Sonntag, 26. Dezember 2010

Friede auf Erden

Unsere Aufgabe ist, weiterzutragen, was absolut über allen Dingen stehen muss - das Geistige. Wenn alles zusammenbricht, werden wir hingehen und 'Friede auf Erden' von Schönberg singen.
(Anton Webern)



 
Da die Hirten ihre Herde
Ließen und des Engels Worte
Trugen durch die niedre Pforte
Zu der Mutter und dem Kind,
Fuhr das himmlische Gesind
Fort im Sternenraum zu singen,
Fuhr der Himmel fort zu klingen:
"Friede, Friede auf der Erde!"

Seit die Engel so geraten,
O wie viele blutge Taten
Hat der Streit auf wildem Pferde,
Der geharnischte, vollbracht!
In wie mancher heilgen Nacht
Sang der Chor der Geister zagend,
Dringlich flehend, leis verklagend:
"Friede, Friede auf der Erde!"

Doch es ist ein ewger Glaube,
Daß der Schwache nicht zum Raube
Jeder frechen Mordgebärde
Werde fallen allezeit:
Etwas wie Gerechtigkeit
Webt und wirkt in Mord und Grauen,
Und ein Reich will sich erbauen,
Das den Frieden sucht der Erde.
 Ich habe es mir versagt, zum aktuellen Kalenderereignis etwas zu Meister Eckarts 'ewiger Geburt' zu schreiben. Angesichts der die allgemeine Festtagsstimmung konterkarierenden Nachrichten erschien mir dies unangemessen. Vielleicht nächstes Jahr. Stattdessen Arnold Schönbergs großartige Vertonung von Conrad Ferdinand Meyers Gedicht, bei dem die weihnachtliche Idylle transparent wird für das Grauen - aber auch die Hoffnung.

Wie es das Zitat von Anton Webern andeutet, ist die Utopie gegenwärtig - nicht zuletzt in der Musik, im Klang der Welt. Und in dem, der zu hören vermag ...

Für den ist Samadhi gewonnen,
Der den Weg des Hörens sich wählte.
Avalokitesvara Bodhisattva
Hat damit Befreiung vom Leiden gefunden.
Unzählbar wie Sandkörner im Ganges
Sind die Weltalter, da er die gleiche Zahl
An Buddha-Ländern erleuchtet betrat,
Verseh'n mit der Macht seiner inneren Freiheit,
Furchtlosigkeit unter den Wesen verbreitend.
O du, dessen wunderbar reine
Stimme den Gezeiten gleicht,
Der du niederblickst auf das menschliche Wort,
Hilf uns Weltlichen, biete uns Zuflucht,
Gib Erlösung und Ewigkeit.
Dem Tathägata will ich ergeben erklären
Avalokitesvaras heiliges Wort;
Wenn man weilt in ewiger Stille,
Donnern Trommeln um den Weltenkreis.
Wer sie hört, der ist vollkommen.
Das Auge durchdringt keine Schranken,
Nicht der Mund und nicht die Nase.
Durch Kontakt nur empfindet der Körper,
Gedanken sind wirr und zerrissen.
Doch die Stimme, nah oder ferne,
Kann immer, beständig man hören.
Die fünf ändern Organe sind unvollkommen,
Alldurchdringend allein ist das Hören.
Das ,Sein' oder ,Nichtsein' von Laut und Stimme
Registriert das Ohr als ,ist' oder ,fehlt'.
Da, wo kein Laut ist, wird nichts gehört,
Nichthören ist leer von Natur.
Fehlen des Lauts heißt nicht Ende des Hörens,
Vorhandener Laut, nicht des Hörens Beginn.
Das Hören selbst ist von ständiger Dauer,
Gehört wird von dem, was entsteht und vergeht.
Und selbst wenn im Traum sich Ideen bilden,
Obgleich man nicht denkt - Gehör bleibt besteh'n.
Denn die Hörfähigkeit ist jenseits des Denkens
Und reicht hinaus über Geist und Leib.
In dieser Sahâ-Welt
Geschieht Belehrung durch Stimme.
Wer des Hörens Natur nicht durchschaun kann,
Folgt dem Laut und wird wiedergeboren.
Was Ânanda hörte, das hat er behalten,
Doch das hinderte nicht sein irriges Denken.
So stürzt ins Samsâra, wer sich klammert an Laute.
Die Wahrheit kommt nicht aus dem weltlichen Strom.
So höre, Ânanda, und höre mit Sorgfalt.
Ich proklamiere im Namen des Buddha
Des Vajra-König der Erleuchtung,
Jenes unbegreifbare Erkennen,
Daß alle Erscheinung nicht wirklich ist.
Dies ist Samädhi, die Buddhazeugung.
Du magst von Methoden hören,
Von zahllosen Buddhas verkündet;
Doch trägst du noch Wünsche im Herzen,
Entsteht dir durch Hören nur Irrtum.
Warum wendest du nicht nach innen,
Dem wahren Geist zu lauschen,
Jenes Ohr, das dem Buddha du öffnest?
Nicht von sich aus ist das Hören,
Es ist bedingt durch den Laut.
Wie nennst du, was losgelöst ist,
Wenn, vom Laut gelöst, du zurücklauschst?
Kehrt ein Sinnesorgan sich zur Quelle,
Werden alle sechs Sinne erlöst.
Wie optische Täuschung sind Sehen und Hören,
Die Dreiwelt gleicht einer Blume am Himmel.
Wenn das Hören von seinen Objekten gelost ist,
Verschwindet das Trugbild ,Hörorgan'.
Vollkommen die Bodhi, wo Objekte entwurzelt.
In höchster Reinheit ist alldurchdringend das Licht,
Das in strahlender Ruhe die große Leerheit entfaltet.
In der Nähe beseh'n sind die weltlichen Dinge
Illusionen, wie sie die Träume vermitteln.
Wie ein Traum war das Mâtangi-Mädchen.
Wie konnte sie deinen Körper besiegen?
Sieh etwa den Gaukler,
Den Puppenspieler:
Das Leben der Puppen
Ist das Werk dieses Spielers.
Ihr Leben ist fort,
Wenn er nicht mehr wirkt.
So auch die sechs Organe,
Die belebt sind vom âlaya,
Geschaffen zu sechsfacher Einheit.
Kehrt eins zurück zur Quelle,
So sind alle sechs verschwunden.
Wo alle Einflüsse enden,
Da ist Bodhi verwirklicht.
Befleckende Restbestände
Erfordern weitere Mühe;
Dagegen ist volle Erleuchtung
Der Gewinn des Tathägata.
Ânanda und alle ihr Hörer,
Ihr solltet nach innen wenden
Das Hören, um euch zu erkennen,
Denn das nur verhilft zur Erleuchtung.
So nur wird Bodhi gewonnen.
Wie Sandkörner zahlreich sind Buddhas,
Die so das Nirvâna gewannen.
Alle Tathâgatas der Vergangenheit
Haben entschieden sich zu diesem Weg.
Alle Bodhisattvas der Gegenwart
Haben gewählt eben diese Vollkommenheit.
Ihr alle, die ihr in Zukunft übt,
Sollt euch verlassen auf diesen Dharma.
Avalokitesvara war es nicht allein,
Der ihn übte,
Auch ich schritt diesen Weg.
Der Erleuchtete, Hocherhabene,
Hat gefragt nach dem nützlichsten Mittel,
In diesen gesetzlosen Zeiten
Dem Samsâra zu entrinnen,
Ins Herz der Nirvânatiefe.
Die Kontemplation des Welt-Lauts
Ist die beste aller Methoden.
Alle andern sind nur Mittel
Des Buddha für jeweilige Fälle,
Den Schüler zu befreien
Von diesen und jenen Beschwerden,
Doch nicht für die zielvolle Praxis
Von Menschen verschiedner Naturen.
Gruß sei des Tathägatas Reichtum
Weit jenseits des weltlichen Stromes.
Heil kommenden Generationen,
Daß ihnen der Glaube eigen,
Diesen leichten Weg zu gehen.
Er diene Ânanda zur Lehre
Und den Menschen düsterer Zeiten,
Daß sie lernen, ihr Ohr zu verwenden,
Dies wahrlich unübertroffne
Vermittlungsorgan zum Urgeist.
 (Surangama Sutra)

Möge unser Bemühen alle Wesen und Orte
mit dem wahren Segen des Buddhaweges durchdringen.
Mögen alle Menschen glücklich sein.

Donnerstag, 25. November 2010

Adorno Zenji revisited


Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.
- Walter Benjamin -

In der Tenpuku-Fassung seines Fukan Zazen Gi gibt Dogen die Anweisung "Immer wenn ein Gedanke auftaucht, sei dir seiner bewusst; sowie er dir bewusst ist, wird er verschwinden. Wenn du für einen längeren Zeitraum achtlos gegenüber Objekten bleibst [d.h. sie nicht abweist und nicht an ihnen haftest], wirst du auf natürliche Weise vereinheitlicht." Ich verstehe diesen Satz, den Dogen aus dem 'Meditationshandbuch' Zuochan yi (坐禪儀, um 1100 u.Z. entstanden) des Zenmeisters Changlu Zongze (長蘆宗賾, Daten unbekannt) übernommen hatte, in Richtung einer Vereinheitlichung von Körper (身, kaya) und Geist (心, manas) - die genannte Geisteshaltung und die im Fukan Zazen Gi unmittelbar davor behandelte Körperhaltung werden eins. Dieser vereinheitlichte shinjin (身心 - Körper-und-Geist) ist es, der sich in der Übung des Zazen 'löst und abfällt' (脱落, datsuraku) im Sinne eines Aufgehens in einem nichtpersonalen 'shinjin' - dem der Buddhas und Patriarchen.

Eine kürzliche Diskussion über den Begriff 'shinjin' bei Dogen hat mich dazu veranlasst, mich nach längerer Zeit noch einmal mit dem altbekannten Problem des Geist-Körper-Dualismus zu beschäftigen. Näher in der angesprochenen Diskussion ventilieren wollte ich das nicht - es wäre eine Sisyphusarbeit gewesen. Seit den Zeiten Parmenides bis hin zu Antonio Damasio ist derart viel unschuldige Tinte über dieses Thema vergossen und vergeudet worden, ohne dass dies der Menschheit zu einem merklichen Erkenntnisgewinn verholfen hätte, so dass ich Diskussionen über dieses Thema für sinnlos halte. Hier ist ein Verständnis nur auf praktische Art und Weise zu erlangen.

Trotzdem hat mich das Thema ein wenig zum Stöbern im Bücherregal angeregt - spukte mir da doch eine interessante dialektische Annäherung an dieses Thema noch im Hinterkopf. In Theodor W. Adornos Bestseller von 1966 'Negative Dialektik' wurde ich dann fündig. Da Adorno hier (was mich selbst überraschte) eine schöne Brücke von der dialektischen Untersuchung des Geistesbegriffes hin zur Überwindung des Leidens als Aufgabe der Gattung Mensch (nicht des Einzelnen - der Kern der Bodhisattva-Idee) schlägt, möchte ich dieses Zitat meinen Lesern nicht vorenthalten. In der Taschenbuchausgabe des Raub-Verlages findet es sich auf S. 200ff:

Theodor W. Adorno (1903 - 1969)

"Die Kontroverse über die Priorität von Geist und Körper verfährt vordialektisch. Sie schleppt die Frage nach einem Ersten weiter. Hylozoistisch fast geht sie auf eine ἀρχή, der Form nach ontologisch, mag selbst die Antwort inhaltlich materialistisch lauten. Beides, Körper und Geist, sind Abstraktionen von ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Gesetztes. Sie reflektiert das historisch gewonnene >Selbstbewußtsein< des Geistes und seine Lossage von dem, was er um der eigenen Identität willen negiert. Alles Geistige ist modifiziert leibhafter Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist. Drang ist, nach Schellings Einsicht*, die Vorform von Geist.

