form.

1 Kommentar:

  1. Herzlichen Dank für diesen Wunderschönen Beitrag von dir SoGen. Habe den Link an alle der Sangha in Luzern weitergesendet ...

    Gassho JoShin

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