Die vermeintlichen Grundtatsachen des Bewußtseins sind ein anderes als bloß solche. In der Dimension von Lust und Unlust ragt Körperliches in sie hinein. Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind die vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem, so wie alles Glück auf sinnliche Erfüllung abzielt und an ihr seine Objektivität gewinnt. Ist dem Glück jeglicher Aspekt darauf verstellt, so ist es keines. In den subjektiv sensuellen Daten wird jene Dimension, ihrerseits das dem Geist Widersprechende in diesem, gleichsam zu ihrem erkenntnistheoretischen Nachbild abgeschwächt, gar nicht so verschieden von der wunderlichen Theorie Humes, der zufolge die Vorstellungen, ideas - die Bewußtseinstatsachen mit intentionaler Funktion - blasse Abbilder von Impressionen sein sollen. Bequem ist diese Lehre als insgeheim naiv-naturalistisch zu kritisieren. Aber in ihr zittert ein letztes Mal das somatische Moment erkenntnistheoretisch nach, bis es vollends ausgetrieben wird. In der Erkenntnis überlebt es als deren Unruhe, die sie in Bewegung bringt und in ihrem Fortgang unbesänftigt sich reproduziert; unglückliches Bewußtsein ist keine verblendete Eitelkeit des Geistes sondern ihm inhärent, die einzige authentische Würde, die er in der Trennung vom Leib empfing. Sie erinnert ihn, negativ, an seinen leibhaften Aspekt; allein daß er dessen fähig ist, verleiht irgend ihm Hoffnung. Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte: »Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos« ** darum ist die Identitätsphilosophie Mythologie als Gedanke. Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. »Weh spricht: vergeh.«° Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis. Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv von ihr sich lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objekts gedrängt wird. Alle Tätigkeiten der Gattung verweisen auf ihren physischen Fortbestand, mögen sie es auch verkennen, sich organisatorisch verselbständigen und ihr Geschäft nur noch beiher besorgen. Sogar die Veranstaltungen, welche die Gesellschaft trifft, um sich auszurotten, sind, als losgelassene, widersinnige Selbsterhaltung, zugleich ihrer selbst unbewußte Aktionen gegen das Leiden. Borniert freilich im Eigenen, kehrt ihre totale Partikularität sich auch gegen jenes. Ihnen konfrontiert, verlangt der Zweck, der allein Gesellschaft zur Gesellschaft macht, daß sie so eingerichtet werde, wie die Produktionsverhältnisse hüben und drüben unerbittlich es verhindern, und wie es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade einzig durch eine sich selbst und jedem Lebenden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen.

Denen, die möchten, daß es nicht sich verwirkliche, hat unterdessen der Materialismus den Gefallen seiner Selbsterniedrigung getan. Die Unmündigkeit, die das verursachte, ist nicht so, wie Kant es dachte, von der Menschheit selbst verschuldet. Mittlerweile zumindest wird sie planvoll reproduziert von den Machthabern. Der objektive Geist, den sie steuern, weil sie seiner Fesselung bedürfen, mißt dem durch die Jahrtausende gefesselten Bewußtsein sich an. Solcher Praxis hat der zur politischen Macht gelangte Materialismus nicht weniger sich verschrieben als die Welt, die er einmal verändern wollte; er fesselt weiter das Bewußtsein, anstatt es zu begreifen und seinerseits zu verändern."

Anmerkungen:

* »So ist auch das Seyn vollkommen gleichgültig gegen das Seyende. Aber je inniger und an sich wonnevoller diese Gelassenheit ist, desto eher muß sich in der Ewigkeit, ohne ihr Zuthun und ohne daß sie es weiß, ein stilles Sehnen erzeugen, an sich selbst zu kommen, sich selbst zu finden und zu genießen, em Drang zum Bewußtwerden, dessen sie doch sich selbst nicht wieder bewußt wird.« (Schelling, Die Weltalter, München 1946, S, 136.) - »Und so sehen wir die Natur, von der tiefsten Stufe an, ihrem Allerinnersten und Verborgensten nach begehrend und immer aufsteigend und weiter schreitend in ihrer Sucht, bis sie endlich das höchste Wesentliche, das rein Geistige selbst an sich gezogen, sich zu eigen gemacht hat.« (a. a. O., S. 140.)

** Benjamin, Passagenarbeit, Manuskript, Konvolut 6.

° [eigene Anmerkung] Friedrich Nietzsche, Also sprach Zahnarzt Hustra, Vierter und letzter Teil, Das trunkne Lied.



Sonntag, 21. November 2010

Religiöser Pluralismus vs. religiöser Relativismus

Bei dem heutigen Eintrag geht es wieder um ein längeres Zitat. Anders als andere Werke des gleichen Autors ist es leider nur noch antiquarisch erhältlich - wohl weil es einer frühen Schaffensphase des Autors entstammt, als er sich noch nicht unter der Führung von Lama Ngawang Kalsang, genannt Domo Geshe Rinpoche, dem tibetischen Buddhismus zugewandt hatte. Regelmäßigen Lesern dieses Blogs kommt der Name des Lehrers möglicherweise bekannt vor, von diversen Reinkarnations-Prätendenten war hier im März die Rede.

Anagarika Govinda (vorne links) mit seinem Lehrer 
Nyanatiloka Thera (vorne Mitte) 1929 in Burma

Bei dem Autor des Zitats handelt es sich um Ernst Lothar Hoffmann (1898 - 1985), besser bekannt unter seinem Ordensnamen Lama Anagarika Govinda. Es sind die einleitenden Sätze seines Buchs 'Die psychologische Haltung der frühbuddhistischen Philosophie', 1962 im Rascher-Verlag veröffentlicht. Der dort veröffentlichte Text beruht jedoch auf älterem Material, nämlich auf Vorlesungen, die Anagarika Govinda 1936 und 1937 als Lektor an der Universität von Patna hielt.

Warum gerade dieses Zitat? Weil es in sehr deutlicher Sprache und kluger Formulierung aufzeigt, dass die Achtung vor anderen Religionen sich im Respektieren, ja in der Wertschätzung ihres Anders-Seins zeigt.

EIGENGESETZLICHKEIT DES RELIGIÖSEN LEBENS

Religionen werden nicht «gemacht». Sie sind der formale Ausdruck überindividueller, durch lange Zeiträume sich kristallisierender innerer Erfahrung. Sie tragen den Charakter einer höheren Gemeinsamkeit, einer Anteilnahme an einem weiteren Bewußtsein. Sie finden ihre entscheidende Ausdrucksform und Verwirklichung in den am höchsten entwickelten und sensitivsten Geistern, welche die Fähigkeit besitzen, am überindividuellen Leben ihrer Mitmenschen (wenn nicht gar der Menschheit) teilzunehmen. Religion ist daher mehr als ein bloßes «kollektives Denken», welch letzteres ein Kennzeichen intellektuell geschaffener und organisierter Massenbewegungen ist und somit nicht einem überindividuellen Bewußtsein angehört, sondern im Gegenteil, der unterindividuellen Stufe der Herdenmentalität.

Religionen aber können nicht intellektuell geschaffen oder gemacht werden, sie wachsen (so wie eine Pflanze wächst) nach gewissen, ihrer Natur entsprechenden Gesetzen: sie sind sozusagen Naturereignisse des Geistes, an denen das Individuum teilnimmt. Die Universalität ihrer Gesetzmäßigkeit bedeutet jedoch nicht die Gleichartigkeit ihrer Auswirkungen, denn dasselbe Gesetz wirkt verschieden unter verschiedenartigen Bedingungen. Wir können daher zwar von einem Parallelismus religiöser Wachstumsvorgänge, und vielleicht sogar von einem Parallelismus religiöser Ideen reden, aber nirgends von einer Identität. Ja, gerade da, wo gleiche Worte oder Symbole verwandt werden, ist der ihnen zugrundeliegende Sinn oft gänzlich verschieden, da die Gleichheit der Form nicht eine Gleichheit des Inhalts garantiert, denn der Sinn jeder Form hängt von den mit ihr verbundenen Assoziationen ab.

Es ist daher ebenso sinnlos, alle Religionen auf den gleichen Nenner bringen zu wollen, wie alle Baume eines Gartens gleichmachen zu wollen oder ihre Verschiedenheiten als Unvollkommenheiten zu erklären. So wie die Schönheit eines Gartens gerade in der Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit seiner Bäume und Blumen besteht, von denen jede ihren eigenen Vollkommenheitsstandard besitzt, so erhält auch der Garten des Geistes seine Schönheit und seinen lebendigen Sinn durch die Vielfältigkeiten und Verschiedenheiten seiner Erlebnis- und Ausdrucksformen. Aber wie alle Bäume eines Gartens aus dem gleichen Boden wachsen, die gleiche Luft atmen und sich der gleichen Sonne entgegenstrecken, so wachsen alle Religionen aus dem gleichen Boden innerer Wirklichkeit und nähren sich von denselben kosmischen Kräften. Hierin liegt ihre Gemeinsamkeit. Ihr Charakter und ihre eigentümliche Schönheit (worin der ihnen innewohnende Wert* besteht), beruht auf jenen Zügen, in denen sie sich voneinander unterscheiden und auf Grund welcher eine jede Art ihre eigene Vollkommenheit besitzt.

Diejenigen, welche die Differenzen der Religionen wegzuerklären versuchen, indem sie dieselben entweder bagatellisieren oder als fehlerhafte Auslegungen und Mißverständnisse bezeichnen, um auf diese Weise zu einer abstrakten Übereinstimmung zu kommen oder zu einer absoluten Einheit, die sie für die einzige Wirklichkeit halten, sind wie Kinder, die die Blütenblätter einer Blume ausrupfen, um zur «wirklichen» Blüte zu gelangen. Wenn eine Anzahl von Künstlern denselben Gegenstand oder dieselbe Landschaft malen, so wird dennoch jeder von ihnen ein anderes Bild schaffen. Wenn aber eine Anzahl von Leuten dasselbe Objekt vom gleichen Standpunkt (und zur gleichen Tageszeit) photographieren würden, so würde jeder von ihnen das gleiche Bild hervorbringen. Diese Gleichheit und Übereinstimmung (in dem wir das Kriterium der Wahrheit sehen), ist nicht ein Zeichen der Überlegenheit, sondern der Abwesenheit schöpferischer Kräfte, ja des Lebens. Die Verschiedenheiten künstlerischer Auffassungen hingegen sind gerade das, was dem Kunstwerk seinen wesentlichen Wert gibt. Einzigkeit und Ursprünglichkeit sind die Kennzeichen des Genius, der Genialität, in allen Lebenssphären. Gleichheit und Standardisierung sind die Kennzeichen der Mechanisierung, der Mittelmäßigkeit und des geistigen Stagnierens.

Wenn wir die Religionen zu den höchsten Errungenschaften der Menschheit zahlen wollen, so müssen wir ihnen die gleichen Privilegien zugestehen, die wir dem schöpferischen Werk eines Genius einzuräumen bereit sind. Auf der anderen Seite müssen wir uns darüber klar sein, daß bloße Verschiedenheiten oder sogenannte Originalität noch kein Beweis für schöpferische Leistung ist, und wir würden uns eines anderen Extrems schuldig machen, wenn wir jegliche Möglichkeit der Übereinstimmung in religiösen Erfahrungen und Formulierungen oder einer die Unterschiede umfassenden Einheit ableugnen wollten. Aber Einheit sollte nie auf Kosten produktiver Verschiedenheit und Lebendigkeit hergestellt werden, sondern durch eine Koordinierung der wesentlichen Differenzen zu einer Harmonie, die stark genug ist, um auch die größten Gegensätze zu überbrücken und zusammenzuhalten.

* den wir mit dem abstrakten Begriff der Wahrheit verwechseln, aus dem sich die ebenso lebensfremden Dogmen der Religionen entwickeln.
Es ist unverkennbar, dass Lama Anagarika Govinda nicht zuletzt auch ein Meister der Sprache war - ein Poet, für den Wahrheit und Schönheit untrennbar waren. Dies wird ganz besonders deutlich, wenn Govinda  bei der Untersuchung der Bewusstseinsklassen des Abhidhamma im Zusammenhang mit den achtzehn Bewusstseinsklassen ohne Wurzelursachen (ahetuka-cittani) insbesondere auf die 18. Klasse hinweist, das von Freude (sukha) begleitete Bewusstsein der Entstehung ästhetischen Genusses (hasituppada). Hier zitiert Govinda einen anderen der frühen 'Brückenbauer', nämlich Bhikku Silacara:
"Die vollkommene Abwesenheit des «Ich», wenn aufrechterhalten, ist Nibbana. Und der Mensch, dem es vergönnt ist, zeitweilig vom «Ich» in der Betrachtung des Schönen befreit zu sein, hat hiermit vorübergehend Nibbana in einer Weise erlebt, die ihn schließlich zum vollständigen, wahrhaften, vollkommenen Nibbana führen könnte. Deshalb behaupte ich, dass Schönheit vielen dazu verhelfen wird, Nibbana zu finden".
Das ist natürlich gut Schopenhauerisch, aber ich war Govinda sehr dankbar für den Hinweis, dass sich zumindest der Ansatz zu diesem Gedanken schon im Abhidhamma finden lässt. Für heute mag ich dies nicht weiter ausführen, da das Thema des Blogeintrags ja doch ein anderes ist - aber ich möchte nicht hier von Lama Anagarika Govinda Abschied nehmen, ohne ein Gedicht aus seinem Buch Mandala  von 1961 zu zitieren - sein vielleicht bekanntestes:

 Dreifach ist des Lebens Rhythmus -
nehmend, gebend, selbstversunken:
Einatmend nehm ich die Welt in mich auf
Ausatmend gebe der Welt ich mich hin,
Leergeworden leb ich mich selbst -
Lebe entselbstet und öffne mich neu.
Einatmend nehm ich die Welt in mir auf
Ausatmend gebe der Welt ich mich hin:
Entleert erleb ich die Fülle,
Entformt erleb ich die Form.

Montag, 1. November 2010

Cittamatra - die ganze Welt ist nur Geist


Es gibt wiederum andere Shramanas und Brahmanen, die anerkennen, dass die äußere Welt, die der Geist selbst ist, aufgrund der Unterscheidung und falschen Auffassung seit anfangslosen Zeiten als solche betrachtet wird; sie wissen, dass die Welt keine eigene Natur hat und niemals entstanden ist: Sie ist wie eine Wolke, ein durch einen Feuerbrand entstandener Ring, das Schloss der Gandharvas, eine Täuschung, eine Luftspiegelung, der sich im Ozean spiegelnde Mond, ein Traum; [sie wissen,] dass der Geist in sich selbst nichts mit Unterscheidung und Verursachung zu tun hat, mit Erklärungen über Vorstellungen, Bezeichnung von Qualitäten; dass die Wohnstatt der körperlichen Freuden [die Sinnenwelt] Objekt des Alayavijnana ist, das selbst getrennt von Subjekt und Objekt ist, dass der Zustand der Truglosigkeit, der dem Erwachen des Geistes selbst folgt, ohne Entstehen, Existieren und Vernichten ist.
(Lankavatara-Sutra, Übersetzung Karl-Heinz Golzio)

DaHui ZongGao - Brief an den Laien WuXiang (Tokyo National Museum)
MuZhou fragte einmal ShengZheng: "Hältst du Vorlesungen über die Vijnaptimatra-Philosophie?" Darauf Zheng: "Nicht sonderlich oft Meister, aber als ich noch jung war, habe ich sie ein wenig studiert." MuZhou nahm sich ein Stück Zuckergebäck, teilte es in zwei Hälften und sprach: "Was sagst du dazu?" Zheng gab keine Antwort, worauf Zhou fragte: "Soll man dies Zuckergebäck nennen? Oder soll man es nicht so nennen?" Zheng: "Es gibt keine andere Möglichkeit, als es Zuckergebäck zu nennen." MuZhou rief nun einen jungen Mönch, der ihm aufwartete, herein und fragte ihn: "Wie nennst du dies?" Darauf der junge Novize: "Zuckergebäck, Meister." Zhou: "Auch du kannst Vorlesungen über die Vijnaptimatra-Philosophie halten."

DaHui kommentierte dies: "ShengZheng und der junge Novize, beide können sie hervorragende Vorlesungen über die  Vijnaptimatra-Philosophie halten, nur weiß weder der Eine noch der Andere, wo Zuckergebäck herkommt. Was den alten Meister, MuZhou selbst, betrifft, so ist er in der Tat ein Zen-Experte, aber von der Vijnaptimatra- oder Cittamatra-Philosophie hat er nicht die geringste Ahnung."

(DaHui YuLu, Taisho 47:816a)

DaHui ZongGao (1089-1163) ist in der Rinzai-Schule von immenser Bedeutung; auf ihn geht die Zenpraxis des Erweckens des großen Zweifels und der Koan-Arbeit zurück, die Hakuin ein halbes Jahrtausend später aufgreifen und reformieren sollte. Verbunden war das Propagieren seiner Methode mit heftigen Angriffen auf die klassische Zazen-Praxis des 'stillen Erwachens' (MoZhao Chan). Da überrascht es nicht, dass Dogen DaHui nicht sonderlich schätzte und ihn des öfteren mit ätzender Kritik bedachte (insbesondere in den Shobogenzo-Kapiteln Sesshin Sesshô, Jisho Zammai und Jinshin Inga). Kurioserweise (und sicher nicht ganz unbeabsichtigt) tragen die Hauptwerke beider Zenmeister denselben Titel: DaHuis Sammlung von 661 kommentierten Koan heisst ZengFaYanZang (正法眼藏) - auf Japanisch Shôbôgenzô.

Dass DaHui ZongGao eine Anekdote über MuZhou DaoMing (780-877) aufgreift, ist nachvollziehbar, ist dieser doch ein enger Verwandter seiner eigenen Linie. MuZhou war Schüler Huangbo Xiyuns und damit ein älterer Dharmabruder LinJi YiXuans (jap. Rinzai Gigen), den er als Novizen unter seine Fittiche nahm. Er steht in der Rückschau etwas im Schatten seines jüngeren Dharmabruders - vielleicht auch, weil er seinen wohl talentiertesten Schüler YunMen WenYan (jap. Ummon) an seinen Kollegen XueFeng YiCun verwies, dessen Linie YunMen dann so großartig weiterführen sollte. Allerdings erst, nachdem ihm MuZhou zu einer initialisierenden Erleuchtung verholfen hatte, indem er ihm ein Bein brach ....  Über MuZhous gelehrten Gesprächspartner ShengZheng konnte ich nichts weiter ausfindig machen.

Bei aller Kritik Dogens - was die Vijnaptimatra / Cittamatra-Philosophie angeht, so scheint mir DaHui jedenfalls in bemerkenswerter Weise mit einem sehr viel älteren Dharma-Vorfahren auf einer Linie zu liegen, nämlich mit dem 13. indischen Patriarchen Nagarjuna:


cittamatram idam sarvam iti ya desana muneh
uttrasapariharartham balanam sa na tattvatah

Des Weisen Lehre "Die ganze Welt ist nur Geist" 
ist dazu gedacht, den Einfältigen die Angst zu nehmen.
Es ist keine Lehre, die sich mit der Wirklichkeit befasst.
(Bodhicittavivarana, shloka 27)

Dienstag, 19. Oktober 2010

Wie man sich ins eigene Fleisch schneidet

... ohne es zu merken.

Eine Sache, die mich in Bezug auf den Buddhadharma immer wieder beschäftigt, ist seine Inkulturation im Westen. Nicht ganz unerheblich dabei ist der Aspekt,  welche institutionellen Bedingungen geeignet wären, die Übermittlung des Buddhadharma im Westen zu fördern.


Voraussetzung für deren Schaffung ist natürlich ein offener Diskurs, der nicht nur die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen im Westen - bzw. grundsätzlich die einer globalisierten, sich zunehmend vereinheitlichenden Welt - in Betracht zieht, sondern der auch die Formen und Institutionen traditioneller Vermittlung des Buddhadharma auf den Prüfstand der Kritik stellt. Gerade hier sehe ich noch große Defizite. Diese sind leicht erklärlich, galt es doch in der Vergangenheit hauptsächlich, dem Anspruch des Christentums und seiner Vertreter auf nicht nur religiöse sondern auch kulturelle und moralische Überlegenheit apologetisch zu begegnen. Trotzdem müssen westliche Buddhisten sich einer solchen Auseinandersetzung stellen, wenn der Buddhadharma im Westen gedeihen soll. Dies wird und kann er nämlich nur, wenn er sich von den erwähnten Formen und Institutionen emanzipiert - wenn er nicht nur wächst, sondern auch erwachsen wird. Nach meiner Einschätzung ist der Prozess, den naiv-schwärmerischen Blick auf den asiatischen Buddhismus durch eine kritische Sicht (selbstverständlich aus buddhistischer Perspektive) zu ersetzen, noch in seinem Anfangsstadium und er stößt unter westlichen Buddhisten auf viel Skepsis wenn nicht gar Unverständnis. Doch dieser Prozess ist notwendig, wenn der Buddhadharma in einer modernen, durch die westliche Aufklärung geprägten Gesellschaft kein Fremdkörper mit vorhersehbarem Verfallsdatum sein soll - und vor allem ist er notwendig, wenn er im Wettstreit der Ideologien und Weltanschauungen nicht nur bestehen, sondern auch gesellschaftliche und politische Wirksamkeit entfalten soll.

Ich rede dabei keiner bedingungs- und besinnungslosen Modernisierung, keinem Bildersturm das Wort, sondern vielmehr einer kritischen Überprüfung im Sinne des Kalamer-Sutta: erkennen, was heilsam und untadelig ist, von Verständigen gepriesen wird (man soll die Stimmen wägen und nicht zählen, wie es Friedrich Schiller formulierte) und, wenn ausgeführt und unternommen, zu Segen und Wohl führt. Dies soll man sich zu eigen machen. Nach eben diesen Kriterien gilt es, Form und Gestalt der überlieferten Traditionen zu prüfen und ihre Zweckmäßigkeit unter den Bedingungen einer modernen westlichen Kultur zu beurteilen. Dabei sollte man selbstverständlich differenzieren, denn Vieles hat sich in seiner didaktischen Funktion bewährt, wenn auch vor einem anderem kulturellen Hintergrund. Man sollte dabei nicht in das Extrem verfallen, die importierte Tradition gänzlich zu entwurzeln. Ein verpflanzter Schößling ohne Wurzeln wird kaum gedeihen, sondern unweigerlich eingehen.Was jedoch auf Dauer ebenfalls nicht gedeihen wird, das sind bloße Filialen asiatischer religiöser Organisationen, die ohne Anpassung ihrer Strukturen letzlich Fremdkörper in unserer Kultur bleiben müssen.

Gerade in Hinsicht auf die Institutionen, in denen sich die vierfache Gemeinschaft aus Laien und Ordinierten beiderlei Geschlechts organisiert, kann der Blick auf andere, bereits etablierte religiöse Gemeinschaften - namentlich die christlichen Kirchen - durchaus hilfreich sein. Weniger im Hinblick darauf, wie dort eine ökonomische Basis zum einen Studium und Lehre auf hohem Niveau und zum anderen eine breite Wirksamkeit in die Gesellschaft hinein - und damit auch politischen Einfluss - gewährleistet. Die historischen Voraussetzungen, unter denen diese Basis entstand, sind (glücklicherweise, muss man im Hinblick auf Gedanken- und Religionsfreiheit sagen) nicht reproduzierbar. Eher gilt dies im Hinblick auf die Aufgabenteilung zwischen Klerikern und Laien, nicht zuletzt die Verfasstheit der Laien in Diözesanräten (katholische Kirche) und Synoden (evangelische Kirchen).  Die so oft wegen ihrer hierarchischen Struktur gescholtenen christlichen Kirchen sind, was Mitwirkungs- und Mitspracherechte der Laien angeht, vielen buddhistischen Gemeinschaften weit voraus.

Welche Ansätze auch immer man verfolgen will - Voraussetzung jeglicher eigenständigen Entwicklung ist zunächst die Vernetzung der unterschiedlichen buddhistischen Gemeinschaften und die Bündelung von Aktivitäten, ihre Zusammenfassung zu einem größeren Ganzen. Es kann dabei nicht nur um eine rein quantitative Summation gehen; Ziel muss selbstverständlich sein, durch diese Zusammenfassung auch qualitativ neue Perspektiven für ein spürbares Wirken, für einen Beitrag buddhistischer Gemeinschaften zu unserer Kultur und Gesellschaft zu eröffnen.

Eben dies hat sich die Deutsche Buddhistische Union (DBU) zur Aufgabe gemacht. Ob allerdings die von ihr seit einigen Jahren wieder verstärkt verfolgte Absicht, eine staatliche Anerkennung der DBU als Körperschaft des öffentlichen Rechts durchzusetzen, dabei eine richtige und begrüßenswerte Strategie ist, kann nach meiner Auffassung durchaus bezweifelt werden. Bei allen Vorteilen, die dieser Status zweifellos bietet. Da orientiert man sich nach meinem Empfinden doch zu sehr an den christlichen Kirchen und deren öffentlich-rechtlichem Status als (spezifisch deutsches) Relikt vergangener Staatskirchenherrlichkeit. Die Bedenken sind zunächst grundsätzlicher Natur: eine als Verein verfasste Gemeinschaft (wie es die DBU derzeit noch ist) beruht auf privatrechtlicher Autonomie; sie ist im eigentlichen Sinn des Wortes Privatsache ihrer Mitglieder. Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts beruht hingegen auf einem staats- und verwaltungsrechtlichen Hoheitsakt. Dieser Status wird von staatlicher Seite verliehen; die Körperschaft ist rechtlich nicht autonom. Sie ist trotz staatlich garantiertem kirchlichem Selbstbestimmungsrecht Träger hoheitlicher Funktionen und nimmt eine öffentliche Aufgabe wahr; ist dafür privilegierter Teil des Systems. Was dies für 'Kirchen' (auch für buddhistische) konkret bedeuten kann und immer wieder bedeutet hat, lehrt uns die historische Erfahrung zur Genüge.

Ich persönlich halte die Trennung von Staat und Kirche für eine der wichtigsten Errungenschaften der Aufklärung und damit der modernen westlichen Kultur - und ich halte es für einen historischen Unglücksfall, dass diese Trennung in Deutschland nur halbherzig und unzureichend vollzogen wurde; dass in Deutschland zwar keine Staatskirche mehr, aber immer noch ein Staatskirchenrecht existiert. So schreibt der emeritierte Rechts- und Religionssoziologe Prof. Dr. Johannes Neumann sehr treffend: "Körperschaftscharakter, Besteuerungsrecht und der Religionsunterricht der traditionellen Kirchen als ordentliches Lehrfach ließen die Interpretation zu, die Kirchen mit dem Charakter einer Körperschaft des öffentlichen Rechts würden von Verfassungs wegen gegenüber anderen Religionsgesellschaften bevorzugt. Das führte dazu, dass sie tatsächlich eine alle anderen religiös-weltanschaulichen Gruppen überragende rechtliche Position erhielten. Dabei wurden die verfassungsmäßigen Rechte der kleineren Religions- und Weltanschauungsgesellschaften nicht selten gravierend verletzt, obwohl es in der Verfassung keinen einzigen Anhalt dafür gibt, dass die Kirchen irgendwie zu bevorzugen wären. Die kirchenpolitischen Realitäten verwandelten den theoretisch gepriesenen Grundsatz der Parität tatsächlich in Disparität."

De facto privilegiert dieses Staatskirchenrecht speziell die 'alteingesessenen' christlichen Kirchen mit der Absicht, ihren Besitzstand zu sichern. Dass andere religiöse Gemeinschaften als die etablierten christlichen Kirchen bei Erfüllung der durchaus hoch angesetzten Voraussetzungen den gleichen Status erhalten können, ist nichts als ein juristisches (und verfassungsrechtlich notwendiges) Feigenblatt. Eine Gemeinschaft wie die DBU (sollte sie denn eine Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft erlangen) kann und wird bei weitem nicht den Nutzen aus diesem Status ziehen wie die christlichen Kirchen. Und wird es hoffentlich auch nicht wollen. Die DBU wirkt jedoch mit ihren Bestrebungen um Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Konsequenz vor allem an der Legitimation von Rechtsprivilegien mit, deren Abschaffung längst überfällig ist - und die nicht zuletzt gerade Mitglieder der DBU (vor allem solche, die in sozialen Berufen und im Gesundheitsbereich tätig sind) benachteiligen.

Meiner persönlichen Auffassung nach ist es nur logisch und konsequent, sich als Angehöriger einer nicht-privilegierten Religionsgemeinschaft oder als Nicht-Religiöser für die Abschaffung dieser Relikte aus der Zeit der Staatskirchen einzusetzen, also für eine konsequente Trennung von Staat und Kirche anstatt für eine im Umfang vergleichsweise ohnehin eher kümmerliche und mehr nominelle Teilhabe an solchen Privilegien. Von welchen Privilegien ist hier konkret die Rede? Vor allem wäre hier das Privileg der Dienstherrenfähigkeit zu nennen, das den als Körperschaft anerkannten Kirchen das Recht einräumt, nach eigenem Gusto Dienstverhältnisse zu begründen, die weder dem privaten Arbeitsrecht noch dem staatlichen Beamtenrecht unterliegen. Spürbar wird dies vor allem bei Krankenhäusern, Kindergärten und anderen sozialen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft. Bei ihnen handelt es sich um sog. Tendenzbetriebe, in denen die Diskriminierung von Menschen auf Grund ihrer Religion gesetzlich ausdrücklich erlaubt ist. Das steht natürlich im Widerspruch zum Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes (das freilich gesetzlich eingeschränkt werden darf und auch wird) und nicht zuletzt auch im Widerspruch zum EU-Recht - konkret diversen Antidiskriminierungsrichtlinien (vgl. hier, hier, hier und hier), bei deren Umsetzung unsere Regierung regelmäßig die vom Europaparlament gesetzten Fristen verstreichen ließ und sich damit diverse Vertragsverletzungsverfahren und Verurteilungen vor dem Europäischen Gerichtshof eingehandelt hat (EuGH Az. C-329/04  und C-43/05). Man kann unschwer erraten, welche Lobby da regelmäßig den Bremser gespielt hat.

Es hat bis zum August 2006 gedauert, bis die einschlägigen EU-Richtlinien verspätet mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) umgesetzt wurden. Und in diesem Gesetz gibt es - wen überrascht es - natürlich eine Ausnahmeregelung, die sog. Kirchenklausel in § 9 (Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung). Religiöse Diskriminierung ist nach deutschem Recht erlaubt, weil "eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften" "zulässig" ist, "wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft" "im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht" "eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt." Vereinfacht gesagt: wenn nach dem Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft in ihren Betrieben nur Angehörige der eigenen Religion arbeiten sollten, dann ist das eine gerechtfertigte berufliche Anforderung. Dann genügt es zur Erfüllung der Anforderung für eine bestimmte Stelle eben nicht, Erzieherin oder Sozialarbeiter zu sein, sondern man muss evangelische Erzieherin oder katholischer Sozialarbeiter sein.

So heisst es beispielsweise in der Präambel des Kirchengesetzes über die Mitarbeitervertretungen der EKD: "Kirchlicher Dienst ist durch den Auftrag bestimmt, das Evangelium in Wort und Tat zu verkündigen. Alle Männer und Frauen, die beruflich in Kirche und Diakonie tätig sind, wirken als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Erfüllung dieses Auftrages mit. Die gemeinsame Verantwortung für den Dienst der Kirche und ihrer Diakonie verbindet Dienststellenleitungen und Mitarbeiter wie Mitarbeiterinnen zu einer Dienstgemeinschaft und verpflichtet sie zu vertrauensvoller Zusammenarbeit." - und verdeutlichend stellt die EKD klar: "Damit ist grundsätzlich jeder Dienst in Kirche und Diakonie von der kirchlichen Aufgabenstellung her geprägt." - und wer es immer noch nicht so recht verstehen will: "Im Grundsatz darf in den kirchlichen Dienst nur eingestellt werden, wer Mitglied einer Gliedkirche der EKD ist. Davon gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel können muslimische Küchen- und Raumpflegekräfte in Kindergärten eingestellt werden."

Also, Putze ist o.k. - als Ausnahme(!) mit entsprechender kirchenaufsichtlicher Genehmigung. Als Erzieherin ist eine Muslima (oder Buddhistin) hingegen grundsätzlich nicht tragbar. Übrigens - von den arbeitsrechtlichen Privilegien einmal abgesehen -  können Eltern auch kein Recht auf Aufnahme ihres Kindes in einen kirchlichen Kindergarten geltend machen. Über die Aufnahme entscheidet der kirchliche Träger in eigener Verantwortung - Rechtsanspruch auf Kindergarten hin oder her. Wenn man nun sich noch klar macht, dass in Deutschland zwei Drittel(!) der Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft sind, dann wird schon deutlich, mit welchen Problemen nicht-christliche Eltern insbesondere auf dem Land konfrontiert sind. Da gibt es in der Regel nur den kirchlichen Kindergarten; oft nur einen für mehrere Dörfer. Falls nun jemand meinen sollte, Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft würden ja von den Kirchen (womöglich über die Kirchensteuer) finanziert und daher seien solche Privilegien zumindest verständlich wenn nicht gar gerechtfertigt, so irrt sich der. Die kirchlichen Tendenzbetriebe finanzieren sich genau wie alle anderen Krankenhäuser, Altenheime, Kindergärten usw. durch ihre Einnahmen und durch Zuschüsse der öffentlichen Hand. Also durch Steuergelder, die jeder Steuerzahler, gleich ob Christ, Muslim, Buddhist oder Atheist aufzubringen hat. Auch wenn er dort ggf. trotz fachlicher Qualifikation wegen mangelnder religiöser Qualifikation nicht arbeiten darf. Was wiederum nun auch kein ganz ungetrübtes Vergnügen ist, denn in kirchlichen Tendenzbetrieben gilt ja auch kein Betriebsverfassungsgesetz und kein Personalvertretungsgesetz - allenfalls ein von den Kirchen selbstgebasteltes Kirchenarbeitsrecht. Und wer da am längeren Hebel sitzt, dürfte klar sein; das ist, als wenn der Arbeitgeberverband das Betriebsverfassungsgesetz beraten und verabschiedet hätte und nicht der Bundestag. Ansonsten werden kirchliche Tendenzbetriebe schon längst wie ganz normale Unternehmen geführt - nämlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Und gerade die arbeitsrechtlichen Privilegien dieser Betriebe sind Gesichtspunkte von nicht unerheblicher wirtschaftlicher Bedeutung.

Dass da nun manche Leute der Ansicht sind, die Antidiskriminierungsrichtlinien der EU seien in Deutschland mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)  von 2006 eben nicht ausreichend umgesetzt, darf da nicht verwundern. Solche Zustände werden auch nicht abgeschafft, wenn sich Verbände nichtchristlicher Religionsangehöriger wie beispielsweise die DBU um einen rechtlich gleichen Status wie die Kirchen bemühen - selbst wenn es dann auf einmal Tendenzbetriebe gäbe, die nun nur noch Buddhisten beschäftigen wollen, was wohl kaum der Fall sein wird. Im Gegenteil - damit demonstriert die DBU lediglich, dass sie religiöse Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt akzeptiert und gut heisst. Dass ihr "Augenhöhe" mit solchen Organisationen wichtiger ist als die Beseitigung legaler Diskriminierung aufgrund des religiösen Bekenntnisses.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Abschied vom Sommer

Nördlich des Höhenzuges zwischen Ellerspring und Opel, den höchsten Erhebungen des 'Großen Soon', liegt inmitten des jetzt seine Herbstfärbung annehmenden Waldes eine eigenartige, fast ebene Parklandschaft - die Glashütter Wiese.



Geologisch gesehen handelt es sich um eine Mulde zwischen den nördlichen und mittleren aus Taunusquarzit bestehenden Höhenzügen des Soonwaldes im Südosten des Hunsrücks. In den Eiszeiten wurde diese Mulde mit steinigen und schlammigen Verwitterungsmassen aufgefüllt, hinzu kam angewehter Löß. Das Wasser verschiedener Quellen und des Gräfenbachs sorgt für stetige Feuchte des moorigen Bodens aus Tonschiefer und Staublehm.

Ursprünglich standen hier wohl Buchen und am Lauf des Gräfenbachs Erlen und Birkenbrüche. Um 1700 legten die Herzöge von Simmern hier einen Tiergarten an; 1707 folgte eine Glashütte, die das örtlich vorhandene Holz als Rohstoff für Pottasche und zum Betrieb des Glasofens nutzte. Für Tiergarten und Glashütte wurden etwa 1.000 Morgen Wald gerodet. Schon 1720 wurde die Produktion wieder eingestellt. Aus den gerodeten Flächen wurden Wiesen und Viehweiden, bis der Staat 1899 die letzten Waldbauern vertrieb.

Heute sind noch etwa 300 Morgen dieser naturnahen Kulturlandschaft übrig, sie gehören dem Land. Goldhafer-Bergwiesen an trockeneren Standorten wechseln sich mit Sumpfdotterblumen-Wiesen und Waldbinsen-Sümpfen ab. Hier weidet vor allem das Rotwild. Auf den noch von einem Bioland-Betrieb als Viehweide genutzten Flächen sind hingegen Weidelgras-Weißklee-Weiden und Binsen-Pfeifengraswiesen entstanden. Die Wiesen sind mit alten Eichen, Buchen und Roßkastanien durchsetzt, an den feuchteren Stellen finden sich Gehölze mit Eschen, Schwarzerlen und Birken. Umrahmt wird die Wiese  von Buchen-Eichen-Mischwäldern und Birkenbrüchen, die derzeit ihre schönste Färbung haben - grüngesprenkeltes Gold. Im Süden stehen dunkle Fichten.

Im Frühjahr und Sommer blüht hier die Arnika - neben vielen anderen Wiesenblumen. Doch am liebsten bin ich jetzt, in dieser Jahreszeit dort, wenn der Sommer mit der Herbstzeitlose Abschied nimmt.


Herbstzeitlosen

Für uns, denen der Pfosten der Tür verbrannt ist,
an dem die Jahre der Kindheit
Zentimeter für Zentimeter
eingetragen waren.

Die wir keinen Baum
in unseren Garten pflanzten,
um den Stuhl
in seinen wachsenden Schatten zu stellen.

Die wir am Hügel niedersetzen
als seien wir zu Hirten bestellt
der Wolkenschafe, die auf der blauen
Weide über den Ulmen dahinziehn.

Für uns, die stets unterwegs sind
- lebenslängliche Reise,
wie zwischen Planeten -
nach einem neuen Beginn.

Für uns
stehen die Herbstzeitlosen auf
in den braunen Wiesen des Sommers,
und der Wald füllt sich
mit Brombeeren und Hagebutten -

Damit wir in den Spiegel sehen
und es lernen
unser Gesicht zu lesen,
in dem die Ankunft
sich langsam entblößt.


Für Hilde Domin und manche ihrer Leser mag dies ein Gedicht sein, das Heimatverlust thematisiert. Ein 'Exilgedicht'. Für mich beschreibt es nur das Wandern auf dem Weg - und dieser Weg führt nicht ins Exil und auch nicht heraus. Es ist nur ein Weg - und einen Weg zu gehen heisst, Dinge los- und hinter sich zu lassen.

Nur der Weg und die Bäume und Blumen am Rande. Und die Wiesen, in denen die Herbstzeitlose blüht - noch sind sie nicht braun ...

Samstag, 25. September 2010

Maras schöne Töchter

Offensichtlich gibt es etwas, das uns daran hindert, unsere wahre Natur (von der uns versichert wird, sie sei erleuchtet) zu sehen. Im Buddhadharma nennt man dies die zehn Fesseln wie sie z.B. im Sanyojana Sutta (AN.X.13) aufgezählt werden.




"Zehn Fesseln gibt es, ihr Mönche. Welche zehn? Die fünf niederen Fesseln und die fünf höheren Fesseln.
Welches aber sind die fünf niederen Fesseln?
  1. Persönlichkeitsglaube,
  2. Zweifelsucht,
  3. Hängen an Regeln und Riten,
  4. Sinnenlust und
  5. Haß.
Welches aber sind die fünf höheren Fesseln?
  1. Begehren nach feinkörperlichem Dasein,
  2. Begehren nach unkörperlichem Dasein.
  3. Dünkel,
  4. Aufgeregtheit und
  5. Unwissenheit."
Die zehnte Fessel Unwissenheit (Avidya) ist die Wurzel aller anderen. Avidya ist Nicht-Wissen der vier edlen Wahrheiten und der achtfache Pfad ist die Methode zum Lösen dieser Fesseln und der Weg zum Wissen, zu Prajna. Restlose Überwindung von Avidya ist höchste Erleuchtung, ist Anuttara Samyak Sambodhi.

Ein einfacheres Modell als das der zehn Fesseln gibt uns die Allegorie der drei Töchter Maras, des 'Versuchers', die das Erwachen Buddhas zu hindern suchen: Tanha - der Durst, Raga - Verlangen und Arati - Ablehnung. Der älteste Bericht über den 'Kampf' Buddhas mit Mara (Mara-yuddha), eine bemerkeswerte Parallele zur Versuchung des Rabbi Jeschua in den synoptischen Evangelien (Mt 4,1-11 / Mk 1,12-13 / Lk 4,1-13), ist wohl das Padhana-Sutta (Khuddaka Nikaya, Sutta Nipata III,2), in dem Maras Töchter noch nicht auftreten. Sehr breit geschildert wird der Mara-yuddha dann im Mara-Samyutta (Samyutta Nikaya 4). Eine weitere Ausschmückung der Allegorie findet sich dann im Lalitavistara und in Asvagoshas Buddhacarita-Dichtung (Buddhacarita-kavya-sutra XIII), wo zu den drei Töchtern auch noch drei Söhne Maras hinzutreten - was die Geschichte erfreulichweise etwas weniger misogyn erscheinen lässt. Eine weitere (und dann wohl kaum noch zu überbietende) Steigerung in der Darstellung des Mara-yuddha wäre zweifellos Richard Wagner gelungen, wenn er nach Abschluss des Parsifal nicht sein Projekt einer buddhistischen Oper, Die Sieger, aufgegeben hätte. Bei aller Wertschätzung der Musik Wagners – es ist wohl besser so …

Bleiben wir bei den Töchtern, die als allegorische Figuren natürlich 'sprechende' Namen tragen. Dabei ist Tanha das Verlangen nach angenehmen sinnlichen Erfahrungen; Raga ist der Wunsch zu werden, Ziele zu erreichen, Anerkennung und Ruhm zu finden. Arati ist der Wunsch, unangenehmen Erfahrungen zu entgehen. Alle drei sind sie verschiedene Formen von Verlangen, von Durst in zunehmender Subtilität: Kama-Tanha, Bhava-Tanha und Vibhava-Tanha.

Ihr gemeinsamer Oberbegriff ist Samudaya, meist als 'Ursache des Leidens (Duhkha)' übersetzt. Samudaya ist das, was mit Duhkha untrennbar verbunden ist – das 'Mitaufsteigende' ('sam' = mit, 'du' = auf). Ohne Samudaya kein Duhkha und umgekehrt. Im Grunde ist Samudaya Unterscheiden, Messen, Werten und dies ist wiederum nichts Anderes als das Aufsteigen von Gier und Hass, Zu- und Abneigung, Lust und Unlust. Im Xinxin Ming, einem Gedicht des dritten Zen-Patriarchen Jianzhi Sengcan heisst es:
"Der höchste Weg ist gar nicht schwer,
Nur abhold wählerischer Wahl.
Wo weder Liebe noch Haß,
Ist alles offen und klar."

Was hier mit 'der höchste Weg' übersetzt wird, schreibt sich im Original mit den Schriftzeichen 'zhì' und 'dào'. 'Zhì' steht für 'erlangen, ankommen' oder aber als Ausdruck für ein Extrem oder Höchstmass. 'Zhìdào' könnte also auch mit 'das Erlangen des Weges' übersetzt werden. 'Dào' steht übrigens nicht nur für Pfad/Weg/Straße, sondern auch für Methode. Im klassischen chinesischen (durch den Daoismus geprägten) Verständnis ist 'dào' eben nicht nur eine Art 'Weltgesetz', sondern auch die richtige Methode, ein Leben entsprechend diesem Weltgesetz zu führen. Dies entspricht dem buddhistischen Verständnis von 'Dharma' als einer Lehre, die nicht nur das 'Funktionieren' des Seins erklärt , sondern eben auch eine praktische Methode lehrt, in diesem Sein in leidfreier Harmonie aufzugehen. In späteren chinesischen Übersetzungen buddhistischer Texte wird 'Dharma' auch bevorzugt mit 'fá' statt mit 'dào' übersetzt - bei 'fá' ist die Bedeutung 'Methode' noch stärker im Vordergrund. Ansonsten wird 'Dharma' - um sich gegen den Daoismus abzugrenzen - statt nur mit 'dào' oder 'fá' häufig auch mit 'fódào' übersetzt, 'Buddhaweg'. 'Zhìdào' steht hier (in Sengcans Xìxinming) für 'ultimative, höchste Wahrheit' bzw. für das Erwachen zu ihr. Etwas unmissverständlicher könnte man übersetzen: "Das Erwachen zur höchsten Wahrheit ist nicht schwer" ;-)

Was im Xinxin Ming häufig missverstanden wird, ist das "weder Liebe noch Hass" – nämlich in dem Sinn, als würde im Zen eine Art gleichgültiger Emotionslosigkeit gefordert; nicht nur Freiheit von Hass, sondern auch gefühlskalte Lieblosigkeit. Nichts könnte verkehrter sein.

Die dritte der (aus vier Schriftzeichen bestehenden) Zeilen dieses Gedichts liest sich 'dàn mò zêngài': nur/aber/doch - nicht/tue nicht - hassen/verabscheuen - lieben/mögen. 'Zêngài', also die Kombination dieser beiden Schriftzeichen, ist wiederum eigentlich ein buddhistischer Fachbegriff, er steht für 'Hass und Gier' (sanskrit lobha und dosa), die aus Unwissenheit entstehenden Ursachen (samudaya) des Leidens (duhkha) – also die zweite edle Wahrheit der Lehre Buddhas. 'Liebe' ist in diesem Zusammenhang also eine unkorrekte Übersetzung, gemeint ist Gier im Sinne von mit Anhaftung verbundener, ich-bezogener (Vor-)Liebe. Liebende Güte und Mitgefühl (maitri und karuna) im buddhistischen Sinne schließt dieses "weder Liebe noch Hass" selbstverständlich nicht aus.

Richtig schwierig wird es übrigens mit der nächsten Zeile: 'dòng rán mínbái'. 'Dòng' bedeutet 'Höhle', aber auch durchschauen, wissen. 'Rán' bedeutet 'auf diese Art, mit Sicherheit', 'mínbái' wiederum (zusammengesetzt aus den Zeichen für hell/leuchtend/klar und für weiss/rein) bedeutet 'erleuchten, leuchten, hell sein'. Also: "auf diese Art wird unweigerlich die (dunkle) Höhle deines Wissens erleuchtet".

Während es ohne Weiteres einleuchtet, dass die Übung des achtfachen Pfades nicht sinnlichen Erfahrungen dient, so ist Maras zweite Tochter für den Übenden schon schwieriger zurückzuweisen. Wohl jeder kennt z.B. den Wunsch nach Anerkennung - kennt den Wunsch, die eigene Übung und Tiefe des Erkennens anerkannt zu sehen, sei es durch die Mitübenden oder durch den Lehrer. Dogen Zenji nennt dies "in die Grube von Ruhm und Gewinn fallen". Dies ist nichts anderes als Raga, Bhava-Tanha. Der Wunsch nach einem 'Werden' ist im tiefsten Grunde der nach einem ewigen 'Sein'.

Eine noch subtilere Falle ist nun Arati/Vibhava-Tanha, den man zu Recht einen Vernichtungswillen nennen kann. Dabei kann der Vernichtungswille auf die als leidhaft erfahrenen Objekte gerichtet sein oder scheinbar tiefergehend auf das Subjekt der Erfahrung, so dass dann von einem 'Selbstvernichtungsbegehren' gesprochen werden könnte. Doch ist dies nur eine künstliche Unterscheidung – konkret existent sind weder Subjekt noch Objekt als voneinander getrennte Dinge; konkret existent ist lediglich die beides umfassende Erfahrung, auf die der Vernichtungswille gerichtet ist. Vibhava-Tanha ist die ins Negative gewendete Gier - eine Gier, die sich durchaus auch auf das Erwachen oder auf Nirvana richten kann.

Ohne Aufgabe und Loslassen des Wunsches nach Weltüberwindung, nach persönlicher Überwindung von Duhkha und von Avidya, erfüllt sich jedoch dieser Wunsch nicht. Dies ist der eigentliche Kern der Lehre vom mittleren Weg – die Übung nicht auf ein 'Sein' bzw. 'Werden' zu richten, aber auch nicht auf ein 'Nicht-Sein' / 'Beenden'. Bodhidharma bringt diesen zweiten Aspekt überraschenderweise direkt mit dem Übungsfeld ethischer Lebensführung in Verbindung, speziell mit der ersten Shila:
"Die Selbstnatur ist auf geheimnisvolle Weise tief - die Sicht von Anhalten und Auslöschen nicht aufsteigen zu lassen wird in der Wahrheit des Dharma 'das Gelübde, kein Leben zu töten' genannt."
Daher ist die höchste Übung des achtfachen Pfades zweckfrei, ohne Ziel und ohne Absicht. Wenn wir diese Freiheit von allen Zielen und Absichten im reinen Sitzen, im Shikantaza, verwirklichen, dann ist die Übung selbst das Erwachen

Mittwoch, 15. September 2010

Führer gesucht

Ich fürchte nicht die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern die Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.
(Theodor W. Adorno) 

Zunächst - einen Glückwunsch. Die großartige Jessye Norman feiert heute ihren 65. Geburtstag. Und weil ein anderer 'runder' Geburtstag (Gustav Mahlers 150.) in meinen Urlaub fiel und daher hier keine Erwähnung fand, singt sie hier Gustav Mahlers Rückert-Lied Nr. 3:



Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben,
Sie hat so lange nichts von mir vernommen,
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
Ob sie mich für gestorben hält,
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
Und ruh' in einem stillen Gebiet!
Ich leb' allein in meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied!
Brava, Jessye!

Auch wenn es vielleicht etwas beliebig erscheinen mag - aber es ist nicht ganz zufällig, dass der heutige Eintrag zunächst einer afroamerikanischen Sängerin gewidmet ist, die hier von einem indischen Dirigenten begleitet wird. Das gilt auch für die Textauswahl - eines von Friedrich Rückerts besseren Gedichten. Wobei  in Hinsicht auf das Folgende hinzuzufügen wäre, dass eben dies die Stelle einer vierten Strophe einnehmen soll. Der Weg des Zen mag zum Rückzug aus der Welt führen - aber wenn er authentisch ist, führt er von dort auch wieder  mitten in sie hinein. Schmutzbedeckt und mit Asche beschmiert auf den Marktplatz.

Weniger mit dem Folgenden hat dieser Link zu tun, aber doch mit dem Lied. Eine interessante Geschichte ist es allemal.

Ein wenig meiner Freizeit ist auch dem Gesang gewidmet; ich singe im Männergesangverein meines Dorfes mehr schlecht als recht im 2. Tenor. Jedenfalls - so kommt es, dass ich gelegentlich in unserer Dorfkirche am (evangelischen) Gottesdienst als Gast teilnehme. So auch diesen Sonntag, wo aus Anlass des Tags des offenen Denkmals ein besonderer Gottesdienst mit anschließender Verköstigung stattfand, um möglichst viele Besucher anzuziehen und zur Unterstützung des Fördervereins zur Sanierung unserer  sehr schönen spätgotischen Kirche zu gewinnen. Wir sangen eine deutsche Chorbearbeitung von Edward Elgars berühmten 1. Marsch aus 'Pomp and Circumstance' ("Menschen der Erde, reicht Euch die Hand ...") und passend dazu (oder umgekehrt) sprach der Pfarrer über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur und ließ dabei auch ein deutliches Wort darüber fallen, wie die Thesen eines Dr. Sarrazin denn eigentlich mit einem christlichen Menschenbild zu vereinbaren seien (nämlich gar nicht).

Nun - wenn schon der geschätzte christliche Kollege sich zu dem Thema äußert, will auch ich nicht zurückstehen. Über Herrn Sarrazins Buch allerdings möchte ich mich nur knapp auslassen; dazu ist alles Notwendige schon mehr als reichlich gesagt und geschrieben worden. Ja, Sarrazin greift ein zweifellos existierendes und lange (fast möchte man sagen gezielt) vernachlässigtes Problem auf. Auch von Herrn Sarrazin in seiner Eigenschaft als Berliner Finanzsenator vernachlässigt, sollte man hier ruhig hinzufügen. Aber er beschreibt das Problem nicht, er karikiert, überzeichnet es und baut ein völlig realitätsfernes Bedrohungsszenario auf. Er macht einige durchaus diskussionswürdige Vorschläge - absolut indiskutabel hingegen sind seine pseudowissenschaftlichen Argumente. Kurz gesagt - in wissenschaftlicher Hinsicht (soziologischer, politologischer) ist sein Machwerk das Gestümper eines Amateurs, in politischer Hinsicht ist es an Volksverhetzung grenzende Demagogie.

Für den Umgang mit solchen Elaboraten gibt es eigentlich nur eine angemessene Empfehlung: tiefer hängen. Daswegen auch bislang sowie fürderhin hier nichts weiter zu diesem Buch, es wäre zu viel der Ehre. Was mir hingegen eher der Betrachtung wert scheint, sind einige andere Aspekte der unappetitlichen Debatte um dieses Buch. Das beginnt schon damit, wie diese Debatte lanciert wurde.

Was zum Teufel reitet beispielsweise die Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), die sich durch die Veröffentlichung von Büchern durchaus seriöser Autoren (ganz unsortiert und beispielhaft: Theodor Heuss, Sebastian Haffner, Jean Gebser, Albert Einstein, Marcel Reich-Ranicki, Carlos Fuentes, José Ortega y Gassett) ein gewisses Renommée erworben hat, solch ein Werk zu veröffentlichen? Warum hat man Herrn Dr. Sarrazin keinen Lektor zur Seite gestellt, der dafür gesorgt hätte, dass wenigstens die allzu hanebüchenen Argumente noch einmal einem Realitätscheck unterworfen wurden? Dann wäre Herr Sarrazin nicht gezwungen gewesen, auf seine Frau als Lektorin zurückzugreifen, die als Grundschullehrerin wohl doch nicht die ausreichende Qualifikation und als Ehefrau nicht die notwendige Objektivität für solch eine Aufgabe mitbringt (meine Frau hält mich auch für einen großartigen Sänger ...). Vermutlich wäre dann von dem Buch jedoch nicht mehr viel übrig geblieben, das man hätte veröffentlichen können.

Man liegt sicher nicht ganz verkehrt wenn man den Grund in der (ja durchaus eingetroffenen) Aussicht vermutet, einen Bestseller zu landen und daran kräftig zu verdienen. Ein Beitrag zur Ausländerdebatte, zum öffentlichen Diskurs über Migranten und deren Integration in die deutsche Gesellschaft? Papperlapapp. So befruchtet und befördert man keinen öffentlichen Diskurs, so lässt man ihn abstürzen und hart auf Stammtischniveau aufschlagen. Da hat sich ein Verlag aus Profitgründen von seiner Reputation und von seiner Seriosität verabschiedet. Man kann auch sagen: sich prostituiert.

Was zum Teufel reitet beispielsweise den Spiegel, für dieses Machwerk kostenlos Reklame zu machen, indem er Passagen daraus vorab veröffentlicht? Ein Beitrag zur Ausländerdebatte? Ja sicher - aber was nutzen solche unqualifizierten Beiträge und wem nutzen sie? Jedenfalls der Auflage des Spiegel ... Falls man sich diese Frage tatsächlich ernsthaft gestellt haben sollte, hat man sich wohl auf die klassische Entschuldigung für derart moralisch Anrüchiges besonnen: wenn wir es nicht machen, dann ein Anderer. Der Focus zum Beispiel, horribile dictu. Und nachdem dann auch die Illustrierte Stern eine Ausgabe herausgebracht gebracht hat, die man sinnvollerweise am besten gleich als Sarrazin-Sonderausgabe deklariert hätte, kam es schließlich auch noch (was Spiegel-Kundige ohnehin vorausgesehen hatten) zum Hinterletzten - der notorische Pausenclown des Spiegel Henryk M. Broder durfte über dem Scherbenhaufen öffentlich seine Notdurft verrichten. Da ist man doch glatt versucht, Liebermann zu zitieren: "Ich kann gar nicht so viel fressen ..."

So viel zum 'tiefer hängen'. Damit lässt sich keine Auflage machen. Mediale Zurückhaltung und Besonnenheit schadet dem shareholder value. Diese Erkenntnis ist in der Medienlandschaft mittlerweile offenbar flächendeckend verbreitet und Maxime des Handelns. Offenbar müssen wir uns allmählich von der ohnehin fadenscheinig gewordenen Fiktion 'seriöser Verlage' und einer 'seriösen Presse' verabschieden. So viel zum ersten Aspekt der sog. 'Sarrazin-Debatte', der mir einen Kommentar wert schien.

Zum Zweiten: es ist auffällig, wie dankbar und eifrig Dr. Sarrazins marketinggerechte Provokation von weiten Teilen der politischen Klasse an- und aufgenommen wurde, welch anschwellender Bocksgesang da durch die Republik hallte. Einer, der hervorragend geeignet war, Anderes zu übertönen. Die skandalöse soziale Schieflage des Merkel'schen Sparpaketes. Das Milliardengeschenk an die Energiekonzerne, abgesichert durch Geheimverträge falls der Souverän es bei zukünftigen Wahlen dann vielleicht doch lieber anders hätte. Die 40 Milliarden an Bürgschaften, die nun nach angemessener Schamfrist der Hypo Real Estate noch mal hinterher geworfen werden. Dafür, dass die mittlerweile dem Staat gehörende HRE ihren Wertpapiermüll in einer 'Bad Bank' entsorgen (wirklich ein treffender Begriff - allerdings haben die Sorgen dann Andere) kann. Wie Phönix aus der Asche wird dann aus dem HRE-Desaster eine genesene Deutsche Pfandbriefbank hervorgehen sowie eine 'FMS Wertmanagement' (der Begriff 'Wert' ist jetzt hier nicht so *ganz* treffend). Die 'Werte', die dann da gemanagt werden, bestehen aus toxischen und anderen unerwünschten Papieren im rein fiktiven Wert von nominell 180-185 Milliarden. Mag jemand mit mir wetten, dass die Deutsche Pfandbriefbank, wenn sie die Gewinnschwelle überschritten hat, privatisiert wird während die 'FMS Wertmanagement' selbstredend im Besitz des Staates bleibt? Und worüber wird breit und laut öffentlich diskutiert? Über die wirren Thesen eines Bundesbank-Vorstands. Nicht zur HRE speziell oder zur sogenannten Banken- und Finanzkrise allgemein - das scheint ihn herzlich wenig zu interessieren - sondern zu einem Thema, von dem er offenbar nicht viel versteht. Und wenn sich das öffentliche Interesse an  diesem Thema (und am 'Jahrhundert-Prozess' Jörg Kachelmanns) erschöpft hat, wird man schon eine andere Sau finden, um sie mit Gejohle durchs Dorf zu hetzen während die Katze den Speck aus der Vorratskammer klaut.

Vorerst versucht man erst einmal noch, aus dem 'Fall Sarrazin' Lehren zu ziehen. Jetzt nicht in dem Sinne, wie man die Integration von Migranten verbessern könnte (was tatsächlich dringend notwendig wäre, da hat Sarrazin schon recht). Das wäre zum Nulltarif nicht zu haben  - also wird es außer schönen und mehr oder weniger klugen Worten nichts geben, bis das Interesse der Öffentlichkeit an dem Thema wieder abebbt. Nein - die Lehre, die man daraus zieht, ist die, dass sich in Deutschland über das Instrument xenophober Demagogie offenbar ein nennenswertes Wählerpotential für eine rechtspopulistische Partei rekrutieren ließe. Es fehlt eigentlich nur noch ein Frontmann vom Schlag eines Jörg Haider oder Jean Le Pen - Dr. Sarrazin oder Frau Steinbach mangelt es zu deutlich an Charisma. Deutschland sucht den Super-Haider. Bewerbungen bitte beim Spiegel abgeben.

Genug Dampf abgelassen ... Man sieht, ich teile mit Dr. Sarrazin den Unmut über bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Nur, dass die beiden sich allenfalls partiell überschneiden. Die Gründe für die  Erscheinungen, die uns beide stören, sind wohl tatsächlich angeboren, wenn auch nicht als unüberwindliches genetisches Erbe. Gier, Hass und Unwissenheit sind ein Erbe, das man ausschlagen kann. Vorausgesetzt, man ist bereit, zu lernen.

 Das Lernen - auch und gerade das Lernen aus der Geschichte - befreit uns von den Verstrickungen der Vergangenheit. So entfesselt kann sich die Kraft der Utopie entwickeln und entfalten.

Amen, Herr Pfarrer.




Richard Strauss, Morgen op. 27, 4
Text: John Henry Mackay

Und morgen wird die Sonne wieder scheinen,
und auf dem Wege, den ich gehen werde,
wird uns, die Glücklichen, sie wieder einen
inmitten dieser sonnenatmenden Erde...

Und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen,
werden wir still und langsam niedersteigen,
stumm werden wir uns in die Augen schauen,
und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen ...

Dienstag, 31. August 2010

Hilfe für Ladakh

Die erschreckenden Meldungen von den Überschwemmungen in Pakistan haben die Katastophe im benachbarten indischen Ladakh etwas aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verdrängt. Das hat sicher etwas mit der überwältigend großen Zahl der betroffenen Menschen in Pakistan zu tun, aber meines Erachtens nicht zuletzt auch etwas mit dem geopolitischen Interesse des Westens an Pakistan.

 Flutkatastrophen und das dadurch ausgelöste Elend kennen jedoch keine Grenzen. Am Freitag und heute erreichten mich zwei Emails einer Dharmaschwester -  zunächst aus Srinagar und dann heute aus Deutschland. Ich möchte Ihnen diese Nachrichten aus einer von den Medien und den großen Hilfsorganisationen weitgehend vergessenen Region hier zur Kenntnis geben - mit der Bitte um Hilfe.


Wie Ihr  wisst, haben wir alle in Ladakh eine sehr schwere Zeit durchgemacht. Wir haben die Angst, unter den aus den Bergen schießenden Schlammmassen  getötet zu werden, gemeinsam  aushalten müssen. Dann haben wir tagelang ohne Verbindung zur Außenwelt um das Wohl unserer Familien in Leh gebangt, geweint, gefürchtet. Unzählige Stunden habe ich am einzigen Telefon des Ortes, der fünf Tagesmärsche von der nächst erreichbaren Straße entfernt liegt, mit den  Frauen und Männern gehockt und auf Verbindung nach Leh gehofft und gebetet. Tausende Mantras sind über meine Lippen geflossen in der Hoffnung, meine Söhne in Leh mögen am Leben und wohl auf sein. Als dann endlich die erlösende Nachricht kam, dass Jonas und Mel gesund sind und in Leh dabei halfen, nach Vermissten zu  graben, hat das ganze Dorf meine Freudentränen geteilt und begleitet.

Dann begann ein fluchtartiger Rückweg . Mit drei Pferden und zwei wunderbaren jungen und mutigen Bauern aus Lingshed haben Ursel und ich uns durch die schlammspeienden Berge geschlagen. Die Flüsse waren durch den anhaltenden Regen so angeschwollen, dass wir nie wussten, ob wir sie heil überqueren konnten.

Am 20.8. erreichten wir das Kloster Lamayuru. Fünf fünftausender Pässe, unzählige Flussüberquerungen, Nächte im Regen voller Angst, großartige Fernblicke über die schneebedeckten Gipfel der Siebentausender, neun bis zehn Stunden zu Fuß und auf dem Rücken der Pferde täglich, lagen hinter uns. In Lamayuru warteten Jonas und Mel auf uns. Freude, Tränen, Erleichterung.  Nach über sieben Wochen eine heiße Dusche und ein richtiges Bett und etwas anderes zu essen,  als Reis und ein spinatähnliches Gemüse. Welch ein Luxus! Im Dukhang des Klosters verneigten wir uns tief vor den Buddhas.

Wir sind Zeugen einer Naturkatastrophe geworden. Wir haben erleben müssen, wie die Menschen die uns ans Herz gewachsen sind wie Geschwister, ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Wie sie auf der Flucht vor Wasser und Schlamm um ihr Leben rannten hinauf in die Berge und zusahen, wie ihre Häuser und ihr ganzer Besitz begraben wurden unter grauem Schlamm und rasenden Felsbrocken. Wir haben alles was wir noch hatten mit ihnen geteilt. Kleidung, Schuhe, Decken und und und. Wir haben unser Geld dagelassen, um die Not wenigstens ein wenig zu lindern. Wir haben getröstet und verzweifelt weinenden Freunden beigestanden.

Ich sitze am Flughafen von Srinagar in Kashmir während ich Euch diese Zeilen schreibe. Alle Flüge nach Leh/Ladakh sind gecancelt. Es regnet immer weiter und meine Augen füllen sich mit Tränen. In den nächsten Tagen schicke ich Euch ein paar Bilder dieser denkwürdigen Reise mit der dringenden Bitte auf ein Konto, welches ich in Deutschland einrichten werde, zu spenden. Ich selbst werde Sorge dafür tragen, das Euer Geld in die richtigen Hände gelangt.

Ich bin so dankbar, gesund, wenn auch mit Trauer im Herzen, zurück nach Hause zu kommen.
Ich grüße Euch von Herzen und freue mich, auf die Begegnungen mit Euch.
Anke

Einheimische und Touristen bilden Arbeitsketten
Liebe Freunde,
meine Söhne und ich sind wohlbehalten aus Ladakh zurückgekehrt. Wir sind dankbar, unversehrt von der schrecklichen Flut-Schlammkatastrophe wieder zu Hause angekommen zu sein. All die Eindrücke zu verarbeiten, wird sicher noch eine Weile dauern.

Wie in meiner mail aus Srinagar bereits angekündigt, schicke ich Euch/Ihnen hier die Spendenkontonummer zur Direkthilfe in Leh. Ich selbst werde Sorge dafür tragen, dass Euer/Ihr Geld in die richtigen Hände gelangt. Ich mache mir große Sorgen um meine Freunde vor Ort, zumal viele von ihnen im tibetischen Flüchtlingsdorf Choglamsar wohnen, was am Stärksten von den Schlamm-Fluten heimgesucht wurde. Nach neuesten Zahlen starben weit über 200 Menschen unter den Schlamm- und Trümmermassen, über 600 Personen werden noch immer vermisst. Die wunderbaren Menschen Ladakhs reagieren auf die Not mit ihrer zupackenden Einfachheit, aufopfernden Tatkraft und beeindruckenden Solidarität; ein Herzensthema aller mitfühlenden Menschen. Der lange und eisige ladakhische Winter naht und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie die Menschen ohne Häuser und angemessene Kleidung und Decken zurecht kommen sollen.

Schlammmassen am und im Kinderheim


Das wertvolle Holz wird von den Kindern des Heimes gesammelt

 Kurz zum Hergang:
Bedingt durch sintflutartige Regenfälle in der Nacht auf den 6. August, kam es in der nordindischen Himalaya-Region Ladakh zu Überflutungen und Schlammlawinen. In den tiefer gelegenen Regionen des Industals um die Hauptstadt Leh, wurden unzählige Häuser weggerissen und es gab Todesopfer und Verletzte. Viele Einwohner stehen vor dem Nichts. Auch das Krankenhaus von Leh wurde von der mit zerquetschen Autos und riesigen Steinbrocken gefüllten Schlamm-Lawine extrem in Mitleidenschaft gezogen. Fast alle Räumlichkeiten haben sich mit bis zu einem Meter hohem Schlamm gefüllt, ob OP-Räume oder Kinderstation, annähernd der gesamte Maschinenpark ist zerstört. Die überlebenden Patienten wurden in der Nacht notdürftig evakuiert.

Krankenhaus Leh
Das tibetische Flüchtlingsdorf Choglamsar ist am Stärksten betroffen. Dort werden noch immer die meisten Menschen vermisst. Über 100 Menschen starben allein hier in der Schlammwelle in der Nacht zum 6.August. Die Aufräum - und Bergearbeiten werden noch Monate , wenn nicht Jahre, andauern.

Das Wetter in Ladakh ist noch immer sehr unbeständig, die Menschen leben voller Angst in Zelten in den umliegenden Bergen und beten Nacht für Nacht, dass der Regen aufhört.



Wenn Ihr/Sie Interesse habt, für die betroffenen Menschen vor Ort zu spenden ( auch kleine Beträge sind herzlich willkommen ), so bitte ich Euch/Sie dies zu tun auf unserem Direkthilfe-Konto unter dem Namen:

Schweitzer „Ladakh-Hilfe“
Konto: 204968039
BLZ:   37069840
Volksbank Wipperfürth-Lindlar


(keine Spendenquittung möglich!)

Ich werde die Gelder an vertrauenswürdige Ladakh-Hilfegruppen in Leh weiterreichen und einen Teil der Spenden gezielt betroffenen Personen und Familien vor Ort in Form der Direkthilfe übergeben. Über die Verwendung der gesamten Spendengelder werde ich Euch/Sie ausführlich informieren. Ich danke Euch/Ihnen für Euer/Ihr Vertrauen.

Anke Schweitzer





Freitag, 13. August 2010

Tathatā, Tathāgata-garbha, Ālaya-vijñāna

Heute serviere ich mal als Vorspeise einen dicken Kloß. Schaun wir mal, ob das Maul groß genug ist und es auch mit dem Kauen und Schlucken klappt. Folgendes Zitat stammt aus  'The Philosophy of Buddhism: A "Totalistic" Synthesis' von Alfonso Verdù, The Hague, M. Nijhoff 1981, ISBN 9024722241. Ich habe es aus dem Englischen übersetzt - ob es dadurch allerdings wesentlich verständlicher wurde, will ich mal offen lassen.

Wang Cheng, *1965, Berichte aus dem Irrenhaus, 1995
DIE "TOTALITÄT" DER SUBSTANZ

Auf Tathatâ (Soheit) hat man sich bezogen als die "Essenz aller Phasen und Aspekte des Seins in ihrer Totalität". Das chinesische t'i (Körper) ist hier als der ursprüngliche "Körper des Seins" zu übersetzen, auf das universelle Substrat hindeutend, das allen "Aspekten von Verkörperung in ihrer Totalität" zugrunde liegt. Später wird im Text das Wort tzu-t'ti (Jap: jitai) verwendet in der Bedeutung des reinen Potentials zu handeln, die der "verborgenen" Essenz alles Seins innewohnt. In diesem Sinne wird t'i hier als die Substanz übersetzt, namentlich als der "verborgene" Aspekt einer sich beständig selbstenthüllenden und selbstverkörpernden Tathatâ. Diese Substanz bedeutet Tathatâ, d.h. die Essenz in ihrem Aspekt uranfänglicher "Nicht-Manifestation": Substanz ist die nicht-manifeste Essenz. An sich jedoch ist das Unmanifestierte da, um sich zu manifestieren, was heisst, dass es die Essenz des Unmanifestierten ist, sich zu manifestieren. Die Wahrheit dieser Aussage impliziert daher die inhärente und und essentielle Bestimmung von Tathatâ, auf Manifestation hin zu agieren. In Anbetracht dieser Bestimmung zu agieren kann man sich die Substanz als drei komplementäre Aspekte umfassend vorstellen: (I) die Substanz "an sich"; (II) die Substanz "als Agens"; (III) die Substanz "als Patiens".

I. DIE SUBSTANZ "AN SICH": BHÛTA-TATHATÂ

Die Substanz "an sich" bedeutet die "reine" Essenz von Tathatâ in ihrer bloßen, unbestimmten und leeren Einheit. Sie bezeichnet den Aspekt eigentlicher Unveränderlichkeit (pu-pien; Jap; fuhen) der letzgültigen Realität als absolute Unzerstörbarkeit. Sie ist Ausdruck der tiefsten Ruhe und der Unbeweglichkeit des ersten unbewegten Bewegers, dessen Bewegung es ist, sich selbst zu bewegen ohne sich selbst in seiner immerwährenden Unveränderlichkeit "fortzubewegen"; denn es ist seine unendliche Kapazität, sich selbst zu bewegen, die sich "in sich selbst" nicht ändert und nie endet, und in dieser Hinsicht ewig ein und dasselbe ist.

II. DIE SUBSTANZ "ALS AGENS": TATHÂGATA-GARBHA

Als essentielle Kapazität zu agieren ist die Substanz "an sich" zu verstehen im Sinne von Potential, das "Veränderliche" als das Andere des "Unveränderlichen" zu setzen, das "Bestimmte" als das Andere des "Unbestimmten", das "Viele" als das Andere des Einen. So ist Tathatâ das Potential zu "Aktivierung", die Entfremdung und Anders-Sein von sich selbst setzt. Diese "Aktivierung" repräsentiert daher den Yang-Aspekt der Essenz oder die "Essenz als Agens". Die "Essenz als Agens", in ihrer begriflichen Bedeutung, setzt die Pluralität potentieller Bestimmungen voraus als entgegen gesetzt zur unbestimmten Einheit, die die Essenz in sich selbst ist. Dieser Aspekt der "Essenz als Agens" wird Tathâgata-garbha genannt, oder "der Schoß der Emfängnis aller möglichen Wesen die als solche So-Gekommen sind". Tathâgata-garbha ist hier in seinem universellen Aspekt gemeint, so wie dieser Ausdruck oft vom Lankâvatâra-sûtra und von der "Vertrauenserweckung" gebraucht wird. Tathâgata-garbha beinhaltet den dynamischen Aspekt von Tathatâ "für sich", während die "bloße Einheit und Unbestimmtheit" das potentiell "Andere" ist. Somit als "Agens", setzt Tathâgata-garbha sich selbst als die Substanz "des Anderen".

III. DIE SUBSTANZ ALS "OBJEKT DES EINWIRKENS": ÂLAYA-VIJNÂNA (CHIN.: A-Ll-YEH SHIH)

Tathatâ ist Kapazität zu wirken. Jedoch hat diese Kapazität zu wirken nichts, auf das sie wirken kann außer Tathatâ selbst. Insofern Tathatâ Kapazität zu wirken ist, ist sie auch Kapazität, die primären Effekte seines eigenen Wirkens zu empfangen. Daher ist Tathatâ als Agens auch das Patiens; d.h. sie ist der einzige Empfänger und Träger des "Anderen seiner Einheit", das die Mannigfaltigkeit seiner eigenen Wirkungen ist. Tathatâ, als "Empfänger" der allerersten Wirkungen des Wirkens, das sie selbst setzt, betrachtet, wird Âlaya-vijnâna genannt. Als solches setzt es sich selbst in Gang als Reservoir und Depot der primären Wirkungen universeller Verursachung, was traditionell das "Eindringen der Samen der Mannigfaltigkeit" genannt wird. Als Rezipient dieses Eindringens verdrängt und hebt die eine Substanz das "Anders-Sein" des möglichen Vielen auf, denn das Viele kann Tathatâ nur immanent und mit ihm identisch sein insofern es nicht nur das "wirkende" Prinzip (Tathâgatha-garbha) ist sondern auch und untrennbar davon das "Objekt des Einwirkens" (Âlaya-vijnâna). Schließlich: Tathatâ als "Objekt des Einwirkens" und als Empfänger all der "Samen der Mannigfaltigkeit" setzt die "Reflexivität" von Tathatâ als "Substanz für sich". Daher bezeichnet Âlaya-vijnâna das "Auf-Sich-Selbst-Zurückkommen" von Tathatâ in ihrer Kapazität zu wirken, wie sie es aus ihrer Gleichheit und Einheit in das "Andere" tut und dabei die Differenz dieses "Anderen" innerhalb der "Identität" ihrer Gleichheit wieder aufhebt.

Der Ausdruck âlaya-vijnâna, insofern er zusammengesetzt mit dem Nomen âlaya (Speicher, Lagerhaus) ist, kennzeichnet offensichtlich seinen passiven Charakter als Empfänger des "Eindringens" und "Bewahrer" der universellen "Samen". Insofern er mit dem Nomen vijnâna
(Erkenntnisvermögen, Bewusstsein) zusammengesetzt ist, enthüllt er direkt das ideo- oder psychogenetische Konzept von Realität, das die Wurzel des Totalismus bildet, wie er von der "Vertrauenserweckung" und von der Hua-Yen-Schule vertreten wird. Dinge sind keine Substanzen, sondern strukturierte Gewebe von Ereignissen. Der ganze Prozess von Selbst-Bestimmung und Selbst-Verkörperung, der Tathatâ inhärent ist, ist transzendental ganz und gar ein "bewusstseinserzeugender" Prozess, wo alle Phasen und Aspekte raum-zeitlichen Seins begründet werden durch die Gefühls-, Sinnes- und Gedankenentfaltung sowohl von individuellem wie universellem Geistes-Handeln; sei es in seinen Aspekten "begrenzten Wissens" (Aspekt der Nicht-Erleuchtung") oder in seinen Aspekten "unbegrenzten Wissens" (Aspekt der Erleuchtung). So wird, während wir uns vorbereiten, die "Totalität" der Funktion von Tathatâ, wie sie sich selbst bestimmt, zu erläutern, der umfassende, universell "noetische" (kognitiv-volitive) Charakter dieser Funktion herausgestellt. Es ist in diesem Sinne, wenn es in der "Vertrauenserweckung" heisst:

"Der Geist, in seinem Aspekt der Verursachung, gründet im tathâgatagarbha. Was âlayavijnâna genannt wird, ist jenes (Prinzip), in dem die Abwesenheit von "Geburt und Tod" (Unbegrenztheit) harmonisch mit "Geburt und Tod" (Begrenztheit) koexistiert ... Der âlayavijnâna hat zwei Aspekte (von Potenzialen), die alle Phasen und Zustände von Sein beinhalten und hervorbringen, namentlich: (I) den Aspekt der Erleuchtung und (II) den Aspekt der Nicht-Erleuchtung."
Dies bedeutet, dass Tathatâ als "Speicher des Bewusstseins" all die "Samen" (bîja) des multiplen, sich ewig entwickelnden Prozesses empfängt und enthält, durch die Tathatâ sich selbst zu einem Zustand "begrenzten Wissens" (Chin: pu-chüeh; Jap: fukaku) bestimmt, der in Konsequenz ebenfalls ein Zustand des Nichtwissens ist. Jedoch enthält sie gleichermaßen ein inhärentes "Potential der Erleuchtung" wodurch sich dieser Zustand "begrenzten Wissens" (was Individualisierung und Partikularisierung als subjektive und objektive Bestimmungen impliziert) in der Lage ist, sich zum "Zustand des (uneingeschränkten) Wissens" (Chin: chüeh; Jap: kau) zu entwickeln, wodurch die Bestimmungen, die durch "begrenztes Wissen" gesetzt wurden, wieder zur ursprünglichen Unendlichkeit (von wo der gesamte Prozess ausging) aufgehoben werden.

Insofern vom âlaya-vijnâna gesagt wird, es "speichere" diese beiden Aspekte von Potentialität, namentlich (1) pu-chüeh (Jap: fukaku) = Nicht-Wissen (oder begrenztes Wissen, Nicht-Erleuchtung) und (2) chüeh (Jap: kaku) = Zustand uneingeschränkten Wissens (oder der Erleuchtung), ist der aktive Prozess, durch den Tathatâ sich selbst in absoluter Freiheit bestimmt, formell mitbezeichnet und dadurch wird diese Funktion explizit. Somit setzt der Begriff des âlaya-vijnâna mittels "Komplementarität" den Begriff der Funktion an sich voraus.

Genau so ist es.

Auch wenn sich der Witz nicht auf Anhieb erschließt - das Zitat entbehrt durchaus nicht der Komik. Komik hat zumeist etwas mit Inkongruenzen zu tun - wenn sich beispielsweise tatsächliche Umstände und deren Wahrnehmung oder Interpretation nicht decken. Und die Inkongruenz zwischen stillem Sitzen, zwischen heiter-gelassenem Widerspiegeln ohne Er- und Begreifen des Widergespiegelten durch Begriffe einerseits und solcher Begriffsakrobatik auf hoher Abstraktionsebene andererseits ist schon sehr erheblich. Nicht zuletzt zeigt auch die 'Uneigentlichkeit' der verwendeten Begriffe (die inflationäre Verwendung von Anführungszeichen ist da ein deutliches Merkmal) die Fleisch- und Blutlosigkeit solch theoretischen 'Begreifens' in Kontrast zur ganz und gar konkreten Präsenz im Sitzen, im Zazen.

Darüber hinaus beschlich mich beim Übersetzen das eigenartige Gefühl, als würde da jemand meine eigenen Gedankengänge, den "Theoriensport", dem ich mich gelegentlich hingebe, parodieren ... Insofern sind Sie als Leser herzlich eingeladen, sich mit mir über mich und den zitierten Text zu amüsieren. Insbesondere, wenn sie der Argumentation nicht folgen mögen oder können - betrachten Sie den Text ruhig als letzlich sinnfreie Persiflage.

Natürlich kann man den Sachverhalt auch anders ausdrücken.

Ein Mönch fragte. "Was ist die Essenz von Buddhas Lehre?"
Der Meister stieß einen Schrei aus.
Der Mönch verbeugte sich tief.
Der Meister sprach: "Dieser hervorragende Mönch ist von der Sorte, zu der es sich  zu sprechen lohnt."

Nun ist Rinzais Auskunft (um eben jenen Meister handelt es sich; die Szene finden wir am Beginn des Rinzai Roku) zwar weniger geschwätzig als die von Alfonso Verdú, aber deswegen nicht richtiger. Oder weniger falsch. Es ist lediglich eine andere Form, in der der  Essenz von Buddhas Lehre Ausdruck gegeben wird.

Es kann für den Aspekt "unbegrenzten Wissens" (um damit eine Formulierung Verdús aufzugreifen) keinen adäquaten begrenzten Ausdruck geben - und begrenzt ist der Schrei Rinzais ebenso wie die philosophische Vorlesung. Rinzai wäre kein Meister gewesen, hätte er selbst dies nicht genau gewusst. Sagt er doch kurz vor der Frage des Mönchs:

"Wenn ich die Grosse Angelegenheit der Lehre Buddhas vom Standpunkt eines Angehörigen der Schule der Zen-Patriarchen erörtern sollte, dann könnte ich nicht einmal meinen Mund öffnen und ihr wüsstet nicht, wo ihr eure Füße hinstellen sollt."
Ist Schweigen der "unbegrenzte Ausdruck" "unbegrenzten Wissens"? Wohl kaum - denn auch Schweigen ist begrenzt durch das Nicht-Schweigen. Es hat jedoch den Vorteil, "unbegrenztes Wissen"  sich selbst ausdrücken zu lassen und eben diesen Ausdruck nicht übertönen zu wollen. Schweigen gibt uns Gelegenheit, den Klang dieses Ausdrucks wahrzunehmen, uns von ihm durchfließen zu lassen und in ihm mitzuschwingen. Und dann können wir auch den Versuch wagen, unser Nicht-Schweigen zu einem harmonischen Teil dieses Klanges werden zu lassen. Und ob da nun Rinzais Schrei harmonischer tönt oder Alfonso Verdús philosophische Erörterung - allein hier zu unterscheiden, geht schon an der Sache vorbei.






Vom Wenden des Sutra

Angeregt zur Beschäftigung mit Verdú hat mich die zu Beginn dieses Monats auf Guido Kellers Assoblog in vier Teilen veröffentlichte Einführung Dr. Tony Pages in das Mahaparinirvana-Sutra. Die dort dargestellte Auffassung speziell von Tathāgata-garbha weicht erheblich von der Auffassung, wie sie Verdú vor allem anhand des Mahayana Shraddotpada Shastra (der Ashvagosha zugeschriebenen "Vertrauenserweckung") entwickelt, ab. Nun wollen wir ja die Frage nach der 'Harmonie' unterschiedlicher Aussagen vermeiden - aber die Frage, ob der Grund dieses Unterschieds nun bei Dr. Page oder beim Mahaparinirvana-Sutra liegt, darf man sicher stellen. Wobei die Antwort wohl lauten muss: sowohl als auch ...

Das Mahaparinirvana-Sutra ist ein durchaus komplexer und in seinen Aussagen nicht einheitlicher, ja gelegentlich widersprüchllicher Text. Die berühmteste Kontroverse um dieses Sutra entzündete sich freilich nicht an der Frage eines 'Tathāgata-garbha-Buddhismus' - mag es nun einen solchen historisch tatsächlich gegeben haben oder nicht - sondern am Konzept der Icchantika. Wesen, die 'agotra' sind (wörtl. 'Nicht-Familie', also Ausgeschlossene). D.h. Wesen, die nicht in der Lage sind, Erwachen zu verwirklichen. Oder, wie es im Mahaparinirvana Sutra heisst:
"Was ist ein Icchantika? Ein Icchantika schneidet [in sich selbst] alle Wurzeln guter Taten ab und sein Geist ruft keinerlei Assoziationen mit dem Guten hervor. Nicht einmal der kleinste Gedanke an Gutes steigt auf."
 Eine Kontroverse, die insbesondere wegen der ethischen Konsequenzen (vor allem in Hinsicht auf die Frage, ob das Töten von Icchantika karmisch neutral ist) von wegweisender Bedeutung für die Entwicklung des Buddhadharma in Fernost war und mit dem Namen  Chu Tao-shen verbunden ist. Ich möchte hier auf diesen Aspekt nicht näher eingehen - er soll nur verdeutlichen, dass dieses Sutra sehr unterschiedlich gelesen werden kann - womöglich, weil die Urheberschaft bei mindestens zwei verschiedenen Buddhas zu suchen ist, die nicht in allem einer Meinung waren ...

Solche Überlegungen führen uns zu einer Frage von grundsätzlichem Interesse. Nämlich zu der, wie wir mit tatsächlichen oder vermeintlichen Widersprüchen in den Sutren (oder in unterschiedlichen Interpretationen der Sutren) umgehen. Die Frage stellt sich noch deutlicher, wenn wir sie nicht nur an ein einzelnes Sutra  wie das Mahaparinirvana-Sutra stellen, sondern an den Korpus der schriftlichen Überlieferung insgesamt.

Das Problem verdeutlicht sich, wenn wir es im Lichte der frühen Phase der europäischen Auseinandersetzung mit dem Buddhadharma betrachten - eine Auseinandersetzung, die nahezu ausschließlich über  die Rezeption buddhistischer Texte erfolgte. Bereits recht früh (Minayeff 1894) bemerkte man inhaltliche Inkonsistenzen im Palikanon, die man auf  ältere und jüngere Überlieferungsschichten zurückführte. Da lag dann das Projekt nahe, eine Stratigrafie (zeitliche Abfolge) dieser Überlieferungsschichten zu erstellen und so einen 'Urbuddhismus' zu rekonstruieren. Ein auch für westliche buddhistische Laien interessanter Ansatz, liegt es doch nahe, einen solchen Urbuddhismus mit 'wahrem Buddhismus' zu identifizieren und von 'falschem Buddhismus' (degeneriertem, verfälschten, entarteten ...) abzugrenzen.

Das letzlich nicht befriedigend lösbare Problem dabei ist - nach welchen Kriterien erstellt man diese Stratigrafie? Insbesondere bei den populär gewordenen Rekonstruktionsversuchen eines 'ursprünglichen Buddhismus', wie er von Gautama Shakyamuni selbst gelehrt worden sein sollte, war das Kriterium ein postuliertes Modell - Texte, die sich widerspruchslos in dieses Modell einfügten, galten als (zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit) original, andere als spätere, verfälschende Zutaten. Vereinfacht gesagt: man pickt sich heraus, was einem passt - alles Andere wird aussortiert. Natürlich erhält man, je nachdem welches 'Modell' man benutzt, auch unterschiedliche 'Urbuddhismen'. Wissenschaftlich ist ein solcher Ansatz natürlich nicht; er wurde auch von der Indologie recht bald aufgegeben, wofür Namen wie Stcherbatsky und Rosenberg stehen. Was freilich nichts daran änderte, dass sich solche 'Urbuddhismen' als recht zählebig erwiesen. Natürlich ist gegen sie nichts einzuwenden - lediglich gegen einen fundamentalistischen Anspruch, den einzig wahren und echten Buddhismus zu verbreiten.

Dieser etwas umständlich-weitschweifige Ausflug in die Geschichte westlicher Buddhismusrezeption soll eigentlich nur eines illustrieren: Im Wesentlichen lesen wir - wir alle - aus den Sutren nur das heraus, was wir selbst in sie hineinlegen. Gerade hier liegt der Grund für die Skepsis des Zen gegenüber der schriftlichen Überlieferung. Wobei diese Skepsis sich nicht gegen die Sutren richtet - sie richtet sich gegen das Sich-Stützen auf die Sutren. Die Sutren sind keine Stütze, sie sind ein Spiegel. Das, was wir in sie hineinlegen, das ist bedingt durch unsere Praxis des Edlen Achtfachen Pfades und verändert sich, entwickelt sich weiter durch eben diese Praxis. Damit verändert  und entwickelt sich auch das, was wir aus ihnen herauslesen. Und das, was wir herauslesen, ist immer ein kleines bißchen mehr als das, was wir hineingelegt haben. Jedenfalls, so lange wir unseren Weg gehen und nicht auf ihm stehenbleiben.

Erst wendest du  das Sutra, dann wendet das Sutra dich. Dann wendest du das Sutra ...

Das Wandern des Geistes
ist Gewendet-Werden durch die Blume des Dharma
Das Erwachen des Geistes
ist sein Wenden der Blume des Dharma
Wenn das, was wir verwirklichen, voll und ganz so ist
Dann ist es die Blume des Dharma,
die das Blühen des Dharma in Gang setzt
(Dogen, Shobogenzo Hokke Ten Hokke)